HIER WOHNTE
JENNY FINKEL
JG. 1882
DEPORTIERT 18.10.1941
LODZ / LITZMANNSTADT
ERMORDET 9.5.1942
CHELMNO / KULMHOF
Jenny Finkel kam in der Stadt Posen am 15. Juni 1882 zur Welt. Da im Posener Adressbuch dieses Jahres nur der Uhrmacher Joseph Finkel verzeichnet ist, dürfte das Jennys Vater gewesen sein. Er lebte mit seiner Frau Henriette geb. Munk in der Friedrichstraße 31, im Parterre hatte er seinen Laden. Joseph und Henriette hatten 1877 in Stettin geheiratet, wo Henriette, auch Jette genannt, damals wohnte, wiewohl auch sie aus Posen stammte. Da es weiterhin nur eine Familie Finkel in Posen gab, sind die danach in Posen geborenen Personen sehr wahrscheinlich Geschwister von Jenny gewesen sein. Wir wissen von Max, 1878 geboren, Theodor 1880 und Ludwig 1885. Nur für Theodor ist nachweisbar, dass auch er Josephs Sohn war. Ob Jenny auch Schwestern hatte, bleibt unbekannt.
Um 1901 ist vermutlich Joseph Finkel gestorben, denn im Adressbuch ist er nicht mehr aufgeführt, wohl aber Henriette, jetzt wohnhaft in der Sankt-Martin-Straße 67. Sicherlich wohnte auch Jenny dort, Theodor war bereits mit 15 Jahren nach Berlin in eine Handelslehre gegangen. In späteren Jahren hat auch Max Finkel einen eigenen Eintrag mit der gleichen Adresse, Berufsbezeichnung „Agenturen“, und 1917 finden wir an Stelle von Henriette „Jenni Finkel, Buchhalterin“. Offenbar war die Mutter nun auch verstorben und Jenny – oder Jenni – hatte eine Buchhalterausbildung gemacht.
Kein Finkel ist nach dem Ersten Weltkrieg mehr in Posen registriert. Infolge des Großpolnischen Aufstandes im Dezember 1918 wurden die Stadt Posen und Teile der Posener Provinz an Polen angegliedert. Sehr viele Deutsche verließen daraufhin die Stadt, so wohl auch Jenny. Ludwig wohnte bereits als Pianist und Chordirigent schon seit 1913 in Hamburg, Max finden wir in späteren Jahren in Breslau und Jenny wählte vermutlich Berlin, da dort ihr Bruder Theodor als Prokurist einer Getreidehandelsfirma lebte. Er wohnte in der Niebuhrstraße 58 und es ist gut denkbar, dass sie bei ihm unterkam, denn sie steht nicht im Adressbuch mit einer eigenen Anschrift. Vielleicht konnte Theodor ihr auch eine Arbeit in seiner Firma vermitteln.
Jenny Finkel finden wir erst wieder 1939, in den „Ergänzungskarten“ zur Volkszählung vom 17. Mai, bei der Juden separat erfasst wurden. In den Ergänzungskarten wurde registriert, wer wie viele jüdische Großeltern hatte. Obwohl das Statistikgeheimnis zugesichert wurde, kann man sich denken, dass diese Kartei für die Judenverfolgung missbraucht wurde, z.B. bei der Zwangsverpflichtung zur Arbeit. Für die Vorbereitungen der Deportationen wurde die Kartei allerdings zu spät ausgewertet. Jenny wohnte an dem Stichtag zur Untermiete in der Giesebrechtstraße 5, unklar bleibt bei wem. Wir wissen auch nicht, ob sie zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde, dokumentiert ist aber, dass sie zu den ersten Deportierten aus Berlin gehörte. Mitte Oktober 1941 musste sie sich in die Sammelstelle Levetzowstraße 7-8 begeben, eine auf Geheiß der Gestapo umfunktionierte Synagoge und am 18. Oktober mit über 1000 Leidesgenossen zum Bahnhof Grunewald gehen. Bei strömendem Regen wurden
Schwache und Kranke in offenen Lastwagen dorthin transportiert, alle anderen mussten zu Fuß durch die ganze Stadt zum Bahnhof marschieren. Am Gleis 17 wartete auf sie der Zug, der sie nach Lodz, von den Nazis in Litzmanstadt umbenannt, transportieren sollte. Es war der erste Deportationszug aus Berlin.
Das Ghetto Lodz war 1940 durch die deutschen Besatzer von der polnischen Industriestadt abgetrennt und mit Stacheldraht umzäunt worden. Etwa 160 000 Juden aus Lodz wurden in die bereits heruntergekommenen und insbesondere im Sanitärbereich äußerst ärmlich ausgestatteten Häuser gepfercht. Im Herbst 1941 kamen noch weitere 20 000 Juden aus dem „Altreich“ in das völlig überfüllte Ghetto. Die Lebensbedingungen im Ghetto waren katastrophal. Keine Heizung, keine Toiletten, keine Betten, weitgehend mussten die Menschen auf Strohsäcken oder dem nackten Boden in Massenunterkünften schlafen, die Ernährung war völlig unzureichend. Hunger, Kälte, Erschöpfung und Krankheiten rafften viele Leute dahin. Für arbeitsfähig gehaltene Menschen mussten Zwangsarbeit vor allem in Munitionsfabriken und Uniformschneidereien leisten. Jenny Finkel wurde in ein Zimmer im Bleicherweg 6 „eingesiedelt“, wie die verschleiernde offizielle Bezeichnung hieß. Im Ghetto konnte sie
vielleicht noch ihren Bruder Ludwig Finkel treffen. Er war kurz nach Jenny am 25. Oktober mit seiner Frau, der Pianistin Marianne geb. Belmonte, von Hamburg aus ebenfalls nach Lodz deportiert worden. Ludwig betätigte sich im Ghetto Lodz auch als Chordirigent.
Viele Menschen starben an den fatalen Lebensverhältnissen im Ghetto, aber Jenny überlebte den harten Winter. Am 9. Mai 1942 jedoch wurde sie weiterdeportiert in das Vernichtungslager Kulmhof und dort auf Ankunft ermordet.
Auch die drei bekannten Brüder Jennys kamen in der Shoa um. Ludwig starb im Ghetto Lodz noch vor Jennys Weiterdeportation am 17. April 1942, Marianne Finkel kurz danach, am 25. Mai. Max Finkel wurde von Breslau aus am 13. April 1942 in das Lager Izbica bei Lublin verschleppt und kam nicht zurück. Theodor Finkel und seine Frau, die Hamburgerin Magda geb. Bruch, waren schon am 19. Januar 1942 nach Riga deportiert worden und sind dort umgekommen.
Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Posener Adressbücher; Adressbücher Hamburg und Breslau; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005
Recherchen/Text: Micaela Haas