Dorothea Hauser, Bewohnerin der Trautenaustraße 10, hielt am 29. April 2012 zur Stolpersteinverlegung in der Trautenaustraße und zur Einweihung der Gedenkstele am Nikolsburger Platz die folgende Ansprache:
“Die Trautenaustraße und der Nikolsburger Platz sind für die 110 Menschen, derer wir heute gedenken, Zuhause gewesen. Für manche war es Heimat – viele lebten jahrzehntelang hier -, für andere war die Trautenaustraße letzte Zuflucht.
Genauso wie wir lebten unsere ehemaligen jüdischen Nachbarn gerne hier. Es braucht nur wenig Phantasie, sich das vorzustellen. Damals wie heute erfreute man sich am Gänselieselbrunnen auf dem Nikolsburger Platz. Auch die Rotdorne, die hier in unserer Straße demnächst wieder so blühen werden, gab es bereits. Damals wie heute stand am Nikolsburger Platz die Cecilienschule – wenngleich diese seinerzeit keine gemischte Grundschule, sondern eine höhere Mädchenschule war. Etwa die Hälfte der Schülerinnen war jüdisch.
In Berlin lebte Anfang der 1930er Jahre fast ein Drittel der rund 500.000 deutschen Juden, und Wilmersdorf war in Berlin der Bezirk mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil, nahezu 14 Prozent. Zum Vergleich: Im Deutschen Reich betrug der Anteil derjenigen, die sich zum jüdischen Glauben bekannten, damals insgesamt weniger als 0,8 Prozent.
Vor der Herrschaft des Nationalsozialismus verstanden sich unsere ehemaligen jüdischen Nachbarn sozial, kulturell und politisch als Teil der deutschen Gesellschaft. Zugleich bewahrten viele von ihnen eine oft stark gelockerte, aber doch durchaus gelebte Bindung an Glauben und jüdische Traditionen. Dazu gehörte der Besuch der liberalen Synagoge hier um die Ecke in der Pariser Straße oder der großen Gemeindesynagoge mit 2300 Plätzen in der Prinzregentenstraße, die im September 1930 eingeweiht wurde.
Trotz der Bedrückungen der Weltwirtschaftskrise von 1930/31 und einzelner antisemitischer Vorfälle schon vor 1933 haben die Juden, die damals hier lebten, Trautenaustraße und Nikolsburger Platz lange als funktionierende Nachbarschaft gesehen.
Man, das heißt jüdische wie nicht-jüdische Nachbarn, traf sich im berühmten Café Josty – dort, wo sich heute Ecke Bundesallee der Bio-Supermarkt befindet. Man schickte die Töchter auf die Cecilienschule. Man traf sich hier am Nikolsburger Platz Nr. 6 in von der Veldens Bücherstube und gab die Wäsche zur Bügelanstalt Buckow im selben Haus. Man begegnete sich gegenüber in der Trautenaustraße 6, heute das Seniorenwohnhaus, in der Buchhandlung Franz, in der Drogerie Fiehring, im Milchladen Kleemann oder beim Friseur Krumesz. Man sah sich dort, wo heute der Spielplatz ist, beim Blumenladen Leuschner und in der Wäscherei Meier oder auf der anderen Seite beim Zahnarzt Israelski am Nikolsburger Platz 1. Und man besuchte gemeinsam die Lichtspiele am Nikolsburger Platz, ein Kino mit 300 Plätzen, das drüben an der Ecke war, dort, wo heute der Neubau Trautenaustraße 18 steht. 1931/32 sah man sich dort die Verfilmung von Erich Kästners „Emil und die Detektive“ an,
Drehbuch Billy Wilder, die im Sommer zuvor teils an der Trautenaustraße gedreht worden war, und unsere kleine Straße weithin bekannt machte.
Mit dieser Nachbarschaft war es von 1933 an vorbei. Die Juden in der Trautenaustraße standen stattdessen vor Ausgrenzung und Entrechtung, Job- und Existenzverlust, Vermögensentzug, Ausplünderung und Verfolgung. Viele flohen ihre deutsche Heimat – ein Schritt, für den durch immer neue Bestimmungen und Schikanen des NS-Staats ganz ungeheure Hürden zu überwinden waren, während zugleich die Aufnahmebereitschaft anderer Ländern immer geringer wurde. Immerhin konnten durch die sogenannten Kindertransporte nach Großbritannien zahlreiche Kinder und Jugendliche gerettet werden; ihre Eltern freilich sollten viele nicht wieder sehen. Spätestens im November 1938, als man von diesem Platz aus den Brandgeruch von der Synagoge in der Prinzregentenstraße her wahrnahm, hieß es nur noch: rette sich wer kann. Doch vielen blieb die Möglichkeit der Flucht aus Deutschland, die nach Kriegsbeginn im September 1939 gegen Null ging, verwehrt. Sie waren, wie Sie heute bei der
Stolpersteinverlegung und dem Verlesen ihrer Namen und Lebensdaten haben feststellen können, zumeist alt und/ oder weiblich.
Im Oktober 1941 wurde Juden die Auswanderung dann ganz verboten und die systematischen Deportationen begannen. Ilse Herzfeld aus der Trautenaustraße 10, die es offenbar als erste hätte treffen sollen, entzog sich ihrer Deportation am 19. Oktober 1941 durch Selbstmord. Als eine von vier Untermietern der Familie Nachtlicht gehörte sie zu der ganzen Reihe von Zugezogenen, für die heute Stolpersteine gelegt wurden. Es waren zumeist Juden aus der Provinz, Verwandte wie Freunde, die vor der Verfolgung durch NS-Staat und Mitmenschen in die Großstadt Berlin geflohen waren, wo sie sich vergleichsweise erträglichere Lebensbedingungen erhofft hatten. Auch die Witwe Erna Heilbronner aus der Trautenaustraße 16 hatte mehrere Untermieter aufgenommen. Insgesamt 16 Stolpersteine liegen jetzt vor diesem Haus.
Für die verzweifelt und mittellos Zurückgeblieben, bis 1942/43 Todgeweihten, engte sich der Lebensraum auch außerhalb der eigenen vier Wände oder Logis-Zimmer stetig weiter ein. Man weiß gar nicht, wo man anfangen und wie man aufhören soll: Vom November 1938 an, zum Beispiel, durften Juden das Kino am Nikolsburger Platz nicht mehr betreten. Gleiches galt für die Badeanstalt in der Trautenaustraße 5, dem heutigen PANGEA-Haus. Und dann auch für die Wohnungen nicht-jüdischer Nachbarn und Bekannten. Ab Juli 1940 durften Juden in der Trautenaustraße, wo die Kriegswirtschaft bald Schlangen vor den Läden produzierte, wie überall in Berlin nur noch zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags einkaufen. Viel weiter schafften sie es zu Fuß kaum, denn die Benutzung der Straßenbahn, die seinerzeit durch die Trautenaustraße rumpelte, war ihnen ebenso verboten wie bald alle anderen öffentlichen Verkehrsmittel. Autos sowieso, Fahrräder wurden beschlagnahmt. Auch Telefon und Radio waren
verboten.
Der Friseur Krumesz in der Trautenaustraße 6 wurde für Juden ebenso tabu wie der Zigarrenladen hier drüben am Nikolsburger Platz 1, wo heute ein Garagengeschoss steht, die Milchläden in der Trautenaustraße 6 und der Trautenaustraße 10, die Buchläden am Nikolsburger Platz usw. usf., da Juden weder Milch noch Fleisch noch sogenannte deutsche Druckerzeugnisse oder Eier einkaufen durften. Die Liste ließe sich beliebig verlängern; ich könnte noch sehr lange reden und es ließe sich noch viel mehr sagen: Zu unseren ermordeten ehemaligen jüdischen Nachbarn. Aber auch zu Solidarität und Widerstand von Nicht-Juden, die es in der Trautenaustraße – neben Gleichgültigkeit, Verrat und Berreicherung – auch gegeben hat.”