HIER WOHNTE
ROSALIE HENSCHEL
GEB. BUCHTHAL
JG. 1869
DEPORTIERT 17.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 26.9.1942
TREBLINKA
Rosalie Henschels Mädchenname war Buchthal. Sie wurde am 27. November 1869 in Berlin geboren. Ihre Mutter hieß Bertha, geb. Fontheim. Ihr Vater Albert Buchthal stammte aus Hohenwepel in Westfalen und hatte sich in Berlin als Kaufmann und Agent niedergelassen. Als Rosalie geboren wurde betrieb er eine „Eiserne Kurzwaren und Militär-Effektenhandlung“ in der Brückenstraße, einige Jahre später war er Vertreter für Stoff- und Strohhüte. Rosalie war die Älteste von vier Geschwistern: Sophie, Felix und Eugen waren 1870, 1873 und 1878 auf die Welt gekommen. Während Rosalies Kindheit zogen ihre Eltern häufig um, meistens einige Straßen weiter. Im Januar 1880 – Rosalie war 10 Jahre alt – starb ihr Vater 44-jährig in Genua, möglicherweise auf einer Geschäftsreise. Die verwitwete Mutter wechselte ebenfalls häufig die Adresse, meist auch im Viertel um die Brückenstraße herum.
Im Dezember 1905 heiratete Rosalie. Ihr Auserwählter war der vier Jahre ältere Kaufmann Paul Henschel, der 1903 sein eigenes Gewerbe als „Kursmakler an der Produktenbörse“ angemeldet hatte, er soll hauptsächlich an der Getreidebörse tätig gewesen sein. Nachdem das Paar auch mehrmals die Wohnung gewechselt hatte, ließ es sich 1908 in der Sybelstraße 17 nieder und blieb dort fast ein Vierteljahrhundert. Kinder hatten sie nicht. 1932 zogen sie in eine 4 ½ -Zimmer-Wohnung in der Jenaer Straße 6. Möglicherweise setzte sich Paul Henschel zu diesem Zeitpunkt zur Ruhe. Ein Ruhestand, den er nur wenige Jahre erleben konnte, denn 1935 ist im Adressbuch Berlin für die Jenaer Straße 6 „Rosa Henschel, Witwe“ eingetragen.
Dort lebte sie „allein und zurückgezogen“, wie sich eine Nachbarin erinnert, in der Parterrewohnung rechts. In den folgenden Jahren musste sie erleben, wie ihr Alltag durch Antisemitismus und diskriminierende Maßnahmen der Regierung zunehmend erschwert wurde. Insbesondere nach dem Novemberpogrom am 9./10. November 1938 häuften sich die Verordnungen gegen Juden: sie durften nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen, nicht in Theater, Konzerte, Kinos usw. gehen, zu bestimmten Zeiten durften sie gar nicht mehr auf die Straße, einkaufen war ihnen nur von 4 bis 5 Uhr nachmittags erlaubt. Alle Wertgegenstände mussten sie abliefern, Rundfunkgeräte wurden beschlagnahmt, Telefonanschlüsse gekündigt. Paul Henschel hatte seiner Frau ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, allein die „Reichsfluchtsteuer“, die sie als Jüdin zu hinterlegen hatte für den Fall, dass sie auswanderte, betrug über 28000 Reichsmark und stellte 25% ihres Vermögens dar. Aber sie konnte über
ihr Geld sowieso nicht mehr frei verfügen. Guthaben wurden auf „Sicherheitskonten“ überwiesen, von denen nur festgelegte Beträge für ein Existenzminimum abgehoben werden durfte, Wertpapiere mussten bei der Reichsbank gemeldet werden und konnten nur auf besonderen Antrag veräußert werden. Nach dem Attentat auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris, das die Novemberpogrome im November 1938 auslöste, wurde von „den“ deutschen Juden eine Sonderabgabe als „Sühneleistung“ von insgesamt 1 Milliarde Reichsmark verlangt. Hierfür verkaufte die Deutsche Bank „auf Verfügung der Gestapo“ Wertpapiere aus dem Besitz von Rosalie Henschel im Wert von 31000 RM.
Im August 1942 wurde Rosalie dann von der Gestapo „abgeholt“. Die Tochter des ehemaligen Hausbesitzers, die damals ebenfalls dort wohnte, hat die gewaltsame Verschleppung von Rosalie Henschel miterlebt. „Laut schreiend und um Hilfe rufend, wurde sie aus der Wohnung gezerrt“, erinnert sie sich. Zunächst wurde Rosalie Henschel mit einem Lastwagen in das Sammellager an der Großen Hamburger Straße 26 gefahren und registriert. Am 17. August 1942 wurde sie vom Bahnhof Moabit aus nach Theresienstadt deportiert. Während die Deportationen nach Theresienstadt in der Regel 50-100 Menschen umfassten, die in geschlossene, an Regelzüge angehängte Einzelwaggons gesteckt wurden, war Rosalie Henschel in dem ersten von vier Berliner „Massentransporten“, bei dem um die 997 Menschen in einen „geschlossenen Sonderzug“ gepfercht wurden. In Theresienstadt angekommen musste sie erkennen, dass es sich mitnichten um, wie vorgegeben, eine altersgemäße Unterbringung handelte, sondern
um ein völlig überfülltes, unterversorgtes, hygienisch katastrophales, menschenunwürdiges Lager. Es kam für sie aber noch schlimmer: nach wenigen Wochen, am 26. September 1942, wurde sie weiter deportiert, diesmal mit doppelt soviel Menschen, in das Vernichtungslager Treblinka und dort kurz nach Ankunft durch Gas ermordet.
Rosalies Wohnung in der Jenaer Straße wurde von einem SS-Mann Helmut Möller bezogen, nachdem er sich für eine Spottpreis einen Teil von Rosalies Möbeln angeeignet hatte. Der Rest wurde von der Firma Karl Gentsch aus Plötzensee „verwertet“, der Erlös floss natürlich in die Staatskasse. Da der Vermieter auch noch behauptete, mit Rosalie Henschel ausgemacht zu haben, die Wohnung auf ihre Kosten zu renovieren – obwohl das früher immer vom Hausbesitzer getragen wurden – , sah SS-Mann Möller die Gelegenheit, eine Luxusrenovierung auf Kosten der jüdischen Vormieterin durchzuführen. Da deren Vermögen aber inzwischen die Oberfinanzdirektion kassiert hatte, bekam Möller „nur“ knapp 2/3 seiner üppigen Ausgaben erstattet.
Rosalies Geschwister und deren Kinder konnten sich rechtzeitig nach England und in die USA retten. Auch Ernst Henschel, ein Bruder von ihrem Mann, überlebte in London.
Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Berliner Adressbücher; Angaben Dr. Gabriele Bergner; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer