Das Ehepaar Julius und Ernestine Baer hat etliche Jahre in der Markgraf-Albrecht-Straße 5 im Gartenhaus parterre rechts gewohnt. Sie hatten zwei Zimmer mit Küche für 60 Reichsmark (RM) im Monat gemietet. Vermieterin war Wanda Schäfer, vermutlich die Frau des Hauseigentümers Friedrich Schäfer, der früher ein Baugeschäft hatte und selbst im Vorderhaus, einem Gründerzeitbau mit Säulenportal, wohnte. Sie war jedenfalls nach den Kategorien der Nazis als „Arierin“ ausgewiesen.
Julius Baer ist am 23. April 1899 Berlin geboren, seine Frau Ernestine Baer, geb. Bottstein, am 15. Juni 1895 (nach anderen Quellen am 15. Mai 1895) ebenfalls in Berlin. Sie waren unauffällige und in bescheidenen Verhältnissen lebende Menschen. Er war Arbeiter bei der Fahrbereitschaft der Stadt Berlin gewesen und hatte dort einen Wochenlohn von 30 RM verdient. Sie war Arbeiterin in der Kartonagenfabrik Walter Keil, Köpenicker Straße 39, wo sie einen Wochenlohn von 23 RM bekam. Zusammen hatten sie etwas mehr als 200 Reichsmark im Monat zur Verfügung, also blieben ihnen abzüglich der Miete rund 150 RM zum Leben – für damalige Verhältnisse nicht viel.
Am 2.3.1943 machte Ernestine Baer in ihrer Vermögenserklärung Angaben zu ihrem Eigentum, die recht dürftig ausfielen. Sie ließ eintragen: Zimmer „komplett“ und Hausrat „verschiedenes“. In der Spalte Damenkleidung gab sie an: „Abwanderungsbedarf“. Die Höhe ihres Gesamtvermögens bezifferte sie auf „10.- RM“.
Einen Tag, bevor die beiden nach Auschwitz deportiert wurden, wies Ernestine Baer schriftlich darauf hin, dass ihr drei Tage Lohn nicht bezahlt worden seien. Selbst diesen geringfügigen Betrag wollte sich der Nazi-Staat von der Kartonagenfabrik Keil nachträglich auszahlen lassen. Die Oberfinanzkasse leitete eine „Vermögensbeschlagnahmesache“ ein, verbuchte aber schließlich am 10.11.1944 weniger als einen Tageslohn, nämlich die lächerliche Summe von 3,27 RM. Ähnliche Umstände machte die Deutsche Bank, die am 15.11.1944 das Konto von Ernestine Baer auflöste und 8 RM an die Oberfinanzkasse überwies. Diese Verfügung war mit drei Unterschriften versehen. Zwei Finanzbeamte bestätigten am folgenden Tag den Eingang der 8 RM.
Mehrere Monate, nachdem die beiden deportiert waren, schickte der Obergerichtsvollzieher H. Schlassuns, Langensteiner Weg 4, zwei Schätzer in die Wohnung, die das Mobiliar und den Hausrat auf 345 RM taxierten, wovon sie 34,50 RM für ihre Dienste abzogen. Nach amtlichen Angaben wurde die Wohnung am 21.10.43 geräumt, nach Darstellung der Wirtin jedoch erst im Februar 1944, seitdem sei sie „von Bombengeschädigten bewohnt“. Daran hatte sie ein Interesse, denn am 10.1.1944 mahnte sie rückständige Miete für März bis Dezember in Höhe von 600 RM an. Ein halbes Jahr später wurden 469,80 RM überwiesen.
In diesem Fall hat sich also der NS-Staat nicht am Hab und Gut der Ermordeten bereichern können, sondern eher ein Minus gemacht.
In einem der umfangreichsten Transporte vom Bahnhof Berlin-Grunewald überhaupt ist das Ehepaar Baer am 3. März 1943 mit 1726 Menschen nach Auschwitz deportiert worden, von denen 1033 sofort in den Gaskammern von Birkenau getötet wurden. Zum Gedenken an Julius und Ernestine Baer, die damals 43 und 47 Jahre alt waren, sind auf Wunsch von Eigentümer und Bewohnern zwei Stolpersteine schräg gegenüber ihrem Wohnhaus vor der Markgraf-Albrecht-Straße 14 verlegt worden.
Recherchen und Texte: Helmut Lölhöffel
Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam; Bundesarchiv: Gedenkbuch für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung und Register der Volkszählung vom 17.5.1939; Rivka Elkin: Das Jüdische Krankenhaus in Berlin zwischen 1938 und 1945. Berlin 1993; Gottwald/Schulle: Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005.