Ansprache zur Verlegung von Stolpersteinen für Max und Rosa Hecht am 8. November 2011 vor dem Haus Sybelstr. 35 in Berlin-Charlottenburg
Max Hecht wurde 1878 in St. Goarshausen, Rosa Heimann 1881 in Pakosch geboren. Pakosch liegt in der ehemaligen Provinz Posen, heute ist der Ort polnisch. Möglicherweise wurde Rosa Hecht später von der Familie ihres Mannes etwas verächtlich angesehen als „Ostjüdin“. St. Goarshausen liegt am Rhein, dort ist auch der berühmte Fels, der den Namen „Loreley“ trägt. Wann Max Hecht, das älteste von sechs Geschwistern, nach Berlin zog und warum ist unbekannt. Er hatte ein Textilgeschäft und lebte bis in die Nazizeit hinein im Ostteil der Stadt, zuletzt in der Grellstr. in Prenzlauer Berg, bevor er, wahrscheinlich wegen Kündigung seiner Wohnung, zusammen mit seiner Frau als Untermieter einer Familie Cohen in die Sybelstr. 35 zog, wo sie im 2. Stock wohnten.
Die Briefe von Max und Rosa Hecht in Berlin gingen dorthin, wohin ihr einziges Kind, Dagobert, 1909 in Berlin geboren, ausgewandert war, zuerst nach Guatemala, dann nach New York City und zuletzt nach St. Louis, wo ein ebenfalls aus Deutschland ausgewanderte Bruder von Max Hecht wohnte. In Berlin arbeitete Dagobert in der Werbeabteilung von Berlins ältestem Kaufhaus, dem Kaufhaus Nathan Israel direkt gegenüber vom Roten Rathaus. In allen Briefen wurde dem Sohn die Erledigung der Formalitäten dringendst ans Herz gelegt, so dass die Eltern „… endlich zur Untersuchung kommen, denn es ist allerhöchste Zeit“. Gemeint ist hier die ärztliche Untersuchung im amerikanischen Konsulat, die nur dann unternommen wurde, wenn alle nötigen Papiere vorhanden waren und die Quotennummer aufgerufen wurde.
Für die Verschickung der Möbel in die U.S.A. verlangte man Devisen, auch für die Schiffspassagen. Das war das nächste Problem, woher die Devisen holen? Die Möbel mussten aus Mangel an Devisen zu guter Letzt in Berlin zurückbleiben. Und ohne Vorweisung der Schiffspassagen, die ebenfalls nur mit Devisen bezahlt werden musste, konnte man Deutschland nicht verlassen. Der Sohn war ja erst kurze Zeit in den U.S.A., die Juden mussten Deutschland mittellos verlassen. Anfangs war auch kein Geld von ihm zu erwarten. Probleme über Probleme.
16. Juli 1940: Rosa schrieb: „ … bei allen klappt es, nur bei uns nicht.“
4. August 1940: „Jetzt glauben [wir] kaum, dass wir noch heraus können. … Werden wir denn hier bleiben müssen? … Wir haben keine Hoffnung mehr … Wir sind, wie Du Dir’s denken kannst, liebes Kind, ganz verzagt. Trotzdem wollen u. geben wir noch nicht ganz den Mut auf u. hoffen noch, daß alles klappen kann.“
14. November 1940: Rosa schreibt: „Nun, mein Kind, sind es jetzt zwei Jahre, wo Du von uns fort bist. Wir wollen aber jetzt hoffen u. wünschen, daß wir bald vereint zusammen kommen. Der l. Gott gebe es.“
Unterdessen schickte Dagobert gelegentlich Pakete mit Lebensmitteln an seine dankbaren Eltern.
3. Dezember 1940: Max schrieb: „Sonst gibt es nichts Neues: Julian Moses wurde vorige Woche beerdigt, er starb an derselben Krankheit wie s. Zt. Onkel Arthur; Mutti war zur Beerdigung.“ Die „Krankheit“, die Onkel Arthur hatte, das wusste man, war die Ermordung in einem Konzentrationslager. Im gleichen Brief steht folgendes: „Mutti hat einen Finger gequetscht bekommen durch brutales Vorgehen eines Untermieters, sie ist in ärztlicher Behandlung. Durch diese Aufregung ist bei mir die Leber etwas geschwollen und die Galle angegriffen; es wird bei Ruhe wieder vergehen, da ja der Veranlasser nicht mehr hier im Hause ist.“
Anfang 1941 schreibt Rosa Hecht ihren Sohn, dass der Vater seit ein paar Wochen in einer Klinik liegt und Wasser in den Füssen hat, er sollte aber bald wieder zu Hause sein.
Trotz allem hatten die Hechts noch Hoffnung, dass sie bald auswandern konnten, so sehr sogar, dass sie schon, bevor die Visa erteilt worden waren (das Geld in Dollar wurde von den Verwandten in den USA hinterlegt), Schiffspassagen buchten ab Lissabon und zwar für den 20. April, Hitlers Geburtstag. Verärgert waren die Hechts schon, da sie die Wartenummer 41478 hatten und andere Ausreisewillige mit Wartenummern 46000 und höher schon abgereist waren, während sie noch in Berlin saßen.
Am 8. März 1941 erhielten Max und Rosa Hecht ein Schreiben vom amerikanischen Konsulat. Der Termin für die Prüfung der Papiere und die amtsärztliche Untersuchung wurde auf den 24. März festgelegt. Endlich ging es weiter und die Hoffnung aus Deutschland heraus zu kommen und den Sohn wiederzusehen war enorm.
Beim Termin stellte der Konsul seltsame Fragen und das Ehepaar Hecht musste am nächsten Tag, den 25. März, ein zweites Mal erscheinen. Dann fing wieder das Warten an bis man sicher war, dass das Vorhaben „Auswanderung“ diesmal gelungen war. Eine neue Schiffspassage wurde nunmehr ab Lissabon für den 29. Juni gebucht.
Am 6. April meldete sich das amerikanische Konsulat. Wegen seines Gesundheitszustandes wurde ein Visum für Max Hecht abgelehnt doch für Rosa Hecht genehmigt. Natürlich wanderten beide nicht aus, Rosa Hecht wollte ihren Ehemann nicht alleine zurücklassen.
„Nun kannst Dir unsere Verzweifelung … vorstellen, aber trotzdem wollen wir nicht verzagen.
Wir wissen genau liebes Dagobertchen, Du wirst jetzt alles aufbieten, um uns schnell in ein anderes Land zu bringen. Du schriebst doch von Guatemala, also siehe zu alles schnell … zu unternehmen. Passage haben wir für Ende Juni, vielleicht klappt bis dahin etwas. Du kannst Dir wohl die Aufregung vom l. Vati vorstellen. Ich tröste ihn natürlich, dass wir bestimmt raus kommen. Wir sind so weit mit allem fertig, brauchen nur zu packen, da wir bestimmt mit dem Visum gerechnet haben.“
Hinzu kam, dass der eine Bürge plötzlich stellungslos geworden ist und daher seine Bürgschaft zurückzog und nach Meinung des Konsuls war der andere Bürge nicht in der Lage auf Grund seiner Beweismittel den Lebensunterhalt der Hechts zu sichern, falls sie ihren eigenen Lebensunterhalt nicht besorgen konnten. „Bei uns geht doch alles schief, nun stehen wir da.“
Brief von Rosa Hecht 5. Mai 1941: „Vati hat doch keine ansteckende Krankheit. So viele sind durchgekommen, die auch ein Herzleiden haben. … Also liebes Kind, Du musst alles aufbieten. Du kannst Dir wohl unsere Stimmung vorstellen. Dadurch hat sich Vati auch sehr aufgeregt, denn wir waren voller Hoffnung … und haben alles fertig bis aufs packen, feste Buchung für den 29. Juni. Was soll nun geschehen, aber [wir] verlieren trotzdem den Mut nicht, denn wir setzen alle unsere Hoffnungen auf Dich, mein geliebtes Kind.“
Den nächsten Brief schrieb Rosa Hecht am 9. Mai: „… ich hatte vor, mit dem lieben Vati [am] 8.5. zu einem Professor zu gehen …, aber leider ist es nicht mehr dazu gekommen, da der geliebte Vati am selben Tage vormittags 12½ seine Augen für immer geschlossen [hat]. Er ist ruhig eingeschlafen. Er war leider sehr krank, aber nur die letzten 4 Wochen. Und trotzdem glaubte ich nicht, dass es so schnell kommen wird. Noch bis vor ½ Stunde seines Todes war der Arzt bei Vati, gab ihm eine Spritze, die er zweimal in der Woche immer bekommen hat, damit das Wasser aus dem Bauch u. Füßen [verschwand] und der Vati dadurch seine Erleichterung haben sollte. Aber leider hat alles nichts mehr geholfen.“ Nunmehr war Rosa Hecht allein. Die Verwandten ihres Mannes lebten woanders in Deutschland oder waren ausgewandert. Sie hatte Verwandte in Berlin. Besonders ihre Nichte Margot Heimann, ein recht junges Mädchen, war oft bei ihr. Jetzt versuchte Rosa Hecht alleine aus
Deutschland auszuwandern.
Eine Woche später schrieb sie an ihrem Sohn: „… die Absage vom Konsulat hat dem sel. geliebten Vater den letzten Stoß gegeben. Ich kann es kaum fassen.“ Die anderen Juden in der Sybelstr. 35 waren sehr mitfühlend. Zitat: „Du glaubst nicht, mein liebes Dagobertchen, wie alle Bekannte u. Freunde um mich herum sind und wie sie mir alle beiseite stehen. Meine Wirtsleute sind aufopfernd, alle Wege hat der Herr erledigt, alle umgeben mich mit so viel Liebe u. lassen mich nicht allein. … Liebes Dagobertchen, verrichte auch das Gebet für den sel. Vater.“
Wofür lebte Rosa Hecht noch? „Ich erhalte mich ja nur noch für Dich und werde erst Trost finden, wenn ich bei Dir sein werde. Wenn dieses nur schnell ginge.“ Sie versuchte weiterhin in die USA zu kommen. Ihr Mann war tot, jetzt war Sohn Dagobert der nächste Verwandte.
3. Juni 1941: „Ich weiß, mein Kind, das Du im Sinne unseres geliebten sel. Vaters Dein Leben führen wirst u. dieses gibt mir meinen Trost. Denn sein Trachten u. Sinnen warst Du. … Der l. sel. Vati wollte mich nur noch zu Dir bringen und Dich noch mal sehen, aber leider war ihm dieses nicht mehr vergönnt und dieses nagt [an mir] und kann ich [es] nicht fassen. Ja, mein Kind, ich werde mir die größte Mühe geben, um gesund u. stark zu bleiben, denn ich weiß ja, ich habe Pflichten. Ich habe Dich nur noch allein, um mit Dir vereint zu sein. Mein sehnlichster Wunsch ist ja nur so schnell wie möglich zu Dir zu kommen. Die Feiertage waren traurige für mich, war beide Tage in der Synagoge. Wenn wir beide den Schmerz tragen werden wird er für uns leichter sein.“
Rosa kann eines nicht verstehen. Sie hatte die amtsärztliche Untersuchung in März überstanden und nunmehr, da Max tot war, wollten die Amerikaner ihr das Visum nicht erteilen, wohl weil sie es damals ablehnte, ohne ihren Mann in die U.S.A zu fahren. Sie hatte kaum noch Freunde, da diese peu à peu auswanderten. Jeden Sonntag besuchte sie ihren Mann auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee.
Sollte man es doch nicht mit Kuba versuchen? Nach Guatemala? In irgend ein anderes „Zwischenland“? An die Regierung in Washington schreiben? Alle erdenklichen Möglichkeiten wurden in Betracht gezogen.
4. August 1941: „Betreff der Auswanderung, mein liebes Kind, weiß ich genau, dass Du alles tust was nur in Deiner Kraft steht und alles aufbietest was Du nur kannst, was soll ich auch hier allein. Ich war beim Hilfsverein und hat mir der Berater auch gesagt, es bestände für mich eine Hoffnung, da ich die Untersuchung schon habe. … Wenn bloß erst für mich ein Hoffnungsschimmer vorhanden ist, ich brauche nur zu packen, bin vollständig fertig mit allem. Eine Sache wird doch wohl klappen.“
Nun hatte sich Dagobert mit einer jungen jüdischen Frau aus München verlobt ohne zuvor seiner Mutter zu erzählen, dass er überhaupt eine Freundin hatte. Etliche Verwandte in Deutschland und den U.S.A waren entsetzt, er hätte ja warten können bis seine Mutter in Sicherheit wäre. Nun war Rosa Hecht bestimmt darüber sehr überrascht. Am 7. August 1941 schrieb sie: „Ich glaubte bestimmt, ich könnte an Deiner Hochzeit teilnehmen, aber wie Du schreibst habt ihr die Absicht im Oktober zu heiraten. Von Deinem Standpunkt kann ich es verstehen. Ich lege Euch auch nichts … [in den Weg], nur glücklich sollt ihr beide werden, so schwer es mir auch sein wird an diesem Tage nicht bei Euch zu sein, wo dieses mein Wunsch ist. So muss ich mich fügen, vielleicht gelingt doch noch meine Auswanderung bis dahin. … Ich bitte Dich sehr, mein liebes Kind, mir genau zu berichten wann Du heiratest, [an] welchen Kalendertag.“ Natürlich gab sie ihren Segen, bedauerte, dass der
Vater diese Freude nicht mehr erleben konnte und schrieb: „Ich bin derart erregt, dass ich wirklich nicht weiter schreiben kann, denn Tränen fließen.“
Trotz aller Freude spricht auch Panik aus Rosa Hechts Briefen. „Ich will Euch, so Gott will, wenn es mir vergönnt sein soll zu meinen Kindern zu kommen, Dir sowie der lieben Ruth eine Mutter … sein wie ihr’s verdient. Ich will mein letztes hingeben für Euch, ach wäre es nur schon so weit. Ich möchte Euch helfen in all Eueren Unternehmungen. Ich fühle mich noch jung … und auch stark dazu, um noch auf eigenen Füßen zu stehen, denn ich will noch arbeiten für meine Kinder, wenn mir dieses der l. Gott noch vergönnen wird.“ Also niemandem zur Last fallen, Hauptsache raus.
3. Oktober 1941: „… wie schwer waren [die Feiertage] für mich, besonders der Versöhnungstag. Ich war den ganzen Tag im Tempel. Du weißt … doch wie ich es immer gemacht habe, aber allein musste ich gehen u. allein musste ich nach Hause gehen. … gefastet habe ich ausgezeichnet, denn ich hatte gehofft, wenn ich des Abends nach Hause komme, von Dir u. der Ruth Brief vorzufinden. Leider war die Enttäuschung zu groß. Ich war derart in Erregung, das Hella Weinberg Deiner Schwiegermutter schreiben musste, ob Sie Nachricht von Euch hatte, ich konnte nicht selbst schreiben.“
12. Oktober 1941: „Heute Nachmittag um 2½ Uhr wird das Grabdenkmal von gel. sel. Vater eingeweiht. Ich habe ein schönes schlichtes machen lassen, genau so schlicht u. einfach wie der geliebte Vater war.“
Die Hochzeit von Dagobert Hecht und Ruth Gottheiner wird wohl in der ersten Oktoberhälfte 1941 gewesen sein. Mutter Hecht konnte nicht dabei sein. Am 18. Oktober 1941 ging der erste Deportationszug von Berlin in das Ghetto Lodz. Noch in November 1941 folgten die letzten drei Briefe von Rosa Hecht. „Wer weiß, ob wir uns Wiedersehen werden. Zwar rede ich es mir ein. Ich will u. muss … vertrauen auf Gott. Ich lege mein Schicksal in Gottes Hand.“
16. November 1941: „Heute war [ich] auf dem Friedhof, habe Vati besucht. Es war für mich ein herrlicher Tag, eine Erleichterung. Viele liebe Freunde u. Bekannte sind jetzt verreist zu Verwandten.“ „Verreisen“ galt bei Juden allgemein als ein Codewort für deportiert.
In ihrem letzten Schreiben vom 22. November 1941 schreibt sie: „Am Freitag 21/11 erhielt von Deinem Muttchen, liebes Ruthchen, eine Karte, die von 18/11 datierte, worin sich Muttchen von mir verabschiedet und an Euch herzl. Grüße sandte.“ Das bedeutete nichts anderes als das Ruth Gottheiners Mutter deportiert wurde. Dann erreichte Dagobert Hecht keine Post von seiner Mutter mehr.
Danach musste Rosa Hecht Zwangsarbeit in einer Wellpappenfabrik in Lichtenberg leisten. Sie machte einen Vertrag mit einem Ehepaar in Niederschönhausen, das ihre Möbel kaufte, im voraus bezahlte und netterweise Rosa Hecht die Möbel weiterhin benutzen ließ bis “Muttchen” später abgeholt werden würde.
Rosa Hecht wurde am 29. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert.
Verfasst von Raymond Wolff