Stolpersteine Meiningenallee 7

Hauseingang Meiningenallee 7

Der Stolperstein für Auguste Weissler wurde auf Initiative von Anna-Maria Hesse von der Hausgemeinschaft der Meiningenallee 7 gespendet und am 5.3.2013 verlegt.

Die Stolpersteine für Friedrich Weissler und Rosalie Sonja Saya Okun wurden am 15.10.2013 verlegt.

Stolperstein Auguste Weissler

Stolperstein Auguste Weissler, Foto: C. Timper, 2013

HIER WOHNTE
AUGUSTE WEISSLER
GEB. HEYN
JG. 1860
DEPORTIERT 16.6.1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 20.11.1943

Auguste Weißler ist am 8. Februar 1860 in Kempen, Provinz Posen (Poznan) als Auguste Heyn geboren. Sie lebte zuerst in Königshütte (Schlesien), später, nach ihrer Heirat am 23. September 1883 mit Adolf Weißler, in Halle/Saale, wo ihre drei Söhne Otto, geboren am 15. Oktober 1884, Ernst, geboren am 28. Mai 1887, und Friedrich, geboren am 28. April 1891 in Königshütte, studierten. Adolf Weißler lehnte das Judentum aus Überzeugung ab und ließ die drei Kinder, zum Entsetzen seiner jüdischen Frau Auguste, christlich taufen.

In Halle traf die Familie und damit besonders Auguste Weißler der erste Schicksalsschlag: Ihr Mann Adolf, ein bedeutender Notar, der ein kaisertreuer Nationalist war, nahm sich wegen der von ihm als Schmach empfundenen Verträge von Versailles das Leben.

Auguste Weißler zog 1933 mit der Familie ihres jüngsten Sohnes Friedrich nach Magdeburg, wo dieser Landgerichtsdirektor war. Bald wurde die jüdische Herkunft für Auguste und ihre Kinder zum Verhängnis. Friedrich wurde am 21. Juli 1933 als “Nichtarier” und politisch “Unzuverlässiger” vom Staatsdienst ausgeschlossen. In Berlin fand er bei der Bekennenden Kirche eine Anstellung als juristischer Mitarbeiter. So zog die Familie Weißler – Auguste, Friedrich, dessen Frau Johanna und deren Kinder Ulrich und Johannes – 1933 nach Neu-Westend in die Meiningenallee 7.

Dort trafen sie die nächsten Schicksalsschläge: 1935 starb ihr Sohn Otto an einer in den Dokumenten nicht spezifizierten Krankheit, 1936 wurde Friedrich von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) wegen seiner Mitarbeit an einer Denkschrift der Evangelischen Kirche zur Verletzung moralisch-ethischer Werte durch das Naziregime verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert, wo er am 19. Februar 1937 nach Folterungen starb.

Augustes Enkel Johannes Weißler hat in seinem Buch “Die Weißlers. Ein deutsches Familienschicksal“ beschrieben, wie seine Großmutter von nun an still und zurückgezogen in ihrem Zimmer in der Meiningenallee 7 lebte. Zu ihrem Sohn Ernst hatte sie, wie zu anderen Verwandten, solange sie noch nicht geflüchtet waren, nur telefonischen Kontakt. Ernst musste 1939 nach China auswandern. Und ihr Enkelsohn Ulrich musste, als “jüdischer Mischling” eingestuft, 14jährig seine Schulbildung in England fortsetzen. Die Ausreise nach England organisierte das Büro des Pastors Heinrich Grüber von der Bekennenden Kirche, das die Emigration von mehr als tausend überwiegend konvertierten Juden aus Berlin schaffte. So wurde Auguste immer einsamer.

Nach dem „Erlass zum Tragen des Judensterns” 1941, der sichtbar an Mantel oder Kleidungsstück anzubringen war, verließ sie die Wohnung nicht mehr. Zu Beginn des Luftkrieges verboten die Nazis den Juden generell das Betreten der Luftschutzkeller; ein Verbot, das der Luftschutzwart der Meiningenallee 7 im Einverständnis mit den anderen Mietern mutig ignorierte.

Auguste Weißler wurde am 3. Juni 1943 von der Gestapo abgeholt. In unfassbarer Akribie stellte ein Gerichtsvollzieher ihre Vermögensverhältnisse fest. Mit kleinstem Gepäck musste sie sich im Sammellager Große Hamburger Straße 26 registrieren lassen, wo sie gezwungen wurde, schriftlich die “freiwillige” Überweisung ihres Barvermögens auf ein “Effektensonderdepot” zu bestätigen. Von diesem Betrag wurden noch 200 RM für “Pflege- und Transportkosten nach Theresienstadt” abgezogen.

83jährig überstand Auguste Weißler die Deportation am 16. Juni 1943 mit einem Zug der Reichsbahn ins Ghetto Theresienstadt. Aber am 20. November hielt sie die Qualen nicht mehr aus und starb an körperlicher Schwäche. Die Familie erfuhr von ihrem Tod durch eine handgeschriebene Postkarte aus Theresienstadt, die ein Verwandter, der dort interniert war, verschicken konnte.

Friedrich Weißler ist in Stahnsdorf bei Berlin beerdigt. Der frühere OdF-Platz in Stahnsdorf wurde am 5. März 1992 zur Erinnerung an den kirchlichen Widerstandskämpfer in Friedrich-Weißler-Platz umbenannt. In Magdeburg ist seit 2005 der Dr.-Weißler-Weg nach ihm benannt, und 2006 wurde für den Juristen eine Gedenktafel am Landgericht enthüllt.

Zusammenstellung: Anna-Maria Hesse
Quellen: Johannes Weißler: Die Weißlers. Ein deutsches Familienschicksal. OASE Verlag Badenweiler 2011; Juden in Charlottenburg. Ein Gedenkbuch (Hrsg. Verein zur Förderung des Gedenkbuches für die Charlottenburger Juden), text verlag Berlin 2009; Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam

Stolperstein Friedrich Weissler

HIER WOHNTE
FRIEDRICH WEISSLER
JG.1891
VERHAFTET 13.2.1937
SACHSENHAUSEN
ERMORDET 19.2.1937

Der Jurist und rechtswissenschaftliche Schriftsteller Friedrich Weißler wurde am 28. April 1891 in Königshütte/Chorzów in Oberschlesien geboren. Er war der jüngste Sohn des Rechtsanwalts und Notars Adolf Weißler und seiner Ehefrau Auguste Weißler, geborene Hayn, und wuchs ab 1893 in Halle (Saale) auf. Er und seine beiden Brüder Otto, geboren am 15. Oktober 1884, und Ernst, geboren am 28. Mai 1887, wurden evangelisch getauft und christlich erzogen. Zur jüdischen Tradition seiner Vorfahren verspürte Friedrich Weißler kaum eine Verbindung und entwickelte bis zu seinem Lebensende eine tiefe christliche Frömmigkeit.
Friedrich Weißler heiratete 1922 die Pfarrerstochter Johanna Schäfer. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor: Ulrich, geboren am 22. März 1925, und Johannes, geboren am 26. August 1928.

Nachdem Friedrich Weißler das städtische Gymnasium seiner Heimatstadt besucht und 1909 die Reifeprüfung abgelegt hatte, studierte er in Halle und Bonn Rechtswissenschaften. Die Erste juristische Staatsprüfung schloss er überdurchschnittlich mit der Note „gut“ ab. Er wurde 1914 mit magna cum laude mit der Dissertation „Die Behandlung entfernter Möglichkeiten im Privatrecht. Ein Beitrag zur Lehre vom Vertrauensschutz“ promoviert.

Der Erste Weltkrieg und die Ereignisse der Novemberrevolution hinterließen im Leben Friedrich Weißlers tiefe Einschnitte. Mit dem Kriegseintritt des Deutschen Reiches unterbrach er den gerade begonnenen juristischen Vorbereitungsdienst und meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst. Die Entlassung erfolgte im Januar 1919 als Leutnant der Reserve. Als im März 1919 in Mitteldeutschland revolutionäre Unruhen aufflammten, meldete sich Friedrich Weißler als Mitglied eines Freikorps. Er war jedoch wahrscheinlich nicht an Kampfhandlungen beteiligt. Im Sommer 1919 nahm sich der Vater Adolf Weißler, zu welchem Friedrich Weißler seit jeher ein inniges Verhältnis pflegte, das Leben. Als Grund hierfür gab der kaisertreue Nationalist Adolf Weißler an, dass er „die Schmach unseres Volkes“, die mit den Friedensbedingungen des Vertrags von Versailles einhergingen, nicht ertragen könne. Persönlich tief erschüttert verließ Friedrich Weißler mit seiner Mutter Auguste Weißler Halle und zog bis zur Beendigung des juristischen Vorbereitungsdienstes nach Berlin.

Nach der Großen Staatsprüfung, die ebenfalls mit der überdurchschnittlichen Note „gut“ bewertet wurde, schlug er 1920 die Laufbahn als Richter ein. Er arbeitete unter anderem am Amts- und Landgericht Halle, am Amtsgericht Merseburg und am Oberlandesgericht Naumburg. Er beteiligte sich an der Entwicklung junger Bestandteile der ordentlichen Gerichtsbarkeit und wurde im Jahr 1927 auf eigenen Wunsch Jugendrichter. Drei Jahre später wirkte er außerdem als stellvertretender Vorsitzender am Arbeitsgericht Halle. Friedrich Weißler übernahm Lehrtätigkeiten in der Ausbildung von Rechtsreferendaren und von Auszubildenden juristischer Berufe.
Seine schriftstellerische Tätigkeit begann Friedrich Weißler mit dem Erbe seines Vaters Adolf Weißler: Er setzte dessen Bearbeitung der Gesetzessammlung „Preußisches Archiv“ und des „Formularbuchs für freiwillige Gerichtsbarkeit“ fort.
Mit Artikeln in juristischen Fachbüchern und Fachzeitschriften und eigenen Monografien erarbeitete sich Friedrich Weißler innerhalb weniger Jahre den Ruf eines Experten auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Rechtswissenschaftliche Fragestellungen, die sich aus aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen ergaben, waren dabei besonders reizvoll. Er widmete sich beispielsweise der Hypothekenaufwertung und damit speziellen Rechtsfragen, die sich durch die Hyperinflation der beginnenden 1920er Jahre für das Grundbuchrecht ergaben. Er bearbeitete Fragen des Beurkundungs- und Notariatswesen oder des Familienrechts und zeigte sich dabei als streitbarer Rechtswissenschaftler. Als herausragende Leistung zu erwähnen ist ein viel beachteter juristischer Kommentar zur Grundbuchordnung, den Friedrich Weißler gemeinsam mit seinem Cousin Viktor Hoeniger in zwei Auflagen verfasste.

Höhepunkt und gleichzeitiges Ende der beruflichen Karriere Friedrich Weißlers war die Beförderung zum Landgerichtsdirektor in Magdeburg 1932. Die Machtergreifung und die damit sogleich verbundene Willkür der Nationalsozialisten führte innerhalb weniger Wochen zur Entlassung aus dem Justizdienst. Vorangegangen war eine Berufungsverhandlung unter der Leitung Friedrich Weißlers gegen einen 19-jährigen Verwaltungsgehilfen und SA-Mann. Zur Verhandlung erschien der Angeklagte unerlaubterweise in SA-Uniform. Er trat provozierend und despektierlich auf. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erlegte Friedrich Weißler dem Angeklagten ein Ordnungsgeld auf. Die nationalsozialistische Presse nahm die Berufungsverhandlung zum Anlass, Friedrich Weißler zu diffamieren und damit die Magdeburger nationalsozialistische Öffentlichkeit gegen ihn aufzuwiegeln.
Als es im März 1933 zu gewalttätigen nationalsozialistischen Ausschreitungen in Magdeburg kam, entlud sich der Hass und Terror auch gegen Friedrich Weißler. Truppen der SA, SS und des Stahlhelms drangen in das Gebäude des Landgerichts ein. Friedrich Weißler wurde aus seinem Büro gezerrt und gezwungen, an der inszenierten Fahnenhissung teilzunehmen. Kurze Zeit später erfolgte seine Suspendierung vom Justizdienst. Die endgültige Entlassung ist im Wesentlichen mit der jüdischen Herkunft Friedrich Weißlers zu begründen. Im Sommer 1933 erhielt er die durch den damaligen Staatssekretär des preußischen Justizministers Dr. Roland Freisler unterschriebene Entlassungsurkunde.
Unter den geschilderten Bedingungen war es Friedrich Weißler und seinen Familienmitgliedern nicht möglich, in Magdeburg zu bleiben. Sie entschlossen sich, in der Anonymität der Großstadt Berlin Frieden vor nationalsozialistischen Anfeindungen zu suchen und zogen hier in die Meiningenallee 7.

Friedrich Weißler bekam nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst die Chance, für die Bekennende Kirche im Kirchenkampf gegen die Vereinnahmung der evangelischen Kirchen durch den nationalsozialistischen Staat zu wirken und entfaltete als Mitarbeiter und Kanzleichef der Vorläufigen Kirchenleitung erneut juristische Schaffenskraft. Er beschäftigte sich mit dem Kirchenrecht und nahm vor dem Hintergrund einer sich nach außen selbst behauptenden und innerlich zerstrittenen evangelischen Kirche eine radikale widerständige Position ein.
Das christliche Bekenntnis, das im Mittelpunkt des Handelns der Kirche und ihrer Mitglieder stand, wurde für ihn zur rechtlichen Grundlage des Kirchenkampfes. Auf dieser Basis beteiligte er sich an der Ausarbeitung der Denkschrift der Vorläufigen Kirchenleitung an Adolf Hitler und unterhielt einen inoffiziellen Pressedienst. Die Denkschrift ist als eine der mutigsten und deutlichsten Äußerungen der Bekennenden Kirche gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime von herausragender Bedeutung. Zum ersten Mal während des Kirchenkampfes bezog die Bekennende Kirche damit Stellung gegen die Rechtsverletzungen durch die Nationalsozialisten. Im Jahr 1936 wurde Friedrich Weißler bezichtigt, der Auslandspresse ein Manuskript der Denkschrift zur Veröffentlichung übergeben zu haben.

Friedrich Weißler wurde im Oktober 1936 verhaftet und im Gefängnis am Alexanderplatz festgehalten. Selbst nach umfänglichen Ermittlungen konnte nicht nachgewiesen werden, ob und wie er an der Veröffentlichung der Denkschrift beteiligt war. Dennoch wurde er am 11. Februar 1937 in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht und am Morgen des 19. Februar 1937 mit allen Zeichen schwerer Misshandlungen tot in seiner Zelle aufgefunden.

Friedrich Weißler hinterließ eine Familie, deren Zukunft im nationalsozialistischen Deutschland ungewiss und voller Sorgen war: Sein Sohn Ulrich verließ 1939 Deutschland, vermittelt durch das Büro des Pastors Heinrich Grüber. Er lebte und arbeitete als Lehrer in England, Kenia und Malawi und erwarb die britische Staatsbürgerschaft.
Friedrich Weißlers Ehefrau Johanna, seine Mutter Auguste und sein jüngeren Sohn Johannes lebten unter entbehrungsreichen Umständen in der Meiningenalle 7 in Berlin. Auguste Weißler wurde 1943 in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, wo sie nur wenige Wochen nach ihrer Ankunft starb. Johannes Weißler musste 1943 die Oberschule verlassen und begann eine Lehre als technischer Zeichner. Im Winter 1944/1945 wurde der 16-Jährige mit anderen rassistisch verfolgten Menschen zur Zwangsarbeit verpflichtet und auf einer Baustelle bei Coswig eingesetzt. Nach dem 2. Weltkrieg nahm er in Darmstadt ein Studium auf, wurde Ingenieur und war bei großen Unternehmen wie Siemens im In- und Ausland tätig. Nach dem 2. Weltkrieg zog Johanna Weißler nach Salzwedel. Ihr Lebensende verbrachte sie nach ihrer Flucht aus der DDR in West-Berlin.

Biografische Zusammenstellung: Dr. Julia Schilling

Literatur
- Miosge, Dieter, Friedrich Weißler (1891–1937): Ein Juristenschicksal, in: Höland, Armin/Lück, Heiner(Hrsg.), Juristenkarrieren in der preußischen Provinz Sachsen (1919-1945): Lebenswege und Wirkungen, Halle (Saale) 2004, S. 43–51.
- Germann, Michael, Friedrich Weißler im Dienst der Bekennenden Kirche, in: Höland, Armin/Lück, Heiner (Hrsg.), Juristenkarrieren in der preußischen Provinz Sachsen (1919-1945): Lebenswege und Wirkungen, Halle (Saale) 2004, S. 52–80.
- Weißler, Johannes, Die Weißlers: Ein deutsches Familienschicksal, Badenweiler 2011.
- Gailus, Manfred, Friedrich Weißler: Ein Jurist und bekennender Christ im Widerstand gegen Hitler, Göttingen 2017.
- Schilling, Julia, Friedrich Weißler:Ein deutscher Richter jüdischer Herkunft der Weimarer Republik, Halle (Saale) 2023.

Stolperstein Rosalie Sonja Okun

HIER WOHNTE
ROSALIE SONJA SAYA
OKUN
JG.1899
FLUCHT 1936 SCHWEIZ
DEPORTIERT 26.1.1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 28.10.1944
AUSCHWITZ

Dieser Stolperstein wurde von der Hausgemeinschaft gespendet und in Anwesenheit zahlreicher Bewohner/innen am 15.10.2013 verlegt.

Rosalie Okun kam am 26.1.1899 im russischen Minsk als Tochter von Meer Okun, geboren am 12. Juni 1867 in Minsk, und dessen Frau Fanny, geboren 1871 zur Welt. Diana war die ältere Schwester, Arsene der jüngere Bruder. Dem jüdischen Glauben fühlte sich Rosalie nur locker verbunden.
Die Familie floh vor Judenpogromen in Minsk, das einst polnisch, dann russisch war, zuerst nach Moskau, wo der Vater, obwohl erfolgreicher Kaufmann, eine Zahnarztausbildung machte. 1905, wieder aus Angst vor Pogromen, ging es über Berlin nach Hamburg. Hier arbeitete der Vater als russischer Zahnarzt und Speditionskaufmann; so konnte er seine Familie relativ gut versorgen.
Rosalie lernte in Hamburg Anfang der 1920iger Jahre Erich Engel, einen der bedeutendsten Regisseure und Theaterdirektoren Deutschlands, kennen und lieben. 1923 zog sie zu dem verheirateten Mann nach Berlin, lebte mit ihm zusammen und beeindruckte mit ihrem Charme und Witz berühmte Theaterleute wie Fritz Kortner und Bertolt Brecht. Engels Ehefrau lebte mit den zwei gemeinsamen Kindern in München und schien die Beziehung ihres Mannes zu dulden.

1933 – sie hatte sich inzwischen den Vornamen Sonja zugelegt – stand sie noch unter dem Schutz Engels, doch 1936 reichte er für eine Volljüdin nicht mehr aus. Sie selbst ging nun, um ihn zu schützen, auf Distanz, als Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, einer der wahnhaftesten Judenhasser der NS-Führung, den selbst als Vierteljude eingestuften Engel drängte, diese Beziehung in seinem eigenen Interesse zu beenden.
Rosalie Sonja Okun erkrankte an Kehlkopf-Tbc und hatte die Chance, diese mit Hilfe von Professor Ferdinand Sauerbruch in der Schweiz auszukurieren. Ganz brach der Kontakt zu Engel nicht ab. 1938 kehrte sie, gesundheitlich wieder hergestellt, aus freiem Willen nach Deutschland zurück. Alle ihre Künstlerfreunde und Verwandten rieten ihr dringend von diesem Entschluss ab. Sie jedoch beharrte auf ihrer Entscheidung. Sie wollte all ihre Energie der Jugend-Alija, einer Unterorganisation der Jewish Agency, widmen. Deren Aktivitäten hatte sie schon vor ihrer Erkrankung so stark unterstützt, dass sie als Seele des Berliner Büros in der Meinekestrasse 10 galt. Die Aufgabe der Jugend-Alija bestand darin, jüdische Jugendliche aus Nazi-Deutschland zu retten und auf ein Leben in Palästina vorzubereiten.

1939 verhalf sie ihren Eltern zur Ausreise in die USA, wo sie sich mit Hilfe von Verwandten in New York niederließen. Sie selbst fühlte sich ihrer Arbeit verpflichtet, wollte und konnte Deutschland nicht mehr verlassen. Ihre Schwester Diana lebte seit langem in England, ihrem Bruder Arsene gelang 1933 mit seiner Frau Detta die Flucht nach Frankreich und 1940 in die USA. Nun war sie völlig auf die Hilfe ihrer Freunde angewiesen. Unter ihnen war Hilde Roters, die sie nicht nur einmal als Untermieterin in ihrer Wohnung in der Meiningenallee 7 aufnahm. Ab 1. Mai 1940, als Hilde Roters selbst über Schweden in die USA flüchtete, bestand diese Möglichkeit nicht mehr.

Für Rosalie Sonja begann eine Odyssee von einem Judenhaus – hier wurden aus ihren Wohnungen vertriebene jüdische Menschen zusammengepfercht – ins nächste. Ihre letzte Unterkunft befand sich in der Uhlandstrasse 62 bei Frau von Hook. Ihre letzte Anstellung, nachdem die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ ihre Arbeit einstellen musste, fand sie als Schreibkraft des Arztes Dr. Benno Klein. Am 26. Januar 1944 wurde sie von dort aus direkt nach Theresienstadt deportiert, wo sie mit herzlicher Natürlichkeit besonders Trude Simonsohn zur Seite stand. Beide wurden Mitte Oktober 1944 mit dem letzten Frauentransport nach Auschwitz gebracht. Während Trude Simonsohn das Grauen überlebte, wurde Rosalie Sonja Okun am 28. Oktober 1944 ermordet.

„Das kurze Leben dieser so wunderbar heiteren Jüdin war ein tieftrauriges Martyrium. So starb sie auch. Da es an höchster Stelle versäumt wurde, spreche ich sie heilig“, schrieb der Regisseur Fritz Kortner in seinen Memoiren.

Quellen: Carmen Renate Köper: Das kurze Leben der Sonja Okun. Geliebt – verlassen – vernichtet. Brandes&Apsel, Frankfurt a.M. 2011; Juden in Charlottenburg. Ein Gedenkbuch (Hrsg. Verein zur Förderung des Gedenkbuches für die Charlottenburger Juden). text verlag, Berlin 2009.
Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam

Biografie: Anna-Maria Hesse