In der Pfalzburger Straße 10 (heute 10a) lebte von Oktober 1914 bis November 1942 die jüdische Familie Kreindler. Anfang Oktober 1914 waren die im Jahr zuvor verwitwete Lea (Lina) Kreindler, geb. Eisner, und ihre Kinder Leo, Pinkus, Klara Chaja und Paul aus der Schwedter Straße im Berliner Norden in dieses Haus gezogen. Nach dem 20. November 1942 gab es in der Pfalzburger Straße 10 keine Kreindlers mehr. Kurze Zeit später notierte die Gestapo: “Wohnung verschlossen und versiegelt. Schlüssel in versiegeltem Briefumschlag beim Hausmeister”.
Lea Kreindler, die Mutter der vier Geschwister, war schon Ende 1936 nach einer Grippe gestorben und neben Abraham Kreindler, ihrem bereits 1913 im Alter von 50 Jahren verstorbenen Ehemann und Vater der Kinder, auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee begraben worden. Auf Leas stattlichem Grabstein, der, wie auch der gleichartige Grabstein Abrahams in dem Doppelgrab, mit hebräischen und deutschen Inschriften versehen ist, lesen wir die Widmung der Geschwister: “Hier ruht nach einem Leben / Voller Arbeit und Mühen / im Dienste ihres Hauses / und ihrer Kinder, unsere Mutter.” Auf Abrahams Grabstein hatte Lea gut zwanzig Jahre zuvor eingravieren lassen: “Er war mir ein treuer Mann, / Meinen Kindern ein sie / über alles liebender Vater.”
Der Kaufmann Paul Kreindler, der noch 1931 in der Pfalzburger Straße verzeichnet war, konnte vermutlich emigrieren und dem nationalsozialistischen Terror entkommen, dem seine drei Geschwister in den Jahren 1942 bis 1944 zum Opfer fielen – von ihm haben wir keine weiteren Spuren.
Leo Kreindler starb am 19. November 1942 bei einem “Appell” der Gestapo in den Räumen der Jüdischen Gemeinde. Zu diesem Zeitpunkt waren Klara Chaja und Pinkus Kreindler noch am Leben. Pinkus lebte allerdings schon seit gut vier Monaten nicht mehr bei seiner Familie in Berlin, sondern im Ghetto Theresienstadt, wohin er im Sommer 1942 deportiert worden war; dort überlebte er seinen Bruder Leo um fast zwei Jahre, bevor er am 19. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und im Alter von 56 Jahren ermordet wurde. Klara starb dagegen nur wenige Stunden nach Leo: Sie nahm sich am Tag nach seinem Tod im Alter von 49 Jahren das Leben – wohl wissend, dass ihrer Deportation nun nichts und niemand mehr im Wege stand. Am 11. Dezember 1942 wurden Leo und Klara, wie ihre Eltern, auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee in zwei Grabstellen beigesetzt – anders als Abraham und Lea aber ohne Epitaph in einer Reihe von mehreren schmalen, namenlosen “Rasenhügeln”.
Die Familie Kreindler lebte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Berlin. Sie hatte im Jahr 1898 ihre Heimatstadt Kolomea (heute Ukraine) verlassen, wo die Geschwister in den 1880er und 1890er Jahren zur Welt gekommen waren: Leo am 23. September 1886, Pinkus am 27. August 1888 und Klara Chaja am 17. März 1893 – Pauls Geburtsdatum kennen wir nicht. Das ostgalizische Residenzstädtchen Kolomea, damals Teil der Habsburgermonarchie, hatte einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil – um 1900 betrug er fast die Hälfte. Die Kreindlers waren mit ihrer Auswanderung nicht allein – wie sie verließen zu jener Zeit viele Juden aus Galizien das von Armut und Pogromen geplagte Kronland.
In Berlin wohnten die Kreindlers zunächst in verschiedenen Unterkünften im Norden der Stadt – in der Kastanienallee, Choriner Straße und Schwedter Straße -, bevor sie im Oktober 1914 nach Wilmersdorf in die Pfalzburger Straße zogen. Die Berliner Anfänge der Familie waren vermutlich alles andere als leicht. Der Vater, Abraham Kreindler, starb 1913, erst 50jährig, an der “Lungenschwindsucht”. Sein Beruf wird in den Berliner Adressbüchern zunächst als “Reisender” angegeben, dann als “Stadtreisender” und schließlich ab 1906 als “Kaufmann” – in den Anfangsjahren ist er also wohl mit Handelswaren über Land gezogen und dann in Berlin von Haus zu Haus, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten.
Angesichts dieser eher bescheidenen Herkunft erscheint Leo Kreindlers berufliche Entwicklung zum “Privatbeamten” der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, in leitende Funktionen dieser und anderer jüdischer Institutionen sowie zum vielbeschäftigten Journalisten und leitenden Redakteur verschiedener jüdischer Zeitungen als bemerkenswerter Aufstieg. Der Zwölfjährige, der bereits in Kolomea zur Schule gegangen war, besuchte in Berlin zunächst die 153. Gemeindeschule in der Zehdenicker Straße 17 (heute John-Lennon-Gymnasium) und dann die 10. Städtische Realschule in der Auguststraße 21. Nach eigenen Angaben trat er am 1. Februar 1905 in den Dienst der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der er fast 37 Jahre treu blieb. Hier brachte er es bald vom angestellten Büroassistenten zum beamteten Gemeindesekretär.
Gut denkbar, dass es sich bei dem “Privatbeamten” und ersten Vorsitzenden des Sport-Clubs 1901 Léon Kreindler, der in den Berliner Adressbüchern von 1909 und 1910 plötzlich neben Abraham Kreindler unter der Familienadresse in der Schwedter Straße 24 erscheint, um den jungen Leo Kreindler handelt, dem mit der Festanstellung der erste große Schritt in ein bürgerliches Leben gelungen scheint. Schon in den hoffnungsvollen 1910er und 1920er Jahren arbeitete Leo als Journalist und Schriftsteller. So gab er ab 1912 eine “Feuilletonkorrespondenz für deutsche Zeitungen” heraus oder schrieb für die Rubrik Berliner Bilderbogen der deutschsprachigen baltischen Mitauschen Zeitung. Ab 1925 fungierte er neben seiner Tätigkeit in der Gemeinde auch als Redakteur für den Berlinteil des in Hamburg erscheinenden Israelitischen Familienblatts – später wurde er, ein Jahr vor dem Verbot dieser inzwischen in Berlin herausgegebenen Wochenzeitschrift, im Jahr 1937
zu deren “Hauptschriftleiter” ernannt. Von 1928 bis 1931 stand er dem Verein “Jüdische Presse” vor.
Im Lauf der Jahre wuchsen Leo Kreindler Leitungsfunktionen in der Gemeinde, im Jüdischen Kulturbund und in der Reichsvereinigung der Juden zu. Die Gemeinde wählte ihn 1927 in ihren Vorstand und übertrug ihm Anfang der 1930er Jahre das Werbereferat und damit die Verantwortung für die Redaktion des Gemeindeblattes und die Veranstaltung von Gemeindeabenden in allen Teilen Berlins. Nach dem Verbot der eigenständigen jüdischen Presse im Jahr 1938 wurde ihm die Leitung des neugeschaffenen, dem Propagandaministerium und dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) unterstellten Jüdischen Nachrichtenblatts übertragen, als dessen verantwortlicher Redakteur er fast auf den Tag genau vier Jahre lang zeichnete – die letzte von ihm verantwortete Nummer erschien am 20. November 1942, einen Tag nach seinem Tod. Ende Januar 1942 wurde er in seiner Funktion als leitender Redakteur des Jüdischen Nachrichtenblatts in den Vorstand der Reichsvereinigung der Juden aufgenommen, nachdem der
Jüdische Kulturbund, in dessen Verlag das Nachrichtenblatt zunächst erschienen war, im September 1941 von der Gestapo aufgelöst und die Redaktion des Nachrichtenblatts der Reichsvereinigung unterstellt wurde. Im Sommer 1942 wurde ihm schließlich – nach der vom RSHA erzwungenen Entlassung des bisherigen Amtsinhabers Conrad Cohn aus den Vorständen von Reichsvereinigung und Gemeinde – auch die Leitung des Fürsorgebereichs in der Reichsvereinigung übertragen.
Die 1939 gegründete Reichsvereinigung umfasste als Zwangsorganisation alle im Reich verbliebenen deutschen Juden (mit Ausnahme derer, die in “Mischehen” lebten) und war, wie das Jüdische Nachrichtenblatt dem RSHA unterstellt; die Berliner Gemeinde blieb zwar bis Anfang 1943 neben der Reichsvereinigung als formal eigenständige Organisation bestehen – die Vorstände beider Organisationen wurden aber schon 1941 mit denselben Personen besetzt.
Die Historikerin Beate Meyer beschreibt in ihrem Buch über die Reichsvereinigung, wie die Entscheidung der jüdischen Funktionäre, nach dem Verbot der eigenständigen jüdischen Organisationen in den Zwangsorganisationen mit den Behörden zusammenzuarbeiten, sie auf eine Gratwanderung führte, die für die meisten von ihnen tödlich endete. Sie hofften anfangs, die Auswanderung der Juden fördern, die Auswirkungen der antisemitischen Maßnahmen abmildern und für eine jüdische Restgemeinschaft in Deutschland sorgen zu können. Als der NS-Staat im Herbst 1941 die Auswanderung verbot und zu systematischen Deportationen überging, beschlossen die führenden Funktionäre, Zuarbeiten zu leisten, ‘um Schlimmeres zu verhüten’. Das grundlegende Dilemma der jüdischen Funktionäre nach 1938, Hilfe für die in Deutschland verbliebenen, überwiegend armen, alten und hilfsbedürftigen Juden nur zum Preis von Hilfsdiensten für deren Verfolger und Mörder leisten zu können,
nahm spätestens mit diesem Beschluss einen tragischen Charakter an.
Am 19. November 1942 um 13:45 ließ Alois Brunner, der Anführer der Wiener Gestapobeamten, die kurz zuvor zur “Straffung des Deportationsgeschehens” nach Berlin gerufen worden waren, die Beschäftigten der Fürsorgeabteilung für 15:30 Uhr zum “Appell” in die Oranienburger Straße 29 einbestellen und forderte bei der Versammlung Leo Kreindler auf, die Hälfte seiner 132 erschienenen Mitarbeiter zur Deportation auszuwählen. Für Leo Kreindler war damit die Grenze des Ertragbaren überschritten – um 16:50 brach er mit einem Herzanfall zusammen und starb. Seinem Tod waren vier Jahre vorausgegangen, in denen er – wie seine Kollegen und Mitarbeiter in den von den Nationalsozialisten kontrollierten jüdischen Organisationen – die ständigen Schikanen und Drohungen der NS-Machthaber und das in der Zusammenarbeit mit diesen angelegte Handlungsdilemma ertragen musste. So wurde er etwa im Mai 1942 mit seinen Vorstandskollegen aus der
Reichsvereinigung gezwungen, mehrere Stunden lang mit dem Gesicht zur Wand stehend auf eine Erklärung der Gestapo zu warten, als es wegen des Anschlags auf die Propagandaausstellung “Sowjetparadies” und des Attentats auf den RSHA-Chef Reinhard Heydrich zu Massenerschießungen von Juden gekommen war.
In der Redaktion des Nachrichtenblatts erschien fast täglich die Gestapo und drohte mit Konzentrationslager. Als leitender Redakteur hatte Leo Kreindler zweimal wöchentlich im “Büro Hinkel” des Propagandaministeriums zum Befehlsempfang anzutreten. In dieser Rolle befand er sich zudem häufig in der Schusslinie von Propagandaministerium und RSHA – das Nachrichtenblatt unterlag einerseits der Zensur durch das Propagandaministerium und unterstand andererseits dem RSHA als ‘vorgesetzter Behörde’. Der Historiker Clemens Maier schildert die Arbeit für das Nachrichtenblatt, das vom Regime vor allem zur Veröffentlichung seiner gegen die Juden gerichteten Verordnungen und Gesetze und, anfangs, auch zur Forcierung der Auswanderung benutzt wurde, als Wanderung auf einem sehr schmalen Grat: Die Blattmacher versuchten Hilfestellung für die Emigration zu geben sowie Kontakt-, Tausch- und Informationsbörse für die zunehmend isolierten und drangsalierten
Juden zu sein und befanden sich dabei doch ständig in Gefahr, zu reinen Erfüllungsgehilfen des Regimes zu werden. “Bewundernswert” fand der emigrierte Journalist Berthold Rosenthal Leo Kreindler, “den ständig mit beiden Beinen im Zuchthaus stehende(n) Schriftleiter, der nur das bringen darf, was die Gestapo gestattet oder ihm zur Veröffentlichung auferlegt.”
Im Jahr 1942 spitzte sich mit den Massendeportationen von mehr als 16 000 Juden aus Berlin und der begleitenden “Aussiebung” der jüdischen Institutionen die Situation für die jüdischen Funktionäre noch einmal dramatisch zu. Zum einen bot ihnen die ständig an Gewicht gewinnende “Zuarbeit” zu den Deportationen immer weniger Gelegenheit für den Schutz und die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung und ließ die Funktionäre von Gemeinde und Reichsvereinigung zunehmend in Gegensatz zu ihren Schutzbefohlenen geraten. So war Leo Kreindler beispielsweise im Sommer 1942 als Leiter des Fürsorgebereichs der Reichsvereinigung gezwungen, die Anstalten und Heime räumen und die ihm anvertrauten Bewohner nach Theresienstadt transportieren zu lassen. Zum andern wurden nun auch die anfangs vor Deportation geschützten Funktionäre und die zahlreichen Mitarbeiter der jüdischen Institutionen samt ihren Familienangehörigen deportiert und ermordet – um
möglichst vielen Berliner Juden diesen Schutz zukommen zu lassen, hatten Gemeinde und Reichsvereinigung möglichst viele Personen eingestellt. Die Gestapo führte ständige Razzien oder “Kontrollbesuche” in den Räumen der jüdischen Einrichtungen durch, um von den Abteilungsleitern die “entbehrlichen” Mitarbeiter für die Deportation auswählen zu lassen oder, bei Weigerung, die “Entbehrlichen” selbst zu bestimmen – dem für Leo tödlichen “Appell” im November war also ein Jahr vorausgegangen, in dem diese tragische und quälende Entscheidungssituation zum Alltag gehört hatte.
Vorausgegangen waren neben den Massendeportationen auch Tod und Deportation von Leitungskollegen aus Gemeinde und Reichsvereinigung: Ende Juni wurde Leos Vorstandskollege Arthur Lilienthal zusammen mit vielen Angestellten der Reichsvereinigung in einer “Straf-Aktion” nach Minsk deportiert; im August starb Conrad Cohn, vormals Leiter des Fürsorgebereichs und Mitglied in den Vorständen von Gemeinde und Reichsvereinigung – er war im März verhaftet und seit Juni im KZ Sachsenhausen zu Tode gequält worden; schließlich nahm die Gestapo im Rahmen der sogenannten Gemeindeaktion, die am 26. Oktober zur Deportation von 345 Gemeindemitarbeitern nach Riga führte, zwanzig führende Mitglieder der Reichsvereinigung und der Berliner Gemeinde als Geiseln für 20 Personen, die sich der Deportation entzogen hatten, und drohte ihnen mit Erschießung; sieben oder acht Geiseln wurden eine Tag nach Leo Kreindlers Tod im KZ Sachsenhausen erschossen. Zuvor, im Sommer 1942, war es
für Leo Kreindler auch zu einer privaten Tragödie gekommen, als sein Bruder Pinkus aus der gemeinsamen Wohnung in der Pfalzburger Straße in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 verschleppt und am 10. Juli vom Bahnhof Grunewald nach Theresienstadt deportiert worden war.
Nach dem Tod seines großen Bruders lebte Pinkus Kreindler in diesem Lager noch fast zwei Jahre lang, bevor er am 19. Oktober 1944 nach Auschwitz weiterdeportiert und dort ermordet wurde.
Recherche und Text: Ulrike Berger
Quellen:
Beate Meyer 2011: Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939-1945), Göttingen.
Clemens Maier 2000: Zwischen “Leben in Brasilien” und “Aus den Verordnungen”. Das Jüdische Nachrichtenblatt 1938-1943, in: Beate Meyer/Hermann Simon (Hrsg.), Juden in Berlin 1938-1945, Berlin, S. 107-127.
LAB A Pr.Br.Rep. 030-06 Nr. 12337 (“Staatsbürgerschaftsakte”); BArch R 56 I/142 (Hinkel-Karteikarte), R 1509 (Ergänzungskarten Volkszählung 1939), R 8150, Akte 478 (Nachlass Leo K.); Beerdigungs-Anmeldung vom Jüdischen Friedhof Weissensee;
BLHA A Rep. 092 Nr. 36 20423 (Vermögenserklärung etc.);
BLHA A Rep. 092 Nr. 20421, Rep. 36 A (II) Nr. 56002, Bl. 40, 41, 42; Beerdigungs-Anmeldung vom Friedhof Weißensee;
Friedhof Weißensee: Beerdigungsunterlagen und Auszüge aus Sterberegister; bei Lea zusätzlich: Benachrichtigung an den Verein der Beamten und Angestellten der Jüdischen Gemeinde durch den Gemeinde-Vorstand.