Stolpersteine Babelsberger Str. 6

Hausansicht Babelsberger Straße 6, Foto: KHMM

Hausansicht Babelsberger Straße 6, Foto: KHMM

Diese Stolpersteine wurden am 22.6.2011 verlegt.

Stolperstein Hulda Eisack, Foto: KHMM

Stolperstein Hulda Eisack, Foto: KHMM

HIER WOHNTE
HULDA EISACK
GEB. LESSER
JG. 1861
DEPORTIERT 17.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 24.11.1942

gespendet von Angelika Ezzeldin, Judith Fischer, Felix Mihram, Wilhelm Reintjes, Berlin

Hulda Eisack wurde am 27. November 1861 in Krone an der Brahe /Posen in Preußen (heute Koronowo – Polen) als Tochter von Jacob Lesser und Amalie geb. Moses geboren. Jacob Lesser war vermutlich Getreidehändler oder Essigfabrikant. Hulda hatte zwei ältere Schwestern, Rosina und Regina, und eine jüngere, Emma.

Hulda verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Krone und heiratete 1884 Abraham Adolph Eisack aus dem nahe gelegenen Nakel (heute Naklo nad Notecia – Polen) Er war dort am 14. Januar 1857 geboren worden. Sie zog mit ihrem Mann nach Nakel, wo er Kaufmann war. Dort bekamen sie mindestens zwei Kinder: Erich Siegfried, geboren am 22. Januar 1890 in Nakel, und Joachim Richard, der am 29.November 1899 auch in Nakel geboren wurde.

Von 1916 bis 1920 lebten sie in Hamburg und ab dem 27. August 1920 in Naugard in Pommern (heute Nowogard – Polen), 60 km nordöstlich von Stettin. Dort starb Adolf Eisack am 12. Februar 1926, er und Hulda hatten in der Breite Straße 30 gewohnt, Adolf hatte sich als Privatier eintragen lassen, sie konnten also von seinem Vermögen leben.

Beide Söhne Huldas waren inzwischen in den Süden Deutschlands gezogen. Erich heiratete Hermine Fricke, lebte in Stuttgart und Heilbronn und hatte drei Kinder: Hildegard, die 1914 in Weil im Dorf (heute in Stuttgart eingemeindet) zur Welt kam, Erich Siegfried wurde 1918 in Heilbronn geboren und Suzanne 1928 in Stuttgart. Der 9 Jahre jüngere Joachim heiratete am 1. Oktober 1926 in München Anna Chana Faktorowitsch. Auch dieses Paar bekam drei Kinder.

Wir wissen nicht, wie lange Hulda nach dem Tod ihres Mannes in Naugard blieb und auch nicht, wann sie nach Berlin kam. Es ist anzunehmen, dass sie als Witwe und Alleinstehende in die Nähe von bereits in Berlin lebenden nahen Verwandten nach Berlin wollte, vielleicht zu ihrer jüngeren Schwester Emma, nun verheiratete Freund, nachdem ihr erster Mann Ludwig Zander 1905 gestorben war. Am 17. Mai 1939, dem Tag der Volkszählung, bei der Juden in gesonderten Karteien aufgenommen wurden, wohnte Hulda Eisack zur Untermiete in der Babelsberger Straße 6 in Charlottenburg-Wilmersdorf.

Inzwischen hatte die 1933 begonnene Diskriminierung und Verfolgung von Juden ein unerträgliches Maß angenommen, vor allem nach den Pogromen vom November 1938. Erich verließ Deutschland mit Frau und Kindern erst 1939, zuerst nach England und dann 1940 in die Vereinigten Staaten. Joachim Eisack war bereits 1933 mit seiner Familie nach Frankreich geflüchtet. In Lyon kamen drei weitere Kinder zur Welt. Mit Ausbruch des Krieges wurde er als Deutscher interniert, ließ sich aber von der Fremdenlegion anwerben. Nach seiner Entlassung 1940 trat er der Résistance bei, wie auch sein ältester Sohn Gerd (Gérard). Der Rest der Familie konnte mit falschen Papieren bei einer Bauernfamilie im Departement Loire unterkommen, die sie bis Kriegsende schützte.

Hulda, mittlerweile über 80 Jahre alt, musste von der Babelsberger Straße in das Jüdische Altersheim in der Großen Hamburger Straße 26 umziehen. Als im Juni 1942 die Deportationen nach Theresienstadt begannen – wo angeblich Juden in Ruhe ihren Lebensabend verbringen könnten – , wurde auf Geheiß der Gestapo dieses Altersheim in ein Sammellager umfunktioniert. Erste Opfer waren die Bewohner des Heimes, die mit den ersten „Transporten“ von 50 oder 100 Personen nach Theresienstadt gebracht wurden. Einige wurden aber in andere jüdische Alterswohnstätten umquartiert. So auch Hulda Eisack, die in die Artilleriestraße 31 kam (heute Tucholskystraße 40), ein Gemeindezentrum von Addas Jisroel, das seit Anfang der 1940er-Jahre als Unterkunft für alte Menschen genutzt wurde.

Aber auch dieses Heim beschlagnahmte die Gestapo als (vorübergehendes) Sammellager, als sie im August 1942 beschloss, rund 1000 Menschen nach Theresienstadt auf einmal zu deportieren und das bestehende Sammellager in der Großen Hamburger Straße dafür zu klein war. Und diesmal wurden alle Heimbewohner auf die Listen gesetzt, auch Hulda Eisack. Am 17. August 1942 wurde sie mit 997 anderen (meist älteren) Menschen von dem Güterverkehrsbahnhof Berlin-Moabit aus in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie am 18. August ankam. Im selben Zug war auch Huldas Schwester Emma Freund geb. Lesser. Ob die Schwestern sich unter den fast tausend Menschen finden und sich gegenseitig Trost zusprechen konnten, bleibt ungewiss.

Theresienstadt als ruhigen Alterswohnsitz zu bezeichnen, war besonders zynisch angesichts der dort herrschenden komplett menschenunwürdigen Lebensumstände. Wohnraumnot, Hunger, Kälte und katastrophale hygienische Verhältnisse konnten viele der bereits geschwächten Menschen kaum überleben. Hulda Eisack starb wenige Monate nach ihrer Ankunft am 24. November 1942, angeblich an Altersschwäche, wie die verschleiernde „Todesfallanzeige“ behauptet. Ihre Schwester Emma war da schon über zwei Monate nicht mehr am Leben, sie starb am 14. September 1942, offiziell an Darmkatarrh und Lungenentzündung.

Huldas Schwester Rosa verheiratete Joseph war schon 1917 gestorben, Regina verheiratete Simon starb vermutlich auch früh, da ihr Mann 1899 erneut heiratete. Huldas Schwägerin Sophie Leipziger geb. Eisack lebte mit ihrem Mann in Kiel, siedelte aber 1937 nach Berlin um. 1942 wurde sie, inzwischen verwitwet, am 14. Juli ebenfalls nach Theresienstadt deportiert und erlag dort am 17. September 1943 den menschenverachtenden Lebensbedingungen. Für sie liegt eine Stolperstein in Kiel vor der Bülowstraße 3. Die Gedenkbücher Berlins und des Deutschen Bundesarchivs listen weitere Opfer mit den Namen Lesser und Eisack auf, die in Crone an der Brahe oder in Nakel geboren wurden, ohne dass eine echte genealogische Verbindung zu Hulda Eisack hergestellt werden konnte.

Dieser und weitere Stolpersteine wurden von Frau Angelika Ezzeldin und den Bewohnern der Babelberger Straße 6 gespendet, denen ich sehr herzlich dafür danke, dass ich meine Urgroßmutter finden konnte.

Didier Eisack lebt in Frankreich.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; Akim Jah, Die Berliner Sammellager im Kontext der „Judendeportationen“ 1941–1945, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 3/2013, S. 211-231; Todesfallanzeige für Hulda Eisack: https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/89233-eisack-hulda-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/ für Emma Freund: https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/82705-freund-emma-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/

Recherchen/Text: Didier Eisack und Micaela Haas

Stolperstein Günter Cohen, Foto: KHMM

Stolperstein Günter Cohen, Foto: KHMM

HIER WOHNTE
GÜNTER COHEN
JG. 1921
DEPORTIERT 26.2.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

gespendet von Angelika Ezzeldin, Judith Fischer, Felix Mihram, Wilhelm Reintjes, Berlin

Am 26. Mai 1921 wurde in Halberstadt Günter Cohen geboren. Sein Vater Ludwig Cohen war 1857 in Norden (Ostfriesland) geboren. Wann er nach Halberstadt kam, ist nicht bekannt. Möglicherweise verließ er seine Heimatstadt auch, weil in Norden, im Gegensatz zu anderen ostfriesischen Orten, offener Antisemitismus besonders präsent war. Dies wurde verstärkt durch den Zuzug von polnischen und russischen Juden nach den Pogromen in Russland von 1881 und 1884, die auf die Ermordung des Zaren Alexander II folgten. Man hatte fälschlicherweise Juden den Mord in die Schuhe geschoben.

Im Halberstadter Adressbuch ist Ludwig Cohen erstmals 1889 verzeichnet. Er baute eine Firma auf für den Handel mit Tuch-, Manufaktur-, Modewaren und auch Nähmaschinen. Günters Mutter Pauline geb. Rosenthal war wesentlich jünger als ihr Mann, sie stammte aus Rogasen (Posen), wo sie 1889 auf die Welt gekommen war. Ludwig Cohen war schon einmal verheiratet gewesen, aus dieser Ehe hatte Günter mehrere Halbgeschwister, von denen nur zwei den Krieg und die NS-Verfolgung überlebten.

Günter war erst sieben Jahre alt, als sein Vater am 20. August 1928 starb. Pauline Cohen blieb zunächst in Halberstadt, so dass sich Günters Kindheit und Jugend weitgehend dort abspielte. Erst 1937 zog sie mit ihrem Sohn nach Berlin und nahm eine 3 ½ Zimmer Wohnung in der Babelsberger Straße 6, Vorderhaus 1. Stock. Im Adressbuch ist sie als Paula, Witwe, eingetragen. Eine verheiratete Schwester Paulas und mehrere ihrer Stiefkinder, Günters Halbgeschwister, lebten bereits in Berlin. Zudem erhoffte sie sich vielleicht ein unauffälligeres Leben in der Großstadt als in Halberstadt. Denn seit vier Jahren waren die Nationalsozialisten an der Macht und betrieben ihre aktiv judenfeindliche Politik. Diskriminierung und Demütigung waren sicherlich in einer Kleinstadt wie Halberstadt, in der man schon lange lebte und vielerorts bekannt war, schwer zu ertragen. Die vormals bedeutende jüdische Gemeinde in Halberstadt war von rund 1000 1927 auf ca. 250 im Jahr 1937 geschmolzen.

Doch auch in Berlin wurde die Lage zunehmend unangenehmer. Für Günter war der Besuch einer staatlichen Schule kaum möglich, wahrscheinlich ging er in eine private jüdische Einrichtung. Die Situation verschärfte sich 1938 nach den Novemberpogromen. Auf sie folgte eine Flut von antisemitischen Verordnungen, die die völlige Isolierung von Juden zum Ziel hatte. Wir können annehmen, dass zu diesem Zeitpunkt der 17jährige Günter eine kaufmännische Ausbildung machte, da er sich einige Jahre später als Kaufmann bezeichnete. Auch das war nicht einfach, denn die Lehre konnte er nur in einem jüdischen Betrieb machen, und diese wurden nun nach und nach „arisiert“, d.h., gelöscht oder an Nichtjuden für einen Spottpreis verkauft.

Juden waren zudem durch viele Sonderabgaben und dadurch, dass sie nicht mehr über Bankkonten frei verfügen konnten, sondern nur Beträge für das ihnen zugemutete Existenzminimum abheben durften, praktisch verarmt. Die Gesundheits- und Ernährungslage für Juden verschlechterte sich zusehends, sie erhielten z. B. minderwertige Lebensmittelkarten, konnten nur 1 Stunde am Tag einkaufen gehen. Im September 1939 brach Paula Cohen, Günters Mutter, auf offener Straße zusammen und verstarb am 29. des Monats im Jüdischen Krankenhaus an einer Hirnhautblutung. Sie ist in Weißensee begraben. Ab diesem Zeitpunkt war Günter mit seinen 18 Jahren auf sich allein gestellt. Er übernahm nun die Wohnung als Hauptmieter. Am 24. November 1941 heiratete er die gleichaltrige Margot Abraham, die zu ihm in die Babelsberger Straße 6 zog.

Margot Abraham kam am 9. Juni 1921 in Berlin zur Welt. Ihr Vater Felix Abraham besaß die Firma „S. Abraham Teppiche und Gardinen“, 1900 von seinem Vater Samuel Abraham gegründet, mit Sitz in der Spandauer Straße 18. Die Mutter Frida geb. Samter war, wie ihr Mann, in Berlin geboren. Die Wohnung der Familie lag in der Alexanderstraße 15. Noch bevor Margot in die Schule kam, zogen Abrahams in die Flotowstraße im Hansaviertel, 1933 dann nach Charlottenburg in die Sybelstraße 52/53.

Vier Jahre nach der Machtübernahme der Nazis, 1937, wurde die Firma „S. Abraham Teppiche und Gardinen“ liquidiert, sehr wahrscheinlich unter NS-Zwang. Dies war wohl auch der Anlass für einen weiteren Umzug, diesmal in die Küstriner Straße 8 in Halensee, heute Damaschkestraße. Und mit Sicherheit war dies notgedrungen eine bescheidenere Wohnung, da mittlerweile die Lebensbedingungen für Juden sich weiter verschlechtert hatten. Zum Zeitpunkt der Volkszählung vom 17. Mai 1939 wohnten Felix, Frida und Margot immer noch dort. Die noch 17-jährige Margot wurde aber außerdem unter einer zweiten Adresse registriert: in der Moltkestraße 8/11 in Niederschönhausen, heute Wilhelm-Wolff-Straße 30-38. Dort befand sich ein Jüdisches Säuglings- und Kinderheim. Es liegt nahe anzunehmen, dass Margot, die die gleichen Ausbildungsschwierigkeiten wie Günter hatte, dort beschäftigt war.

Abrahams wurden nochmals gezwungen, ihre Wohnung aufzugeben und zur Untermiete in die Sybelstraße 66 eingewiesen. Von dort wurden Felix und Frida Abraham im September 1942 in ein Sammellager gebracht und kurz darauf, am 14. September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Felix erlag im Ghetto den dort herrschenden erbärmlichen Lebensbedingungen Ende März 1943, Frida wurde noch im Oktober 1944 nach Auschwitz weiterverschleppt und dort ermordet.

Margot entkam zunächst der Deportation, weil sie im September 1942 schon mit Günter verheiratet war und in der Babelsberger Straße 6 lebte. Sie war im 5. Monat schwanger. Günter hatte man zur Zwangsarbeit bei „Eltron“ in Tempelhof verpflichtet, eine Elektrofirma, die ursprünglich Heißwassergeräte herstellte, mit Kriegsbeginn aber auf Rüstungsproduktion umstellte. Auch Margot wurde sicherlich zur Zwangsarbeit herangezogen, vielleicht wurde sie in den letzten Monaten der Schwangerschaft verschont. Am 27. Januar 1943 kam ihre Tochter Tana zur Welt.

Tana war noch keinen Monat alt, da musste am 24. Februar 1943 ihr Vater die der Deportation und der gänzlichen Ausraubung von Juden vorausgehenden „Vermögenserklärung“ ausfüllen. Günter Cohen besaß noch ein Konto über 500 RM und ein Depot über 1000 RM, beides aber gesperrt. Die Einrichtung seiner Wohnung, oder was davon übrig war, gab er in dem Formular erst gar nicht an. Vor der späteren Versteigerung wurde sie auf 620 RM geschätzt. Das war vergleichsweise viel und zeigt, dass die Möbel nicht ärmlich gewesen waren. Eine Vermögenserklärung musste absurderweise sogar für Tana ausgefüllt werden, Günter unterschrieb sie mit dem Zusatz „als Vater“.

An diesem 24. Februar war die junge Familie wahrscheinlich schon im Sammellager Große Hamburger Straße 26 interniert. Zwei Tage darauf verließ ein verplombter Zug mit über 1000 Insassen den Güterbahnhof Moabit, Günter, Margot und Tana unter ihnen. Das Ziel war Auschwitz. Dort angekommen wurden Günter und Margot getrennt, Günter gehörte zu den 156 Männern, die zur weiteren Zwangsarbeit ausgesondert wurden. Besonders schwer fällt es, sich das Schicksal von Margot und Tana vorzustellen. In seinem Buch „Die Kinder von Auschwitz“ schreibt der Autor Alvin Meyer: „Babys und kleine Kinder wurden in Auschwitz in der Regel sofort ermordet. Hielt eine Mutter während der Selektion ihr kleines Kind im Arm, wurden beide vergast. Die Mutter mochte noch so jung, gesund und „arbeitsfähig“ sein. Das spielte keine Rolle…“ Auf der Deportationsliste war die 21-jährige Margot als „arbeitsfähig“ eingestuft worden, dennoch muss man davon ausgehen, dass sie nicht zu den 106 zur Zwangsarbeit bestimmten Frauen zählte. Sie wurde wohl mit Tana, die genau einen Monat alt war, und mit allen anderen nicht „Selektierten“ in den Gaskammern ermordet. Günter Cohen erkrankte bald an den menschenunwürdigen Lebensumständen im Lager, am 12. April 1943 wurde er mit Durchfall in den Häftlingskrankenbau Monowitz eingewiesen. Noch am 21. Mai des Jahres taucht sein Name auf einer Auschwitzer Liste auf, dann verliert sich seine Spur. Aus Auschwitz kam er nicht zurück. Sein Todesdatum ist nicht bekannt.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Stadtarchiv und Standesamt Halberstadt; Arolsen Archives; Archiv Jüdischer Friedhof Weißensee; Alwin Meyer, Vergiss deinen Namen nicht – Die Kinder von Auschwitz, Steidl Verlag, Göttingen, 2016

Recherchen/Text: Micaela Haas

Stolperstein Margarete Happ, Foto: KHMM

Stolperstein Margarete Happ, Foto: KHMM

HIER WOHNTE
MARGARETE HAPP
JG. 1878
DEPORTIERT 12.1.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

gespendet von Angelika Ezzeldin, Judith Fischer, Felix Mihram, Wilhelm Reintjes, Berlin

Margarete Happ kam am 30. April 1878 in Stettin als Margarete Stern auf die Welt. Ihre Eltern waren Benjamin Stern und Pauline geb. Glass. Als Margarete geboren wurde, war Benjamin Stern Rabbiner und Religionslehrer in Stettin und wohnte in Rosengarten 22-23. Wenige Jahre später zog er nach Posen und war zunächst als Privatlehrer, später als Lehrer und Pensionsvorsteher tätig, letzteres ein Verwaltungsamt in Lehranstalten. Margaretes Kindheit und Jugend spielte sich also in Posen ab. Als sie 1906 Richard Happ heiratete, lebte Familie Stern in Posen am Bernhardinerplatz 3.

Richard Happ war aus dem nicht weit entfernten Strelno und dorthin zog auch das junge Paar. In Strelno wurden 1907 und 1908 Margaretes beide Söhne geboren, Hans und Walter. Strelno war eine wirtschaftlich aufblühende Kreisstadt im Regierungsbezirk Bromberg mit ungefähr 5000 Einwohnern, etwa 6% davon jüdischen Glaubens. Richard Happ war hier als Kaufmann in dem Sägewerk bzw. Holzhandel von Joseph Happ – sein Vater oder ein Bruder – tätig.

Nach dem Posener Aufstand 1918 wurde Strelno polnisch, nun Strzelno genannt. Richard Happ zog mit Familie nach Bromberg, das allerdings auch Polen zugeschlagen wurde und seitdem Bydgoszcz heißt. Dort finden wir ihn 1922 im Adressbuch als Besitzer eines Sägewerkes in der Danziger Straße 48, polnisch ulica Gdańska. Das Unternehmen dort zu führen war aber wohl für Deutsche schwierig, denn ein Jahr später sind Richard und Joseph Happ im Berliner Adressbuch in der Lützowstraße 78 mit einem Holzgroßhandel eingetragen.

Hier wohnte Familie Happ bis Anfang der 30er Jahre. Beide Söhne gingen auf die Hindenburg-Oberrealschule und schlossen eine kaufmännische Lehre im Textilbereich an. Hans arbeitete anschließend in der Exportabteilung der Konfektionsfirma Graumann + Stern, Walter zunächst als Verkäufer bei seiner Lehrfirma, dann als Pelzeinkäufer bei Gebrüder Peiser. Um 1932 war die ganze Familie in die Jenaer Straße 3 umgezogen. Richard Happ ließ sich schon seit einigen Jahren nicht mehr als Holzhändler, sondern als Fabrikbesitzer im Adressbuch auflisten, offen bleibt, ob sein Betrieb weiterhin zur Holzbranche gehörte.

Nachdem 1933 die Nationalsozialisten die Regierung übernommen hatten, häuften sich offiziell sanktionierte Diskriminierungsmaßnahmen gegen Juden, wie antisemitische Verordnungen oder Judenboykotte. Jüdische Unternehmen bekamen zunehmend Schwierigkeiten und wurden schon vor dem Gesetz „zur Ausschaltung von Juden aus dem deutschen Wirtschaftleben“ vom November 1938 gedrängt, ihre Firmen an Nichtjuden zu verkaufen, die berüchtigten „Arisierungen“. Nachdem dieses Schicksal schon 1935 der Firma drohte, in der Hans Happ tätig war, beschlossen beide Brüder Deutschland zu verlassen. Walter fuhr im Dezember 1935 nach Brasilien, Hans folgte ihm 1936. Ob auch Richard Happ von „Arisierung“ bedroht war, oder ob er seinen Betrieb schon vorher aufgegeben hatte, bleibt unklar.

Am 11. Mai 1936, einen Tag nach seinem 30. Hochzeitstag, starb Richard Happ und so blieb ihm der Großteil der Demütigungen und Entrechtungen von Juden erspart, die in den nächsten Jahren, vor allem nach den Pogromen vom November 1938, noch folgen sollten. Nicht so Margarete. Ihre Söhne glaubte sie in Sicherheit, diese waren aber nur mit einem Touristenvisum ausgereist, das nicht ewig verlängert wurde. 1938 mussten beide nach Europa zurück, blieben zunächst in Frankreich. Immerhin gelang es ihnen dann doch von Marseille aus, ein Einwanderervisum nach Argentinien zu bekommen. Dies dürfte eine Erleichterung für Margarete gewesen sein. Hans ließ sich in Buenos Aires nieder, Walter konnte sich schließlich doch in Rio de Janeiro etablieren. Margarete selbst war nach Richards Tod noch einige Jahre in der Jenaer Straße 3 geblieben, Anfang 1939 zog sie in ein Zimmer zur Untermiete bei Helene Brasch in der Babelsberger Straße 6, vermutlich durch den Druck auf Juden genötigt, Wohnraum für Nichtjuden frei zu machen.

In der Babelsberger Straße konnte Margarete nur noch ein bescheidenes Leben führen. Zu den vielen Verordnungen zur wirtschaftlichen und sozialen Ausgrenzung und Isolierung von Juden kam auch die Umwandlung ihres Kontos in ein „Sicherheitskonto“, von dem sie nur durch „Sicherheitsanordnung“ festgelegte Beträge für ein Existenzminimum abheben konnte. 1941 waren es 185 RM im Monat, 1942 wurde der Betrag auf 160 RM herabgesetzt. Im Dezember 1942 wurde ihr mitgeteilt, dass sie zur „Abwanderung“ – ein Euphemismus für die Deportation – vorgesehen sei und dass sie vorher die obligate „Vermögenserklärung“ auszufüllen hätte. Helene Brasch, ihre Vermieterin, war schon im Juni 1942 „abgeholt“ worden. Margaretes Vermögen war überschaubar: Nur wenige Möbel aus ihrer ursprünglichen Wohnungseinrichtung hatte sie in das eine Zimmer in der Babelsberger Straße mitnehmen können. Über das Restvermögen bei der Deutschen Bank konnte sie keine genauen Angaben machen, später teilte die Bank mit, bei Kriegsende seien noch etwas über 1000 RM auf dem Konto gewesen. Über einige wenige Wertpapiere, die sie hatte, konnte sie sowieso nicht mehr selbst verfügen.

Im Januar wurde Margarete Happ kurz in dem von den Nazis in ein Sammellager umgewandelten jüdischen Altenheim in der Großen Hamburger Straße 26 interniert. Am 12. Januar 1943 deportierte man sie nach Auschwitz, nachdem ihr ein Tag zuvor per Zustellungsurkunde mitgeteilt worden war, dass ihr gesamtes Vermögen „dem Reich verfallen“ – sprich vom Reich geraubt worden – sei.

Margarete Happ musste an jenem 12. Januar am Güterbahnhof Moabit in einen Sonderzug mit fast 1200 weiteren Opfern steigen, der am 13. Januar in Auschwitz ankam. 127 Männer wurden für Zwangsarbeit ausgesondert, alle anderen, auch Margarete Happ, in den Gaskammern von Birkenau ermordet.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Adressbücher Stettin, Posen, Strelno und Bromberg; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005

Recherchen/Text: Micaela Haas

Stolperstein Hermann Löwenstein, Foto: KHMM

Stolperstein Hermann Löwenstein, Foto: KHMM

HIER WOHNTE
HERMANN LÖWENSTEIN
JG. 1877
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
30.12.1941

gespendet von Karin Benz, Berlin

Hermann Löwenstein wurde am 27. Mai 1877 in Hamburg geboren, als Sohn von Theodor Löwenstein und seiner Frau Rebekka, geb. Emden. Theodor Löwenstein war Inhaber der Firma „Hermann Löwenstein, Prägeanstalt, Gold- und Silberwarenlager“, vermutlich von Theodors Vater gegründet, dem Großvater von Hermann. Hermann hatte vier Geschwister: Ernst, Robert, Alfons und die Schwester Antonie (Toni). Nach dem Abitur machte er eine Banklehre, arbeitete als Bankangestellter und 1899 ging er nach Kairo, als Prokurist der Firma Otto Sterzing, Generalagentur der Norddeutschen Lloyd, bei der er später auch Mitgesellschafter wurde. Am 20. November 1906 heiratete er in Kairo Alice Hirschfeld, 1883 in Hamburg geboren. Sie hatte Fotografie gelernt, unter anderem im Münchner Atelier ihrer Tante Sophia Goudstikker, Fotografin und prominente Frauenrechtlerin. Alice und Hermann kannten sich aber aus Hamburg. Das Paar bekam keine Kinder.

Als der 1. Weltkrieg ausbrach, waren sie auf Reisen und konnten nicht nach Kairo zurück. 1917 ließen sie sich in Berlin nieder und bezogen eine 5 1/2-Zimmer-Wohnung in der Babelsberger Straße 6. Hermanns Eltern waren inzwischen beide gestorben, Theodor Löwenstein 1908 und seine Witwe 1911. Bruder Robert, genannt Leonard, war Kapellmeister und starb mit 48 Jahren im Juni 1916 in seiner Charlottenburger Wohnung, Linden Allee 24. Toni hatte den Kaufmann Julius Hirsch geheiratet, lebte mit ihm in Berlin und bekam 1899 eine Tochter, Else. Die Ehe wurde jedoch später geschieden und Toni ging zurück nach Hamburg. Dort starb sie 1924.
In Berlin assoziierte sich Hermann Löwenstein mit Max Hausdorff, der die Generalvertretung für Union Annaberg, Passementerie (Zierbänder, Borten) hatte. Die Firma Union Annaberg befasste sich später vor allem mit Werbung. Hermann Löwenstein war offenbar besonders an der Werbebranche interessiert, speziell an der Reklame auf Streichholzschachteln. Mit Max Hausdorff betrieb er die „Löwenstein & Hausdorff, Zündholzreklame“, die allerdings offiziell erst 1929 ins Handelsregister eingetragen wurde. Obwohl beide Firmen weiter existierten, waren sie wohl de facto verschmolzen, beide meldeten ihre Geschäftsräume in der Bayreuther Straße 42 an, in dem Haus, in dem auch Max Hausdorff wohnte. Das Werbegeschäft scheint gut gegangen zu sein, unter den wichtigsten Kunden waren die Deutsche Zündholz-Verkaufs AG, und die Porzellanfirma Rosenthal.

Hermann Löwenstein erkrankte an multipler Sklerose und war ab 1928 an den Rollstuhl gefesselt. Dennoch ließ er sich jeden Tag ins Büro in der Bayreuther Straße und wieder zurückfahren. Alice arbeitete ab diesem Zeitpunkt auch in der Firma mit. Später erledigte Hermann die Arbeit von der Babelsberger Straße aus. Unter dem NS-Regime ging aufgrund der antisemitischen Hetze auch das Geschäft von Löwenstein und Hausdorff zurück. Die Industrie- und Handelskammer bemängelte, dass „Union Annaberg“ nichts mehr mit den Passamenterien von Annaberg zu tun habe und auch keine Union mehr sei. Hausdorff nannte sie 1935 in „Max Hausdorff GmbH“ um. Immerhin konnten sie zunächst im Reklamegeschäft wichtige Großkunden halten, wie etwa Rosenthal, von deren Erzeugnissen sie eine Musterschau in den Büroräumen zeigten. Dennoch war laut Industrie- und Handelskammer Anfang November 1938 die Geschäftsaktivität „auf kleingewerblich abgesunken“. Nach den Pogromen vom 9./10. November 1938 sahen sich Hermann Löwenstein und Max Hausdorff gezwungen beide Firmen zu liquidieren.
Für Hermann Löwenstein war die Berufsexistenz zerstört – ein erklärtes Ziel der Nationalsozialisten gegenüber Juden. Aber auch der Alltag von Juden, schon vor den Pogromen sehr erschwert, wurde danach durch die sich nun häufenden Verbote und Einschränkungen unerträglich. Juden waren praktisch vom öffentlichen Leben ganz ausgeschlossen, entrechtet und verarmt. Als im Oktober 1941 auch noch die Deportationen begannen, konnte Hermann Löwenstein dem Leidensdruck nicht mehr standhalten. In der Nacht vom 29. Dezember dieses Jahres nahm er eine Überdosis Schlaftabletten, vier Stunden später verstarb er im Jüdischen Krankenhaus. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, aufgrund der Verfolgung könne er nicht mehr weiterleben, er befürchte, auch von der Gestapo abgeholt zu werden. Er ist in Weißensee bestattet.
Den Abschiedsbrief verlor Alice Löwenstein während ihrer bald folgenden Odyssee. Als sie im Mai 1942 die Benachrichtigung der jüdischen Gemeinde erhielt, am 31. des Monats deportiert zu werden, – ein Untermieter war schon „abgeholt“ worden – beschloss sie unterzutauchen. Zunächst konnte sie bei verschiedenen Helfern unterkommen, schließlich landete sie in Bremen, wo sie im März 1943 ohne Papiere aufgegriffen wurde. Sie täuschte erfolgreich Amnesie vor und wurde in eine Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen eingewiesen. Dort vertraute sie sich einem Arzt an und wurde bis Kriegsende geschützt. 1949 konnte sie in die USA auswandern.

Wie Hermann Löwenstein konnte auch Max Hausdorff die Lage nicht mehr ertragen. Bereits 1937 war seine Frau Elsa, geb. Reiche, tot aufgefunden worden. Nachdem er 1939 sein Gewerbe verlor und unter anderem genötigt wurde mehrmals umzuziehen, nahm er sich – wenige Monate vor Hermann Löwenstein – am 17. September 1941 – das Leben. Für ihn und seine Frau liegen Stolpersteine vor der Bayreuther Straße 42 in Schöneberg.

Herman Löwensteins Bruder Ernst überlebte den Krieg, er starb 1958 in Berlin. Der Bruder Alfons hatte eine finnische Pianistin geheiratet, nannte sich Alfons James Leonard und betrieb in Berlin die Konzertdirektion Leonard. Er lebte später mit seiner Frau in Helsinki, wo er 1943 starb. Tonis Tochter Else Hirsch heiratete Georg Griesbach. Das Paar floh mit der kleinen Tochter Dorothee (Dorothy) über London und Südafrika in die USA.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Adressbuch Hamburg; Landesarchiv Berlin; Mitteilung Katharina Kretzschmar, Stolpersteine Schöneberg; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Hinweise von Cordula Jacob, Hamburg
Recherchen/Text: Micaela Haas

Stolperstein Max Paul Mirauer, Foto: KHMM

Stolperstein Max Paul Mirauer, Foto: KHMM

HIER WOHNTE
MAX PAUL MIRAUER
JG. 1874
DEPORTIERT 20.11.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 1.12.1942

gespendet von Angelika Ezzeldin, Judith Fischer, Felix Mihram, Wilhelm Reintjes, Berlin

Max Paul Mirauer kam am 8. September 1874 in Berlin zur Welt. Seine Eltern, der Kaufmann Moritz Mirauer und Regina geb. Weil waren erst ein Jahr verheiratet. Sie waren 1873 nach Berlin gekommen und Moritz hatte ein Wohnhaus im Friedrichshainer Grünen Weg Nr. 39 gekauft (heute Singerstraße 36), in dem die junge Familie die Belletage, den 1. Stock, bewohnte. 1875 kam Pauls einzige Schwester Rosa hinzu.

Wir wissen nicht, ob Moritz Mirauer allein von seinen Mieteinkünften lebte – in dem Haus wohnten 14 Parteien – oder ob er noch ein Gewerbe betrieb. Jedenfalls konnte er seinem Sohn eine solide Ausbildung als Baumeister finanzieren. Und Paul machte Karriere. 1905, das einzige Jahr in dem er im Adressbuch Berlin eingetragen ist, war er bereits verbeamteter Regierungsbaumeister. Er war ledig und lebte mit seinen Eltern am Grünen Weg.

Als Beamter kam Paul viel herum, mit jeder Beförderung wurde er versetzt. 1909 war er Regierungsbauinspektor bei der Eisenbahndirektion in Danzig, mit der Adresse Pfefferstadt 75. 1910/11 war in der „Verkehrstechnische Woche und Eisenbahntechnische Zeitschrift“ zu lesen: „Der 2. Vertrauensmann für die Eisenbahn-Direktion Danzig Regierungs -Baumeister Mirauer scheidet durch seine Versetzung nach Insterburg am 1. Oktober aus seinem Amt als solcher aus…. Mirauer, bisher in Danzig, als Vorstand (auftrw.) der Maschineninspektion nach Insterburg“ .Und das „Zentralblatt der Bauverwaltung“ weiß 1911: „Verliehen ist: Mirauer die Stelle des Vorstandes des Maschinenamts in Insterburg“. 1918 erfahren wir: „Versetzt [ist]… Mirauer, bisher in Insterburg, als Vorstand des Eisenbahn-Maschinenamts nach Nordhausen“. Mirauer ist jetzt Regierungs- und Baurat, wie uns wiederum die „Zeitschrift für Bauwesen“ mitteilt. Von Nordhausen wird er 1920 versetzt nach Paderborn als „Vorstand eines Werkstättenamtes bei der Eisenbahnhauptwerkstätte 1 Hbf daselbst“. Von dort ging es offenbar nach Münster in Westfalen, denn 1925 meldet „Die Bautechnik“, Mirauer sei von Münster als Mitglied zur Reichsbahndirektion in Oppeln versetzt worden. In Oppeln wohnt er in der Bismarckstraße 2 und ist bereits Reichsbahnoberrat.

Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 beeilten sich die Nationalsozialisten, jüdische Beamte zu entlassen. Ausnahmen waren allerdings Frontkämpfer und schon im August 1914 Verbeamtete. Beides traf auf Paul zu, er hatte 1916 sogar das Eiserne Kreuz Klasse II erhalten. Paul Mirauer verließ 1933 Oppeln, um noch zwei Jahre in Halle a.d.Saale zu sein. Mit der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 wurden schließlich alle jüdischen Beamten entlassen. Nicht alle bekamen ein Ruhegeld, und auch das wurde für Juden 1938 reduziert.

1936 kehrte Paul nach Berlin zurück. Er hatte das Haus seiner Eltern, beide inzwischen verstorben, zur Hälfte mit seiner verwitweten Schwester Rosa Cassel geerbt. Den Grünen Weg, der 1926 nach dem SPD-Politiker in Paul-Singer-Straße umbenannt worden war, hatten die Nationalsozialisten gleich 1933 in Brauner (!) Weg umgetauft, den ganzen Bezirk Friedrichhain in Horst-Wessel-Stadt. Pauls elterliche Wohnung wurde von Rosa mit ihrer Tochter Margot bewohnt, nach deren Heirat (vermutlich 1939) wohnte dort auch ihr Ehemann, der Musiker Fritz Buonaventura. Paul wohnte zur Untermiete, zunächst in Schöneberg und spätestens ab Mai 1939 in der Babelsberger Straße 6.

Die Entlassung aus dem Staatsdienst war bei weitem nicht die einzige judenfeindliche Maßnahme. Eine Fülle von antisemitischen Verordnungen zielte darauf, nicht nur das Berufs- sondern auch das Alltagsleben von Juden unerträglich zu machen, um sie zur Auswanderung zu treiben. Andererseits wurde gerade Emigration durch andere Auflagen immer schwieriger gemacht, bis sie im Oktober 1941 ganz verboten wurde. Ohnehin war es nach Kriegsbeginn kaum noch möglich, Auswanderervisa zu bekommen. Die Nationalsozialisten wechselten zu einer anderen, viel perfideren Strategie: die Deportationen.

Der erste Deportationszug aus Berlin verließ den Bahnhof Grunewald am 18. Oktober 1941 mit dem Ghetto Lodz als Ziel. Pauls Schwester Rosa, deren Tochter Margot mit dem 1-jährigen Uri und Margots Ehemann gehörten zu den 1013 Insassen dieses Zuges. Über ihre Abholung schrieb nach dem Krieg Rosas Sohn Fritz Cassel mit Bitterkeit: „…als meine Mutter und meine Schwester mit meinem 1 Jahr alten Neffe im Oktober 1941 nach Polen verschleppt wurden, wurde in der gleichen Nacht das Grundstück Grüner Weg 36 [damals Brauner Weg], das 60 Jahre in Familienbesitz war, beschlagnahmt. Am kommenden Tag wurde die Einrichtung versteigert, die ehemaligen Mieter stürzten sich wie Geier auf jedes Stück. Dann kam der Herr welcher das Protokoll aufnahm: in der gut eingerichteten 5-Zi-Wohnung hätten sich Werte für 75 RM befunden, wurde von 2 Zeugen unterschrieben, und damit basta. Der nächste bitte.“

Paul Mirauer erhielt die Deportationsbenachrichtigung im nächsten Jahr, Anfang Oktober 1942. Er hatte bis dahin in der Babelsberger Straße 6 zur Untermiete bei Hermann Löwenstein gewohnt. Dieser hatte sich bereits im Dezember 1941 das Leben genommen, seine Frau Alice war im Mai 1942 untergetaucht. In der Wohnung blieben als Untermieter Paul Mirauer und Hugo Bendix. Letzterer wurde einen Monat vor Paul von der Gestapo „abgeholt“. Die obligate „Vermögenserklärung“, die der Deportation vorausging, füllte Paul Mirauer gewissenhaft aus. Er sei Reichsbahnoberrat a. D. und ehrenamtlicher Helfer bei der Jüdischen Kultusvereinigung ohne Entgelt. Wohl als solcher wurde er bei der späteren Deportation als „Ordner“ eingesetzt. Die Auflistung seiner noch verbliebenen Habe zeugt noch von besseren Tagen: er gibt u.a. an: eine Schreibmaschine (die er eigentlich laut Verordnung schon im Juni 1942 hätte abgeben müssen), ein Frack, ein Smoking, eine weiße Weste, ein Gehrock, ein Straßenanzug, eine Sportbekleidung, 5 Oberhemden, 3 Herrenhüte, 2 Paar Schuhe. Auch sein Vermögen rechnet er penibel ab: Von den ihm nach allen Sonderabgaben verbliebenen 3250 RM habe er die ihm erlaubten monatlichen 200 zum Lebensunterhalt abgezogen, die restlichen 3050 seien für den „Heimeinkauf“ an die Jüdische Kultusgemeinde gegangen, Saldo: 0.

Juden, die wie Paul in das „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert werden sollten, nötigte man, sofern sie noch Geld hatten, einen Heimeinkaufsvertrag mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zu schließen. Darin wurde ihnen lebenslange kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und Krankenversorgung zugesagt – blanker Hohn in Anbetracht der tatsächlichen elenden Verhältnisse, die sie erwarteten. Verfügen konnte die Reichsvereinigung allerdings über Vermögenswerte, die sie auf diesem Weg erhielt, nicht, und sie fielen später dem Reichssicherheitssamt zu.

Der Betrag für den „Heimeinkauf“ wurde auf ein Lebensalter von 85 Jahren berechnet. Dieses Alter zu erreichen hatte der 68 Jahre alte Paul nicht den Hauch von einer Chance. Am 20. November 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert, schon 10 Tage später, am 1. Dezember 1942 starb er, offiziell am Durchbruch eines Darmgeschwürs. Die eigentlichen Ursachen für seinen Tod dürften in Hunger, Kälte und katastrophaler Hygiene während des „Transports“ und in seiner Unterkunft, das Gebäude B IV Zimmer 177, liegen.

Pauls Schwester Rosa Cassel starb am 20. Mai 1942 im Ghetto Lodz, letztlich auch an den nicht minder menschenunwürdigen Lebensbedingungen dort. Der kleine Uri war diesen Verhältnissen schon am 11. April erlegen, Margot, Pauls Nichte, überlebte lediglich bis 3. September. Ihr Mann, Fritz Buenaventura, wurde kurz danach, am 10. September 1942 von Lodz in das Vernichtungslager Kulmhof verschleppt und dort umgebracht. Von Pauls beiden Neffen überlebte nur Fritz Cassel, der mit seiner Frau Charlotte im April 1943 in die Illegalität gegangen war. Heinz Cassel dagegen wurde am 29. Oktober 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Hugo Bendix, Pauls Mit-Untermieter in der Babelsberger Straße 6, wurde am 19. Oktober 1942 nach Riga deportiert und dort auf Ankunft ermordet.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Adressbuch Oppeln; Adressbuch Danzig; Landesarchiv Berlin; Eisenbahn- und Bauzeitschriften; Todesfallanzeige: https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/90077-mirauer-max-paul-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/

Recherchen/Text: Micaela Haas

Stolperstein Helene Brasch, Foto: KHMM

Stolperstein Helene Brasch, Foto: KHMM

HIER WOHNTE
HELENE BRASCH
GEB. MEYER
JG. 1866
DEPORTIERT 16.7.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 24.3.1943

gespendet von Sky Vanderlinde (USA)

Helene Brasch war die zweite Tochter vom Emil Meyer und Ottilie geb. Placzek und erblickte am 20. Mai 1866 in Körlin, Pommern (heute Karlino) das Licht der Welt. Ihre ältere Schwester Lina war 1860 geboren worden, die jüngere, Wanda, 1869. Vielleicht hatte sie auch noch mehr Geschwister. Als sich Lina 1882 mit Siegfried Elster verlobte, lebte die Familie bereits in Berlin in der von-der-Heydt-Straße 4. Emil Meyer ließ sich ins Adressbuch als Rentier eintragen. Drei Jahre später heiratete Helene am 20. Mai 1885 Julius Brasch (mehrfach auch Israel, Julius Israel oder Julius Isidor genannt). Julius Brasch betrieb ein Nutzholzgeschäft in der Friedrichstraße 12.

Das Paar bezog eine Wohnung am Tempelhofer Ufer 16a. Dort wurde am 2. Januar 1886 die Tochter Hertha Johanna geboren. Am 29 Januar 1889 folgte Käthe Rika und am 24. März 1890 der Sohn Willy Hermann. Zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie möglicherweise schon in der Kreuzbergstraße 15, und Julius führte inzwischen das Geschäft zusammen mit seinem Bruder Adolf in der Belle-Alliance-Straße 99. Um 1895 gab er die Firma auf und ist im Adressbuch nur noch als Kaufmann bezeichnet. 1904 waren Braschs in die Heilbronner Straße 31 gezogen. Drei Jahre später heiratete Hertha, die älteste Tochter, den Kaufmann Martin Bloch und zog nach Stettin. Noch in der Heilbronner Straße starb am 16. August 1909 Helenes Mann Julius. Wohl daraufhin nahm sich Helene eine vermutlich kleinere Wohnung in der Haberlandstraße 6, musste aber schon bald einen weiteren schmerzhaften Verlust beklagen: Am Weihnachtstag 1910 starb ihr Sohn Willy, gerade mal 20-jährig. Als sieben Jahre später auch ihre Mutter starb, lebte Helene schon einige Jahre – seit 1912 – mit ihrer Tochter Käthe in der Babelsberger Straße 6. Auch dieses Kind sollte sie bald verlieren: Am 14. Juni 1919 wurde Käthe tot aufgefunden, das Sterberegister vermerkt „die Verstorbene wurde am 13. Juni nachmittags 8 Uhr zuletzt lebend gesehen“ und „Tag und Stunde des eingetretenen Todes konnten nicht festgestellt werden“. Die Todesursache offenbar auch nicht, die Meldung machte „der Polizeipräsident in Berlin-Schöneberg“.

Über Helenes Leben in den 20er Jahren wissen wir wenig. Sie wohnte weiterhin in der Babelsberger Straße als Rentiere oder Privatiere, was bedeutet, dass sie nicht für ihren Unterhalt arbeiten musste. Es waren wohl auch noch andere Verwandte in Berlin. Ein Ludwig Meyer, vielleicht ein Vetter oder auch ein Bruder, hatte 1905 den Tod Julius Braschs gemeldet. 1931 ließ sich ihre Tochter Hertha mit ihrem Mann und der eigenen Tochter Margot wieder in Berlin nieder.

Ab 1933 wurde das Leben für Juden und somit auch für Helene immer schwerer, nach und nach wurden sie aller Rechte beraubt, Antisemitismus wurde offiziell propagiert. Vor allem nach den Pogromen vom November 1938 wurde ihr Berufs- und Alltagsleben brutal eingeschränkt. Juden durften nicht Theater, Konzerte, Kinos u.ä. besuchen, zu bestimmten Zeiten durften sie gar nicht mehr auf die Straße, und sie durften nur von 4 bis 5 Uhr nachmittags einkaufen. Alle Wertgegenstände mussten sie abliefern, Rundfunkgeräte wurden beschlagnahmt, Telefonanschlüsse gekündigt. Über ihr Vermögen konnten sie nicht frei verfügen, Bankkonten wurden zu „Sicherheitskonten“ erklärt, von denen sie nur festgelegte Beträge für ein Existenzminimum abheben konnten. Ab September 1939 mussten sie den diskriminierenden gelben Stern tragen, „gut sichtbar“. Das Mieterrecht wurde für Juden aufgehoben, sie wurden gezwungen umzuziehen, um Platz für Nichtjuden zu machen, oder genötigt Untermieter aufzunehmen. Bei Helene wurde die Witwe Margarete Happ einquartiert. Im Oktober 1941 begannen die Deportationen.

Im Juli 1942 wurde auch Helene von der Gestapo in das Sammellager Große Hamburger Straße 26, ein umfunktioniertes jüdisches Altersheim, verbracht und von dort am 16. Juli nach Theresienstadt deportiert.

Theresienstadt, angeblich ein „Altersghetto“, war praktisch ein Durchgangslager, in dem die katastrophalen Lebensumstände – Hunger, Kälte, Raumnot, Krankheiten und Seuchen durch Fehlen jeglicher Hygiene – die Menschen dahinrafften. Nachdem es Helene gelungen war, den strengen Winter zu überleben, erlag auch sie den erbärmlichen Bedingungen am 24. März 1943. Vier Wochen später wäre sie 77 Jahre alt geworden.

Helenes Tochter Hertha Bloch und deren Tochter Margot wurden am 29. November 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Helenes Schwiegersohn Martin Bloch war bereits 1937 gestorben. Für Hertha und Margot liegen Stolpersteine vor der Ruhlaer Straße 24 in Wilmersdorf.

Helenes älteste Enkelin Gerda, auch Herthas Tochter, hatte in Hamburg gelebt. Sie und ihr Mann waren in die Niederlande mit ihren zwei Kindern geflohen, ein drittes kam dort zur Welt. 1936 starb ihr Mann. Nach der deutschen Besatzung tauchte Gerda mit ihren drei Söhnen unter, zwei wurden jedoch gefasst, nach Auschwitz deportiert und ermordet. Gerda und ihr ältester Sohn konnten überleben.

Ludwig Meyer, auch Lupu genannt und am 10. Juni 1878 wie Helene in Körlin geboren, vermutlich ihr Bruder oder Vetter, – er hatte 1905 den Tod von Julius Brasch gemeldet – wurde noch am 13. Oktober 1944 nach Theresienstadt deportiert. Er starb dort wenige Tage vor Kriegsende am 23. April 1945. Seine nichtjüdische Frau Theresia und sein „halbjüdischer“ Sohn Uri konnten wahrscheinlich überleben.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Stolperstein und Biographie Helene Bloch https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/stolpersteine/artikel.706639.php.

Recherchen/Text: Micaela Haas

Stolperstein Emmy Davidsohn, Foto: KHMM

Stolperstein Emmy Davidsohn, Foto: KHMM

HIER WOHNTE
EMMY DAVIDSOHN
JG. 1873
DEPORTIERT 16.6.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 19.9.1942
TREBLINKA

gespendet von Sky Vanderlinde (USA)

Emmy Gertrud Davidsohn wurde in Königsberg, heute Kaliningrad, am 12. Juni 1873 geboren. Sie war die Tochter des Kaufmannes Moritz Davidsohn und seiner Frau Emma geb. Rosenberg. Als Emmy auf die Welt kam, wohnte die Familie in der Fließbrückenstraße 2b. Emmy hatte zwei ältere Brüder, Josef, Jahrgang 1870 und Max, 1872 geboren. Moritz Davidsohn betrieb mit seinem Partner Gustav Jacoby ein Getreide- und Wolle-Kommissionsgeschäft. Als Moritz Davidsohn 1901 starb, wohnte die Familie wohl schon länger am Nachtigallensteig 13.

Max Davidsohn Adressbuch Königsberg, 1901

Max Davidsohn Adressbuch Königsberg, 1901

Den Tod von Moritz meldete sein Sohn Josef, inzwischen Gerichtsassessor in Sensburg (heute polnisch Mrągowo). Später sollte er nach Allenstein (heute Olsztyn) ziehen. Emmys Bruder Max blieb in Königsberg und hatte ein „Pianofortemagazin“, ein Klavier- und Pianofortegeschäft nebst Reparaturwerkstatt. Musikalisch sollte auch Emmys Werdegang sein: Sie machte Klavierspielen zu ihrem Beruf. Unklar ist, ob sie als Konzertpianistin auftrat oder ob sie Klavierunterricht gab – oder beides.

1897, an ihrem 24. Geburtstag, hatte sich Emmy Davidsohn in der Evangelischen Kirche Königsberg christlich taufen lassen. In Königsberg lebte sie weiterhin am Nachtigallensteig 13. Im Berliner Adressbuch findet man Emmy Davidsohn erstmalig 1918 mit einer eigenen Adresse. Wir wissen nicht, ob sie erst 1917 nach Berlin zog – also noch vor der Abtrennung Ostpreußens durch den „polnischen Korridor“ 1919 – oder schon früher in Berlin zur Untermiete wohnte. Sie bezeichnete sich nicht als Pianistin sondern als Privatiere, das bedeutet, dass sie von ihrem Vermögen leben konnte. Nachdem sie kurz in der Barbarossastraße 14 gewohnt hatte, zog sie bereits 1918 in die Babelsberger Straße 6, Gartenhaus 2. Stock.

Emmy gab später an, von Beruf sei sie ursprünglich Pianistin, habe es aber aufgeben müssen „infolge meines schlimmen gichtischen Leidens“. Ab wann sie nicht mehr Klavier spielen konnte, bleibt offen, im Adressbuch ist sie weiterhin als Privatiere eingetragen. Emmy Davidsohn blieb ledig. Als 1933 die Nationalsozialisten die Regierung übernahmen, wurde sie 60 Jahre alt. Die ersten antisemitischen Maßnahmen betrafen sie wohl nicht direkt, sie wird sich vermutlich als christlich Getaufte in Sicherheit gefühlt haben. Doch spätestens nach Erlass der Nürnberger Gesetze von 1935 musste sie erkennen, dass sie für die Nazis trotz Taufe als „Volljüdin“ galt.

Dies machte sich vor allem nach den Pogromen vom 9./10. November 1938 bemerkbar. Schon vorher hatten Juden ihr gesamtes Vermögen anzuzeigen, besondere Kennkarten zu beantragen und ihrem Namen den Zusatz „Sara“ oder „Israel“ beizufügen. Noch 1938 wurden neben Berufseinschränkungen und -verboten „Judenbannbezirke“ angeordnet, d. h. Juden durften in bestimmten Straßen sich nicht öffentlich zeigen, sie durften keine Theater, Museen, Kinos, Konzert- und Vortragsräume u.ä. besuchen, auch keine Badeanstalten und Sportplätze. Im Februar 1939 folgte die Anordnung, alle Gold-, Silber- und andere Wertgegenstände abzugeben, ausgenommen waren „Trauringe, silberne Armband- und Taschenuhren und zwei vierteilige – gebrauchte – Essbestecke je Person“. Im April des Jahres wurde das Mietrecht für Juden gelockert, im September 1940 wurde es ganz außer Kraft gesetzt, was zur Folge hatte, dass Juden ihre Wohnungen aufgeben mussten und bei anderen Juden zwangseingewiesen wurden, um so Wohnraum für Nichtjuden frei zu machen. Emmy musste eines ihrer zwei Zimmer an Paul und Thekla Zielkowsky abgeben. Ab September 1939 gab es eine Ausgangssperre für Juden – im Sommer nach neun Uhr und im Winter nach acht Uhr abends – und im Oktober wurden alle Radiogeräte beschlagnahmt, entschädigungslos, versteht sich. Ab Dezember mussten Juden ihre Lebensmittelkarten zu bestimmten Zeiten an besonderen Kartenstellen abholen. Im Juli 1940 beschränkte man die Einkaufszeiten für Juden auf eine Stunde, von vier bis fünf Uhr nachmittags, außerdem wurden alle Telefonanschlüsse gekündigt. Im September desselben Jahres verfügte man, dass Juden nicht einen Luftschutzraum zusammen mit Nichtjuden benutzen dürften. Ab 19. September 1941 waren sie gezwungen, den Judenstern zu tragen, ihre Wohngemeinde durften sie nicht ohne polizeiliche Erlaubnis verlassen. Juden wurden nach und nach zur Zwangsarbeit herangezogen, möglicherweise Emmy Davidsohn nicht, da sie schon über 60 war. Im Dezember 1941 wurde den Juden auch verboten öffentliche Telefone zu benutzen, im Januar 1942 mussten sie alle Pelz- und Wollsachen abliefern. Drei Monate später hatten nun auch jüdische Wohnungen durch einen Papierstern gekennzeichnet zu sein, im Mai wurde Juden die Nutzung sämtlicher öffentlicher Verkehrsmittel verboten, außerdem die Haltung von Haustieren. Im Juni wurde die Ablieferung aller elektrischer Geräte sowie Schreibmaschinen verfügt.

Weitere Demütigungen, Schikanen und Diskriminierungen sollten noch folgen, doch Emmy erlebte sie nicht mehr. Im Juli 1942 wurde sie Opfer der einschneidendsten antijüdischen Maßnahme: die im Herbst 1941 begonnenen Deportationen. Emmy Davidsohn musste Anfang Juli die „Vermögenserklärung“ ausfüllen, die allen unmittelbar vor der Deportation zugestellt wurde. Aus ihr erfahren wir, dass ihr Bruder Josef am 30. Januar 1942 in einem Altenheim in Allenstein gestorben war. Emmy und ihr Bruder Max in Königsberg waren die Erben, Emmys Anteil betrug 738.69 RM. Dieses Geld hat Emmy nie gesehen, obwohl die Commerzbank beteuert, es ihr im Juni 1942 überwiesen zu haben. Emmy hatte nur noch 20 RM Bargeld, sie war Wohlfahrtsempfängerin. Unterschrieben hat sie die Vermögenserklärung am 6. Juli. Etwa eine Woche später wurde sie in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 gebracht, am 14. Juli teilte man ihr offiziell mit, dass ihre gesamte Habe „dem Reich verfalle“, natürlich auch Josefs Erbe. Aus nicht bekannten Gründen gelang diese Ausplünderung nicht ganz. Von den 738.69 RM, die direkt an die Oberfinanzdirektion überwiesen werden sollten, kamen lediglich 40.57 dort an. Ein reger Briefwechsel folgte, um den Verbleib der Differenz zu klären – ohne Erfolg. Im letzten Brief in dieser Akte mit Datum 15. Januar 1945 wird immer noch um Aufklärung ersucht.

Zu diesem Zeitpunkt lebte Emmy Davidsohn bereits seit über zwei Jahren nicht mehr. Sie war am 16. Juli 1942 mit 99 weiteren Opfern vom Anhalter Bahnhof aus nach Theresienstadt deportiert worden. Auch ihre Nachbarin Helene Brasch war in diesem Zug, vielleicht konnten sich beide gegenseitig etwas Trost spenden. In Theresienstadt war Emmy verheerender Raumnot, Hunger und katastrophalen Hygienebedingungen ausgesetzt. Es kam noch schlimmer: Am 19. September 1942 wurde sie, eingepfercht in einem Zug mit 2000 Menschen, in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt. Nur eine Person überlebte, alle anderen, auch Emmy Davidsohn, wurden ermordet, das genaue Datum ihres Todes wissen wir nicht.

Wenige Wochen nach Emmy wurde ihr Bruder Max Davidsohn am 25. August 1942 mit einem aus Tilsit kommenden Zug von Königsberg nach Theresienstadt deportiert. Auf dem Weg dorthin wurden noch weitere Menschen in die Waggons gezwungen, bei Ankunft waren es 763. Ob sich Emmy und Max in den wenigen Tagen zwischen Maxens Ankunft am 27. August und Emmys Weiterdeportierung am 19. September gesehen haben, ist bei den im Lager herrschenden chaotischen Unterbringungsumständen ungewiss: Über 50000 Menschen hausten in einem Gebiet, dass ursprünglich für 7000 gedacht war. Aber auch Max wurde wenige Tage nach Emmy, am 23. September 1942 mit 1979 weitern Opfern – darunter zwei Schwestern von Sigmund Freud – nach Treblinka zwangsverbracht. Von diesem „Transport“ überlebte ebenfalls ein einziger Mensch – Max Davidsohn war es nicht.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Adressbücher Königsberg; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Landesarchiv Berlin; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005;

Recherchen/Text: Micaela Haas