Stolpersteine Schlüterstraße 54

Hausansicht Schlüterstr. 54

Die Stolpersteine für Wilhelm und Gertrud Abramczyk, Gertrud Katzenstein, Gertrud Friedlaender, Salomo Goldstein, Paul und Otto Rathe, Selma Grünthal, Rosa Phiebig, Ida Elsbach, Charlotte Heilborn, Else Moser, Emilie Kass, Marie Lion, Erwin Nellhaus, Alice Schlesinger, Hedi Leonie Schlesinger, Juli Sahlmann und Ida Wollheim wurden am 23. September 2010 vor dem Haus Schlüterstraße 54 verlegt.

Der Stolperstein für Hermann Guttmann wurde am 28.10.2020 verlegt.

Stolperstein Wilhelm Abramczyk

HIER WOHNTE
WILHELM
ABRAMCZYK
JG. 1864
DEPORTIERT 3.10.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 19.12.1942

Wilhelm Abramczyk wurde am 9. Juli 1864 in Potsdam geboren. Wilhelm studierte Jura und war 1895 erstmals im Berliner Adressbuch eingetragen als Rechtsanwalt beim Landgericht I, mit Wohnsitz in der Leipziger Straße. Er heiratete Gertrud Arnheim, die am 22. Oktober 1877 in Berlin geboren worden war. Zur Familie gehörte Werner Abernau, der 1901 zur Welt kam. Unklar bleibt, ob er ein angenommenes Kind oder der leibliche Sohn war, der später seinen Namen änderte. In einem späteren Dokument trugen ihn Abramczyks unter der Rubrik „Familienangehörige“ ein. Eine heutige Quelle gibt an, dass Werner Abernaus Eltern Wilhelm Abernau und Gertrud, geb. Arnheim hießen (möglicherweise wurde hier einfach bei Wilhelm der gleiche Familienname wie bei Werner angenommen). Laut Adressbuch hatte Werner Abernau ab Mitte der 1920er Jahre die gleiche Wohnadresse wie Abramczyks.

1901 lebte die Familie in der Kronenstraße in Berlin-Mitte. Zwei Jahre darauf wurde Wilhelm Justizrat. Zu diesem Zeitpunkt wohnten sie bereits in der Potsdamer Straße 121a, wo sie bis 1928 blieben. Weitere acht bis zehn Jahre verbrachten sie erst in der Winterfeldstraße und dann am Hohenzollerndamm, bis sie 1936 oder 1937 in die Schlüterstraße 54 zogen. Werner Abernau, im Adressbuch als Kaufmann bezeichnet, gründete 1925 eine Firma, die sich dem Handel mit Lacken widmete, versuchte es fünf Jahre später mit „Industriebeteiligungen“ indem er Reparationslieferungen (Stahlbauteile) nach Frankreich organisierte und schließlich Industriekataloge auf Auftrag verlegte. 1933 war er letztmalig im Adressbuch verzeichnet.

Gertrud und Wilhelm Abramczyk

Gertrud und Wilhelm Abramczyk

Wilhelm Abramczyk war nach den ersten Diskriminierungsmaßnamen der Nationalsozialisten gegen jüdische Juristen 1933 in seinen beruflichen Möglichkeiten stark eingeschränkt, wenn nicht gar ganz verhindert. In der Schlüterstraße 54 fand seine Frau Gertrud eine neue Einkommensquelle: gemeinsam mit der Nachbarin Rosa Phiebig betrieb sie die Pension Phiebig, in der jüdische, meist ältere verwitwete oder alleinstehende Menschen logierten und verpflegt wurden.

Während Rosa Phiebig ihre Wohnung im 1. Stock einbrachte, vermietete Gertrud Abramczyk fast alle der 10 Zimmer ihrer Wohnung im 4. Stock. Da der Druck auf jüdische Mieter, aus ihren oft geräumigen Wohnungen auszuziehen, stetig zunahm, herrschte eine starke Nachfrage nach solchen Pensionszimmern.

Obwohl die Lebensbedingungen sowohl der Pensionäre wie der Betreiberinnen immer schwieriger wurden aufgrund der zunehmenden Zahl diskriminierender Verordnungen gegen Juden, konnte die Pension ihre beiden Betreiberinnen ernähren. Aber im September 1942 erhielten Wilhelm und Gertrud Abramczyk, wie bereits einige Pensionäre zuvor, die Aufforderung, die sogenannte „Vermögenserklärung“ auszufüllen – der Vorbote der Deportation.

Sie unterschrieben das Formular am 21. September 1942, unklar ist, ob sie es überhaupt eigenhändig ausfüllten. Zu Vermögen und Inventar machten sie keine Angaben. Zu dem „Familienangehörigen“ Werner Abernau gaben sie nur an, dass er in Holland sei. Tatsächlich war Werner schon ende 1934 emigriert, zuerst wohl in die Schweiz, 1938 nach Holland. Was seine Eltern im September 1942 vielleicht aber noch nicht wussten, war, dass er auch in Holland den NS-Häschern nicht entkommen konnte: seit 26. Februar war er im Lager Westerbork inhaftiert.

Wilhelm und Gertrud ihrerseits wurden in das Sammellager Artilleriestraße 31 (heute Tucholskystraße 40) verbracht, ein ehemaliges Gemeindehaus von Addas Jisroel, das 1942 einige Monate als Sammellager dienen musste. Von dort wurden sie am 3. Oktober 1942 mit über 1000 weiteren Opfern nach Theresienstadt deportiert. Sie wurden in Haus V Zimmer Q 713 eingewiesen.

Obwohl das Regime gerne Theresienstadt als ein Vorzeige-„Altersghetto“ darstellte, waren die Lebensumstände wenig besser als in anderen Ghettos oder Sammellagern: die Wohnräume heruntergekommen und brutal überbelegt, die Nahrung unzureichend, die hygienischen Bedingungen katastrophal. Hunger, Kälte, Krankheiten und Seuchen suchten die Bewohner heim. Gertrud Abramczyk ertrug diese Zustände nur kurze Zeit: am 30. Oktober unternahm sie einen Selbstmordversuch, um 14 Uhr des gleichen Tages starb sie in der „Krankenstube“ von Haus V, so jedenfalls registriert es die Todesfallanzeige aus Theresienstadt. Wilhelm Abramczyk überlebte seine Frau nur wenige Wochen: am 19. Dezember 1942 wurde auch er ein Opfer der Zustände in Theresienstadt, die Todesursache ist nicht bekannt.

Werner Abernau wurde bis zum 17. März 1943 im Sammellager Westerbork festgehalten und an diesem Tag in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort ermordet.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Landesarchiv Berlin; Berliner Adressbücher

Stolperstein Gertrud Abramczyk

HIER WOHNTE
GERTRUD
ABRAMCZYK
GEB. ARNHEIM
JG. 1877
DEPORTIERT 3.10.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 30.10.1942

Stolperstein Ida Elsbach

HIER WOHNTE
IDA ELSBACH
GEB. ROSENBERG
JG. 1871
DEPORTIERT 17.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 29.8.1942

Ida Elsbach wurde am 15. Februar 1871 in Hannover geboren als Ida Rosenberg, Tochter von Julius Rosenberg und Emilie, geb. Löwenthal. Sie wuchs in Hannover auf und heiratete dort im Juni 1892 den sieben Jahre älteren Ferdinand Elsbach. Er stammte aus einer weitverzweigten Industriellenfamilie, deren Mitglieder verschiedene Textilfabriken in Herford betrieben, einige auch mit Zweigniederlassungen in Berlin, etwa Elsbach und Northeim, L. Elsbach oder J. Elsbach. Ferdinand war Mitinhaber eines renommierten Textilhauses in Hannover, Elsbach & Frank.

Im Februar 1893 bekam Ida Zwillinge, Walter und Kurt, erst 1900 folgte Tochter Lucie. Ferdinand war ein angesehener Bürger, er war im Vorstand der Handelskammer Hannover und auch Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. Die Kinder wuchsen in Hannover auf, heirateten dort, Lucie einen Herrn Freese, mit dem sie 1930 nach Paris zog. Curt heiratete die Tochter eines Warenhausbesitzers und wurde Geschäftsführer im Unternehmen seines Schwiegervaters. Ferdinands Firma stellte Damen-, Herren und Kinderkonfektion her und hatte 120-130 Beschäftigte. Ida war auch als Gesellschafterin eingetragen. 1930 war Curt ebenfalls in der Firma seines Vaters beschäftigt, die damals schon nicht mehr so gut gelaufen sein soll aufgrund antisemitischer Tendenzen, aber sicherlich auch infolge der Weltwirtschaftskrise. Im Juni 1931 starb Ferdinand Elsbach.

In der Folge zog Ida nach Berlin, wann ist nicht klar. Vermutlich 1933, als ihr Sohn Kurt, inzwischen auch verwitwet, in die Hauptstadt umsiedelte und dort zum zweiten mal heiratete. Man kann auch annehmen, dass sie bei ihm in der Dahlemer Villa der Schwiegertochter, eine geborene Oppenheimer, in der Amselstrasse wohnte. Kurt aber, dem nicht entgehen konnte, dass das Leben für Juden im Deutschen Reich immer schwieriger wurde, emigrierte mit seiner Familie bereits 1936 nach London. Ida blieb in Berlin und fand eine neue Bleibe in der Pension von Rosa Phiebig in der Schlüterstraße 54. 1937 gelang es ihr, sich mit Kurt, der vorhatte weiter in die USA zu emigrieren, in Belgien zu treffen. Sie kehrte jedoch nach Berlin zurück.

In der Pension Phiebig bewohnte sie ein möbliertes Zimmer und ließ sich verpflegen für 150 RM im Monat. Sie wohnte bereits im sechsten Jahr dort, als sie von der Gestapo im August 1942 aufgefordert wurde, eine „Vermögenserklärung“ auszufüllen und sich für die „Abwanderung“ bereitzuhalten. Ida wird geahnt haben, was das bedeutet, aus der Pension und aus ihrem Bekanntenkreis waren schon verschiedentlich Juden deportiert worden: vor nur zwei Wochen war die Witwe eines der Herforder Textilmagnaten, die auch Ida Elsbach hieß, aber geborene Spiegelberg – Ida muss sie gekannt haben –, nach Theresienstadt verschleppt worden. Idas Sohn Kurt und inzwischen auch Tochter Lucie waren in Kalifornien, Walter nach Brasilien geflohen.

Ida gab in der „Vermögenserklärung“ wenige Vermögenswerte an: Wäsche, Kleidung, an Geschirr „einige Kleinigkeiten“. Auf dem Konto habe sie noch ca. 5000 RM, als Erbe ihres Mannes seien nur Forderungen und Schulden geblieben. Ihr schien klar zu sein, dass beides keine große Rolle mehr spielte, die Gläubiger hätten „sich nicht mehr gemeldet“, Forderungen würde sie nicht mehr eintreiben können. Ida unterschrieb das Formular am 11. August 1942, spätestens am 14. war sie schon in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 – ein ehemaliges jüdisches Altersheim – gebracht worden. Drei Tage später, am 17. August 1942, wurde sie mit fast tausend weiteren Berliner Juden vom Güterbahnhof Moabit aus nach Theresienstadt deportiert. Dort wurde sie in eine Wohnstatt mit der Bezeichnung Q319 Zimmer 08 B eingewiesen.

Ob sich die beiden Idas in Theresienstadt sahen, ist mehr als unwahrscheinlich. Ida Elsbach, geborene Rosenberg, überlebte die Strapazen des „Transports“ und die menschenunwürdigen Bedingungen im Lager – Überfüllung, katastrophale Hygiene, Hunger und Seuchen – gerade mal zehn Tage: am 29. August starb sie, offiziell an Durchfall und Herzschwäche, eine zynische Umschreibung der Tötung durch die entsetzlichen Lebensumstände in Theresienstadt. Die andere Ida, geborene Spiegelberg, wurde vier Wochen später nach Treblinka weiter deportiert und dort ermordet.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Landesarchiv Berlin; Berliner Adressbücher; Theresienstadt Datenbank

Stolperstein Gertrud Friedlaender

HIER WOHNTE
GERTRUD
FRIEDLAENDER
GEB. GOLDBERGER
JG. 1875
DEPORTIERT 2.4.1942
GHETTO WARSCHAU
ERMORDET

Gertrud Friedländer wurde am 30. April 1875 als eine Tochter von Isidor Goldberger in Breslau geboren. Ihre Eltern stammten aus Cosel (heute Koźle) in Schlesien. Sie heiratete den Börsenmakler Georg Friedländer, Sohn von Adolf und Henriette aus Schweidnitz.

Georg Friedländer hatte seine Firma 1890 nach Berlin, genauer Schöneberg, verlegt. Eine eigene Wohnung bezog Georg Friedländer laut Adressbuch erst 1895, möglicherweise nach seiner Heirat mit Gertrud. Das Paar lebte zunächst in der Motz- und dann in der Goltzstraße, 1905 kaufte Georg Friedländer ein Wohnhaus in der Tempelhofer Straße 21a und zog dort selbst ein. Fünf Jahre später verkaufte er es wieder, um in eine Wohnung in der neuerbauten Charlottenburger Schlüterstraße 52 einzuziehen, Ecke Niebuhrstraße. Im nächsten Jahr wurde das Haus in Nr. 55 umnummeriert. Auch das Gewerbe ließ Georg Friedländer nach Charlottenburg verlegen. 1921 erhielt Gertrud Prokura und 1928 wurde sie auch als Gesellschafterin eingetragen. Zwei Jahre später ging Georg in den Ruhestand, seine Firma wurde gelöscht.

Die Ehe der Friedländer blieb kinderlos. Sie hatten aber beide etliche Geschwister und folglich zahlreiche Neffen und Nichten, von denen auch einige in Berlin lebten. Ein Testament von Georg und Gertrud Friedländer legt 13 Erben aus der Familie fest, außerdem großzügige Legate an die jüdischen Gemeinden in Breslau, Schweidnitz und Berlin, die ersten beiden mit der Auflage, die Familiengrabstätten der Goldberger und Friedländer zu pflegen.

Georg und Gertrud Friedländer waren vermögend. In ihrer Fünf-Zimmerwohnung in der Schlüterstraße 55 pflegten sie ein großzügiges gesellschaftliches Leben, die Einrichtung war entsprechend gediegen. Im September 1935 starb Georg, seine Witwe blieb weiter in der Wohnung. In den folgenden Jahren musste sie erleben, wie ihr Leben durch Antisemitismus und diskriminierende Maßnahmen der Regierung zunehmend erschwert wurde, insbesondere der Zugriff auf ihr Vermögen wurde empfindlich eingeschränkt. Nach dem Novemberpogrom am 9./10. November 1938 häuften sich nochmal die Verordnungen gegen Juden, sie durften nicht am öffentlichen Leben teilnehmen, nicht in Theater, Konzerte, Kinos gehen. Alle Wertgegenstände mussten sie abliefern, ihre Konten wurde zu „Sicherheitskonten“ erklärt, von denen sie nur durch „Sicherungsanordnung“ festgelegte Beträge für ein Existenzminimum abheben durften.

Gertrud Friedländer konnte ihre Wohnung nicht mehr halten und entschloss sich, in die Pension Phiebig in der benachbarten Schlüterstraße 54 zu ziehen. Am 1. April 1939 bezog sie bei Rosa Phiebig ein möbliertes Zimmer und zahlte fortan monatlich 150.- RM für Unterkunft und Verpflegung. Auch hier wurde das Dasein immer stärker bedroht. Anfang 1941 gab es in Berlin verstärkt Zwangseinweisungen, im Herbst begannen die Deportationen in eine ungewisse Zukunft „nach dem Osten“. Gertrud Friedländer musste damit rechnen, ihr Zimmer mit anderen teilen zu müssen und befürchten, selbst „abgeschoben“ zu werden. Anfang November schrieb sie an ihren Neffen Richard Fraenkel in Frankfurt am Main: „…die Kündigungen und Abtransporte erfolgen in größtem Umfange.“ Und sie berichtete, die Zimmer seien, wie schon einmal zuvor, besichtigt worden und sicherlich würde man diesmal Mitbewohner bekommen, das nähme sie aber mittlerweile gerne in Kauf, wenn sie nur nicht fort müsse. Diese Bescheidung half ihr aber wenig: als eine der ersten aus dem Haus wurde sie Ende März 1942 aufgefordert, eine „Vermögenserklärung“ auszufüllen, der Vorbote der Deportation. Gertrud Friedländer nannte bloß noch Wäsche und Kleidung ihr eigen, ausführlich gab sie über ihre finanzielle Lage Auskunft, schließlich hatte sie auch eine „Erklärung“ unterschreiben müssen, nach der ihr bekannt sei, dass ihre Angaben „noch vor dem Abtransport“ überprüft würden und dass sie „bei Verstoß gegen diese Anordnung auf keine Nachsicht zu rechnen“ habe. Auf ihrem Konto waren einige Tausend Reichsmark, von denen aber noch Judensteuern, der beträchtliche „Sonderbeitrag“ – die Strafabgabe für Juden von 25% nach dem Novemberpogrom –, Lebensunterhaltkosten und, besonders zynisch, 50.- RM „für die Abwanderung“ abgingen. Um ein 20faches höher lag Gertrud Friedländers Vermögen in Wertpapieren. Allein, sie konnte nur eingeschränkt, seit Dezember 1941 überhaupt nicht mehr darüber verfügen. Es sollte alles zur Raubbeute des nationalsozialistischen Staates werden, inklusive des lächerlichen Erlöses ihrer letzten Habseligkeiten, für die der Trödler Paul Linke 49.- RM zahlte.

Genau einen Monat vor ihrem 67. Geburtstag unterschrieb Gertrud Friedländer die „Vermögenserklärung“ und wurde am gleichen oder am nächsten Tag in die zur Sammelstelle umgewandelte Synagoge in der Levetzowstraße 7-8 gebracht und am 2. April 1942 nach Warschau in das dortige Ghetto deportiert.

Das Warschauer Ghetto wurde Mitte 1940 von den deutschen Besatzern in der Warschauer Altstadt eingerichtet und durch eine hohe Mauer und Wachposten isoliert. Juden aus Warschau und anderen polnischen Regionen wurden hier zusammengepfercht. 1942 wurden auch Juden aus dem „Altreich“ dorthin deportiert, so auch Gertrud Friedländer. Ein von den Deutschen eingesetzter und ihnen vollkommen unterstellter „Judenrat“ täuschte Selbstverwaltung vor. Überfüllung, Hunger und Seuchen bestimmten die Lebensbedingungen. Etwa 500000 Menschen mussten auf engstem Raum zusammenleben, 6-7 Leute hatten sich ein Zimmer zu teilen. Die Nahrungsmittelrationen betrugen 184 Kalorien pro Tag und Kopf (für Polen 634, für Deutsche 2310). Flecktyphus und andere Krankheiten machten die Runde. Zudem war Zwangsarbeit an der Tagesordnung. Gertrud Friedländer wurde in die Gartenstraße 27 eingewiesen, sicherlich auch in ein überbelegtes Zimmer. Dort erhielt sie noch Ende Mai Post – von der Steuerbehörde.

Ab Juli 1942 wurden die Ghettobewohner weiter in Vernichtungslager deportiert, vor allem nach Treblinka, und dort ermordet. Es ist nicht bekannt, ob dies auch das Schicksal von Gertrud Friedländer war, oder ob sie, wie weitere 80000 Menschen, noch im Ghetto an den menschenunwürdigen Lebensbedingungen umkam.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch, Bundesarchiv Koblenz, 2006; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Landesarchiv Berlin; Berliner Adressbücher

Stolperstein Salomo Goldstein

HIER WOHNTE
SALOMO GOLDSTEIN
JG. 1866
DEPORTIERT 29.11.1942
AUSCHWITZ
ERMORDET 1.12.1942

Salomo Goldstein kam am 16. Dezember 1866 in Pommern, im Ort Klein Silkow bei Stolp, auf die Welt. Spätestens in den 1880er Jahren kam er nach Berlin und gründete bald eine Firma, die mit Leinen- und Baumwollwaren en gros handelte. Bald spezialisierte er sich auf Futterstoffe für die Konfektion. Das Geschäft war erst in der Heiligegeiststraße (heute unter dem Marx-Engels-Forum verschwunden), später am Werderschen Markt 7. Er beschäftigte zehn bis zwölf Angestellte plus mehrere „Reisende“, also Vertreter. Salomo selbst, der sich damals Sally nannte, wohnte in der Neuen Friedrichstraße und in der Kaiser-Wilhelm-Straße, heute Karl-Liebknecht-Straße. Auch die Neue Friedrichstraße ist dem Umbau des alten Stadtkerns in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre zum Opfer gefallen.

Salomo Goldstein heiratete die sechs Jahre jüngere Sophie Freudenberg, die aus Johannisburg in Ostpreußen stammte. Mit ihr hatte er zwei Kinder, Käte, geboren am 29. September 1893, und Walter. 1913 zog die Familie in die Lessingstraße 5, im Hansaviertel. Käthe heiratete später den Juristen Georg Winterfeld. Im April 1934 starb Sophie und Salomo Goldstein zog zu Tochter und Schwiegersohn in die Binger Straße 39. Sein Geschäft hatte er inzwischen an den Hausvogteiplatz 8 verlegt. 1937 sah er sich gezwungen, den Handel ganz aufzugeben: die meisten seiner Kunden kamen aus der Konfektion und waren selbst Juden – durch die Einschränkungen des NS-Regimes für das jüdische Gewerbe sahen sie sich nicht mehr in der Lage, bei Goldstein Stoffe einzukaufen. Anfang 1938 wurde die Firma aus dem Handelsregister gelöscht.

Im Dezember 1938 – Lebensumstände für Juden waren inzwischen überhaupt schwieriger geworden – emigrierten Käte und Georg Winterfeld nach Norwegen. Auch Sohn Walter war um diese Zeit in die USA ausgewandert. Salomo Goldstein blieb zurück und mietete sich in der Pension Phiebig in der Schlüterstraße 54 ein. Dort wohnte er, bis er im März 1940 zu seiner Tochter nach Oslo flüchtete. Aber schon im April besetzte die deutsche Wehrmacht Norwegen und Dänemark. Die Besatzer hielten sich zunächst mit antijüdischen Maßnamen zurück. Als jedoch im Februar 1942 die faschistische Regierung der „Nasjonal Samling“ mit Vidkun Quisling eingesetzt wurde, änderte sich das. Diese Regierung kollaborierte bereitwillig mit den Deutschen bezüglich der Judenverfolgung. Anfang Oktober 1942 wurden zunächst in Mittelnorwegen Juden verhaftet und in Lager interniert. Am 26. Oktober unterzeichnete das Regime ein „Gesetz zur Beschlagnahme jüdischen Vermögens“, an den folgenden Tagen sollten – auch in Oslo – alle männlichen Juden verhaftet und in dem Konzentrationslager Berg interniert werden, in Erwartung ihrer Deportation.

Anders als bisher angenommen und wie im Gedenkbuch des Bundesarchivs irrtümlich beschrieben, gehörte Salomo Goldstein nicht zu den am 26. November mit dem Schiff nach Stettin und weiter nach Auschwitz Verschleppten. Insofern ist die Inschrift des Stolpersteins falsch und soll berichtigt werden. Über das Gesetz, das die Deportation ankündigte, war am 26. Oktober 1942 in den norwegischen Zeitungen berichtet worden. Offenbar hatte auch Salomo Goldstein darüber gelesen. „An diesem Tage nahm er sich, um der Deportation nach Auschwitz zu entgehen, das Leben“, berichtete seine Tochter nach dem Zweiten Weltkrieg. Er wurde von ihr am nächsten Morgen tot aufgefunden, nachdem er eine Überdosis Schlafmittel eingenommen hatte. Eine Abschrift der norwegischen Sterbeurkunde gab sie später zu den Akten. Käte und Georg Winterfeld gelang noch im gleichen Jahr 1942 die Weiterflucht nach Schweden.

Stolperstein Selma Grünthal

HIER WOHNTE
SELMA GRÜNTHAL
GEB. ZERKOWSKI
JG. 1872
DEPORTIERT 14.9.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 27.9.1943

Selma Grünthal kam als Selma Zerkowski am 5. Mai 1872 in Danzig zur Welt. Sie war eine Tochter von Simon Zerkowski und seiner Frau Rahel geb. Land. Selmas Vater war Mathematiker und Privatgelehrter. Selma heiratete den 1860 geborenen Adolf Grünthal, Sohn eines Bierbrauers, und lebte mit ihm in Beuthen (heute Bytom) in Oberschlesien. Adolf war ein in Beuthen angesehener Augenarzt und wurde 1911 zum Sanitätsrat ernannt.

Die Praxis prosperierte, nicht zuletzt weil im Bergbaumilieu Augenverletzungen häufig waren. 1894 wurde der Sohn Ernst geboren, vier Jahre später die Tochter Rahel. Wie ihre eigenen Eltern verstanden sich Selma und Adolf als konfessionslose Juden und erzogen ihre Kinder entsprechend. Sie wollten beiden, auch der Tochter, ein Universitätsstudium ermöglichen. Die Familie lebte in einer großzügigen Wohnung, wohl auch noch nachdem die Kinder das Elternhaus verlassen hatten: Ernst zum Medizinstudium nach Breslau und München – zwischendurch war er auch zum Kriegsdienst eingezogen – und dann auch Rahel, die, ihrem Bruder folgend, in München Chemie studierte und später heiratete.

Nachdem 1933 Hitler an die Macht kam, wurde der in Beuthen einst beliebte Augenarzt Adolf Grünthal zunehmend diskriminiert und drangsaliert, so dass das Ehepaar beschloss, nach Berlin umzuziehen. Vermutlich 1934 oder 1935 kamen sie in die Hauptstadt und es ist nicht belegt, dass Adolf Grünthal noch einmal eine Praxis eröffnet hätte, schließlich war er schon 75 Jahre alt. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie sich von Anfang an in der Pension von Alice Schlesinger in der Schlüterstraße 54 einmieteten. Im Unterschied zu Rosa Phiebig im gleichen Haus, vermietete Alice Schlesinger auch unmöblierte Zimmer und Grünthals konnten in zwei Räumen einen Teil ihrer Beuthener Einrichtung unterbringen. Den größeren Teil hatten sie unter dem Druck der Umstände wohl ungünstig in Beuthen verkaufen müssen.

Am 7. August 1941 starb Adolf Grünthal und seine Witwe wurde bald darauf gezwungen, in ein bescheideneres Zimmer in der Claudiusstraße 6 umzuziehen, bei Cohn. Auch ihre sechs Jahre ältere Schwester Tony Kober, geborene Zerkowski, wohnte dort, unklar ist, ob vor oder nach Selma. Lange konnte Selma auch dort nicht bleiben. Am 14. September 1942 wurden die 70- und 76-jährigen Schwestern mit weiteren eintausend Opfern nach Theresienstadt deportiert, gut zwei Wochen bevor ihre Wirtin Jeanette Cohn das gleiche Schicksal erlitt. Während die Deportationen nach Theresienstadt in der Regel 50-100 Menschen umfassten, die in verschlossene, an Regelzüge angehängte Einzelwaggons gesteckt wurden, waren Selma und Tony in einem von vier Berliner „Massentransporten“, bei denen über 1000 Menschen in einen „geschlossenen Sonderzug“ gepfercht waren. Vielleicht konnten die Schwestern sich auf dieser bedrückenden Fahrt in eine finstere Zukunft gegenseitig etwas Trost zusprechen.

In Theresienstadt, das vom NS-Regime zynischerweise als „vorbildliches Altersghetto“ vorgeführt wurde, waren die Lebensumstände erbärmlich. Überfüllung, Hunger, Kälte und Krankheiten rafften eine hohe Zahl der Insassen hin, Seuchen infolge der miserablen hygienischen Lage taten ein Übriges. Selma und ihre Schwester wurden in ein Zimmer im Gebäude Q312 eingewiesen und Selma musste erleben, wie Toni schon am 4. Januar 1943 den Tod fand, nach offizieller Darstellung wegen „Herzschwäche“ – kein Wunder bei den gewollt menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Selma Grünthal hielt ein ganzes Jahr durch, dann wurde auch sie am 27. September 1943 Opfer dieser Umstände. Ihre ehemalige Wirtin Jeanette Cohn kam nur wenige Wochen nach Ankunft im Ghetto ums Leben.

Selma Grünthals Kinder konnten überleben. Rahel hatte ein zweites Mal geheiratet, hatte sich christlich taufen lassen mit dem Vornamen Ilse und musste dennoch die letzten Monate vor Kriegsende untertauchen. Sie lebte danach mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in München. Ernsts Karriere an der Universität Würzburg wurde durch das NS-Regime jäh unterbrochen. Er konnte 1934 in die Schweiz flüchten und wurde später ein bekannter Psychiater und Hirnforscher. Er starb 1972 in Bern.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Kartei der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Berliner Adressbücher; Fritjof Hartenstein: Leben und Werk des Psychiaters Ernst Grünthal, 1976; Theresienstadt Datenbank

Stolperstein Hermann Guttmann

HIER WOHNTE
HERMANN GUTTMANN
JG. 1868
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
TOT 4.1.1943
VOR ANKÜNDIGUNG
DER DEPORTATION

Hermann Guttmann wurde am 3. Juni 1868 in Radostowitz, nahe Pleiß im Preußischen Schlesien, geboren. Seine Eltern waren Markus und Charlotte Guttmann (geb. Brauer). Hermann hatte 4 Geschwister: Berta, geboren 1865, Bernhard, geboren 1867, Selma, geboren 1871 und Isidor, geboren 1873. Alle vier Geschwister wurden Opfer des Holocaust.

Ida und Hermann Guttmann

Wann Hermann Guttmann nach Gleiwitz zog, ist nicht bekannt; nur, dass das Ehepaar Guttmann in Gleiwitz in der Bahnhofstraße 23 gewohnt hat. Unter dieser Adresse sind wohl auch seine drei Kinder zur Welt gekommen.

Er war verheiratet mit Ida Dickmann, geb. am 6. Mai 1866 in Gleiwitz. Hermann und Idas Kinder waren Erich, geb. 1896, Lotte (Charlotte), geb. 1897 und Wilhelm, geb. 1903.

Seit 1796 gab es in Gleiwitz eine jüdische Gemeinde, die sich seit der Gründung sehr positiv entwickelt hat und um 1871 auf ca. 2000 Mitglieder zurückblicken konnte. Nach Aussage seines Enkels James Zetzel, Sohn von Erich Guttmann, war Hermann Guttmann Teilhaber einer Brauerei und Brennerei. Er hatte seine Anteile verkauft, um später zu seiner Tochter nach Berlin zu ziehen. Seine Tocher Lotte heiratete am 31. Juli 1920 den Rechtsanwalt Dr. Franz Grätzer, der in der Berliner Straße 146 (heute Otto-Suhr-Allee) in Charlottenburg zusammen mit seinem Schwager Wilhelm Guttmann eine Anwaltskanzlei betrieb. Die Trauung fand im Standesamt Charlottenburg statt.

Ehepaar Ida und Hermann Guttmann

Wann das Ehepaar Hermann und Ida Guttmann nach Berlin gezogen ist, konnte nicht festgestellt werden. Es ist nur bekannt, dass Ida Guttmann am 12. Dezember 1924 in der Berliner Straße 146 verstorben ist, was der Jüdische Friedhof bestätigt, da Hermann Guttmann den Tod seiner Frau gemeldet hat. Die Beerdigung am 14. Dezember 1924.

Das Ehepaar Lotte und Franz Grätzer hatte zwei Kinder, Friedrich, geboren 1922 und Erika, geboren 1925. In dieser Familie lebte Hermann Guttmann bis zur Emigration der Familie Grätzer 1938. Dr. Franz Grätzer emigrierte zunächst allein nach New York, um seine Familie später nachzuholen. Unglücklicherweise starb er an einem Herzinfarkt und die Familie blieb allein in Berlin zurück und konnte noch 1939 nach London ausreisen.

Hermann Guttmann zog in die „Pension Rosa Phiebig“ in der Schlüterstraße 54, eine Pension, in der schon viele jüdische Berliner Bürger lebten, die ihre Wohnungen auf Grund der Nazigesetze verlassen mussten.

Als Hermann Guttmann die Aufforderung zum Transport (Deportation) bekam, starb er in der Pension. Es war der 4. Januar 1943. Gemeldet wurde der Tod von der Pensionsbetreiberin Rosa Phiebig.
Hermann Guttmann wurde am 7. Januar 1943 auf dem Jüdischen Friedhof neben seiner Frau bestattet.

Quelle: James Zetzel, New York; Archiv Centrum Judaicum; Bundesarchiv; Fotos aus Familienbesitz
Text: Siegfried Dehmel

Stolperstein Charlotte Heilborn

HIER WOHNTE
CHARLOTTE
HEILBORN
JG. 1902
DEPORTIERT 29.1.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Charlotte Heilborn wurde am 5. September 1902 in Berlinchen (heute Barlinek), Kreis Soldin, in der Neumark in Westpommern geboren. Über ihr Elternhaus ist nichts bekannt und auch nicht, wann sie nach Berlin kam. Mit 38 Jahren war sie ledig und hatte in Berlin nie eine eigenständige Wohnung gehabt, da sie nirgends im Adressbuch auftaucht. 1939 wurde sie in der sogenannten Ergänzungskartei bei der Volkszählung am 17. Mai in der Schlüterstrasse 54 erfasst. Unklar ist allerdings, bei wem sie dort zur Untermiete wohnte. In diesen Ergänzungskarten wurde registriert, wer wie viele jüdische Großeltern hatte. Obwohl das Statistikgeheimnis zugesichert wurde, kann man sich denken, dass diese Kartei für die Judenverfolgung missbraucht wurde, z.B. bei der Zwangsverpflichtung zur Arbeit. Für die Vorbereitungen der Deportationen wurde die Kartei allerdings zu spät ausgewertet.

In der Schlüterstraße blieb Charlotte Heilborn bis spätestens 29. Oktober 1942. Ab diesem Datum wohnte sie in der Martin-Luther-Straße 16 bei der kaufmännischen Angestellten Käte Marcus im Gartenhaus 2. Stock – Charlotte Heilborns letzte Berliner Adresse, die sie vermutlich nicht ganz freiwillig bezog. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon zur Arbeit zwangsverpflichtet bei Siemens-Schuchardt im Kleinbauwerk in Siemensstadt zu einem Mini-Lohn von 15.- RM die Woche.

Im Januar 1943 musste Charlotte Heilborn eine „Vermögenserklärung“ ausfüllen, die der Deportation vorausging. Ihre ganze Habe bestand allerdings nur noch aus „zwei Reisekoffer[n]“, es ist nicht mal klar, ob etwas in den Koffern enthalten war. Zwei Monate später gab der von der Oberfinanzdirektion geschickte Schätzer zu Protokoll: „Schätzung erfolglos. Gegenstände wurden nicht zurückgelassen. Schlüssel bei Frau Enke.“

Am 22. Januar 1943 unterschrieb Charlotte Heilborn die Erklärung, kurz darauf wurde sie in das Sammellager in dem ehemaligen Altersheim in der Großen Hamburger Straße 26 gebracht, mit ihr auch ihre Vermieterin, die 1891 geborene Käte Marcus. „Hauptmieter abgewandert“, hatte Charlotte Heilborn in ihr Formular eingetragen. „Abwanderung“ war eine der offiziellen Verschleierungsbezeichnungen für die Deportation.

Charlotte Heilborn und Käte Marcus wurden am 29. Januar 1943 in einem Sonderzug vom Güterbahnhof Putlizstraße aus nach Auschwitz mit über tausend weiteren Kölner und Berliner Juden deportiert. 724 von ihnen wurden sofort in den Gaskammern von Birkenau ermordet, 140 Männer und 140 Frauen wurden für Zwangsarbeit zurückbehalten und später getötet. Möglich, dass Charlotte, mit 40 Jahren noch vergleichsweise jung, zu letzteren gehörte, ihr Todesdatum wissen wir nicht – auch nicht das von Käte Marcus.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Gottwaldt/Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945. Wiesbaden 2005

Stolperstein Emilie Kass

HIER WOHNTE
EMILIE KASS
GEB. LÖWENBACH
JG. 1864
DEPORTIERT 11.9.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 2.10.1942

Emilie Kass’ Mädchenname war Löwenbach. Sie wurde am 7. Mai 1864 in Neuss am Rhein als dritte Tochter von Carl Löwenbach und Caroline geb. Winter geboren. Der Tuch-, Porzellan- und Kristallwarenhändler Carl Löwenbach hatte 1858 nach Neuss geheiratet, später war er der Leiter der Neusser Nebenstelle der Reichsbank. Von 1882 bis 1890 war er auch einer der Vorsteher der Synagogengemeinde Neuss. Emilies ältere Schwestern hießen Jenny und Regine Ida.

Emilie wuchs in Neuss auf und heiratete 1888 den Kaufmann Moritz Kass aus Paderborn. Das Paar ließ sich nicht in Neuss nieder, sondern in Bielefeld, vielleicht auch zunächst in Paderborn. 1927 wohnte der Fabrikant Moritz Kass jedenfalls in Bielefeld, in der Detmolder Straße 86. Da Moritz Kass nicht in den Berliner Adressbüchern zu finden ist, ist anzunehmen, dass Emilie erst nach seinem Tod nach Berlin umzog. Möglicherweise hatte sie hier Verwandte, vielleicht auch Kinder, bei denen sie lebte, denn auch sie war im Adressbuch nicht mit einer eigenen Wohnung aufgeführt.

Als sie im Mai 1939 bei der Volkszählung auf der „Ergänzungskartei“, in der alle Juden registriert werden sollten, erfasst wurde, wohnte sie in der Schlüterstraße 54 in der Pension von Rosa Phiebig. Anfang September 1942 eröffnete ihr die Gestapo, sie müsse in das Altersghetto Theresienstadt „abwandern“, gemeint war die Deportation. Zu diesem Zeitpunkt wohnte sie nicht mehr in der Schlüterstraße sondern um die Ecke, in der Niebuhrstraße 4, bei dem Juristen Ludwig Marcuse zur Untermiete. Wahrscheinlich war sie genötigt worden, ein vergleichsweise komfortables Zimmer in der Pension Phiebig, die mehrere ehemals wohlhabende Witwen beherbergte, für eine bescheidenere Unterkunft zu tauschen. In der Niebuhrstaße 4 wohnte auch Margarete Michaelis, 1895 in Paderborn als Margarete Kass geboren – sicherlich eine Verwandte, vielleicht sogar eine Tochter von Emilie. Von der Niebuhrstraße wurde Emilie Kass in das Sammellager im ehemaligen Altersheim Große Hamburger Straße 26 gebracht und am 11. September 1942 vom Anhalter Bahnhof mit weiteren 99 Opfern in zwei an den Zug nach Prag angehängten „Sonderwaggons“ nach Theresienstadt deportiert.

Entgegen den durch bewusste Täuschung geweckten Erwartungen waren die Lebensumstände im sogenannten „Altersghetto“ so unerträglich, dass etwa ein Viertel aller dort Gefangenen – 33456 von über 140000 bis Mai 1945 – starben, noch bevor sie weiter in ein Vernichtungslager verschleppt werden konnten. Zu ihnen gehörte auch die inzwischen 78jährige Emilie Kass. Sie war in das Gebäude L315, Zimmer 27 eingewiesen worden, eine Sammelunterkunft, in der wie überall in Theresienstadt, die hygienischen Bedingungen im wörtlichen Sinne mörderisch waren. Emilie Kass erlag ihnen bereits drei Wochen nach ihrer Ankunft: am 2. Oktober 1942 starb sie laut „Todesfallanzeige“ der Ghetto-Ärzte in ihrem Zimmer an „akutem Darmkatarrh“.

Emilie Kass’ letzter Hauswirt, Ludwig Marcuse, wartete die Deportation nicht mehr ab: am 15. Januar 1943 nahm er sich das Leben. Margarete Michaelis geb. Kass wurde am darauffolgenden 1. März nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Jenny Löwenbach, Emilies älteste Schwester, die ledig geblieben war, lebte zuletzt in Köln und kam im Sammellager Köln-Müngersdorf am 1. Juli 1942 ums Leben.

Emilie Kass gehört zu den 204 auf einem Holocaust-Mahnmal in Neuss genannten jüdischen NS-Opfer, das 1995 gegenüber dem Standort der 1938 zerstörten Synagoge aufgestellt wurde.

Quellen: Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Mitteilungen Stadtarchiv Neuss; Theresienstadt Datenbank.

Stolperstein Gertrud Katzenstein

HIER WOHNTE
GERTRUD
KATZENSTEIN
GEB. MICHALSKI
JG. 1866
DEPORTIERT 17.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 2.9.1942

Gertrud Katzenstein kam als Gertrud Michalski am 20. August 1866 zur Welt in Graudenz/Westpreußen (heute Grudziądz), eine Stadt an der Weichsel, rund 90 km südlich von Danzig. Der Vater Moritz Michalski hatte Natalie Beer geheiratet, nachdem seine erste Frau, Natalies Schwester Emma, gestorben war. Wahrscheinlich ist Emma Gertruds leibliche Mutter. Gertrud hatte einen Bruder, Max, später verheiratet mit Gertrud Bredt, und eine Schwester, Johanna, die später Ignatz Bythiner heiratete. Um 1875 ließ sich Moritz Michalski in Berlin nieder mit einem Geschäft für Herrenwäsche, später in Agentur für Leinen- und Wollwaren gewandelt. 1898 heiratete Gertrud den 7 Jahre älteren Siegmund Katzenstein. Sie wohnten zunächst in der Mayeerbeerstraße 8, 1918 in der Leibnitzstraße 3. Sie hatten einen Sohn, Fritz. Siegmund Katzenstein war Prokurist bei der Firma Paul Blumenthal & Co.

Am 24. September 1918 starb Siegmund Katzenstein und Gertrud zog ein oder zwei Jahre später in die Heilbronner Straße 3. Das Adressbuch gibt in diesem und den folgenden Jahren für sie keinen Beruf an, obwohl sie eine Krankenschwesterausbildung gehabt haben soll. Man kann also annehmen, dass ihr verstorbener Ehemann wohlhabend genug war, um sie gut versorgt zu hinterlassen.

Gertrud Katzenstein engagierte sich in der jüdischen Frauenvereinsarbeit. In dem „Israelitisch-humanitären Frauenverein“ arbeitete sie mit der Vorsitzenden Sidonie Werner aus Hamburg zusammen. Sidonie Werner leitete den 1893 gegründeten Verein ab 1908. Der Verein war nicht nur in Bereichen klassischer Wohlfahrt aktiv sondern betrieb auch Sozialarbeit im modernen Sinne. Er unterhielt Einrichtungen zur Bekämpfung der Armut, Arbeitslosigkeit und Krankheit, unter anderem auch Gemeinschaftsheime und Kinderheime, letztere v.a. in Hamburg. Das politische Engagement des Vereins galt speziell den Rechten der Frauen in der Jüdischen Gemeinde und der Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels. Der Verein trat für die jüdische Identität und gegen die Assimilation ein.

1909 suchte Sidonie Werner einen Standort für Ferienheime für die vom Verein betreuten Kinder. In dem sich als Kurort entwickelndem Segeberg (ab 1924 Bad Segeberg) in Holstein erwarb sie mit der Zeit drei Villen in der Bismarckallee zu diesem Zweck. Es entstand dort ein Ferienheim für Kinder, das außerhalb der Sommerzeit auch ein Erholungsheim für junge Frauen und eine Haushaltungsschule beherbergte. In den Sommermonaten waren dort bis zu 100 Kinder untergebracht und Sidonie Werner verlegte für diese Zeit ihren Wohnsitz von Hamburg nach Segeberg.

Sidonie Werner war auch Mitbegründerin und prominente Akteurin im 1904 in Berlin gegründeten Jüdischen Frauenbund, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch Gertrud Katzenstein in diesem aktiv war. Denn nach dem Tod Sidonie Werners 1932 übernahm sie den Vorsitz des Israelitisch-humanitären Frauenvereins und die Leitung der Segeberger Häuser. Wahrscheinlich war auch sie nur in den Sommermonaten in Segeberg, denn sie behielt ihre Berliner Wohnung in der Heilbronner Straße.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Zeiten für jüdische Vereine jedoch zunehmend schlechter und auch in Bad Segeberg war der Antisemitismus auf der Tagesordnung. 1936 verließ Gertrud Katzenstein mit ihren Schützlingen Bad Segeberg und kehrte ganz nach Berlin zurück, zwei Jahre später wurde der Verein ganz aufgelöst, seine Häuser weit unter Preis an die Stadt verkauft. In Berlin, folgt man den Angaben des Adressbuches, gab Gertrud Katzenstein die Wohnung in der Heilbronner Straße nun auf. Wahrscheinlich war das der Zeitpunkt, an dem sie in die Schlüterstraße 54 zog, zur Untermiete bei der Witwe Hedwig Rosenbaum.

Dort wohnte sie noch, als sie im August 1942 von der Gestapo abgeholt wurde. Sie sollte nach Theresienstadt deportiert werden, wurde zunächst in ein Sammellager gebracht – wir wissen nicht welches, denn längst reichte das umfunktionierte Altersheim in der Großen Hamburger Straße nicht mehr aus. Anders als bisher wollte die Gestapo nicht nur 50-100 Menschen in „geschlossenen Wagons“ nach Theresienstadt verschleppen, offenbar ging ihr das zu langsam. Erstmalig sollte das 10fache an Menschen in einem geschlossenen Sonderzug dorthin deportiert werden. Um sie zu „sammeln“ wurden vorübergehend mehrere jüdische Einrichtungen in Berlin als Lager in Anspruch genommen. Am 17. August 1942 verließ der Sonderzug den Bahnhof Putlitzstraße mit 1002 Menschen, Gertrud Katzenstein unter ihnen.

In Theresienstadt bekam Gertrud Katzenstein nicht wie vorgetäuscht einen Platz in einem Alterswohnsitz zugewiesen, sondern Koje Nr. 27 auf dem „Boden“ (gemeint ist wohl der Dachspeicher) von Gebäude B IV. Auch sonst herrschten im sogenannten „Altersghetto“ Überfüllung, Kälte und Hunger vor. Miserable Hygiene, Seuchen und Krankheiten setzten den Menschen zu und viele starben daran. Auch Gertrud Katzenstein überlebte diese Lebensbedingungen nicht: am 2. September 1942, gut zwei Wochen nach Ankunft und knapp zwei nach ihrem 76. Geburtstag, erlag sie in ihrer „Koje“ den Umständen von Reise und Ghetto, angeblich an Alters- und Herzschwäche – so die offizielle „Todesfallanzeige“, die so zur Verschleierung der wahren Ursachen beiträgt.

Für Gertrud Katzenstein liegt auch ein Stolperstein in Bad Segeberg, vor dem Haus Bismarckallee 5. Die Inschrift lautet: „Hier arbeitete Gertrud Katzenstein Jg. 1866 deportiert 1942 Theresienstadt tot 2.9.1942“

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Mitteilungen Stadtarchiv Bad Segeberg; Mitteilungen Uri Shani; Theresienstadt Datenbank: http://109.123.214.108/de/document/DOCUMENT.ITI.2945;;

Stolperstein Marie Lion

HIER WOHNTE
MARIE LION
GEB. STERN
JG. 1865
DEPORTIERT 3.10.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 27.2.1943

Marie Lion wurde in Berlin am 8. August 1865 geboren. Ihr Mädchenname war Stern, ein im Adressbuch häufiger Name, so dass schwerlich herauszufinden ist, wer ihre Eltern waren.

Ihr Ehemann war Isaac Lion, der von 1914 bis 1924 in der Kantstraße 44/45 wohnte. Ein Jahr später war an dieser Adresse Isaac Lion nicht mehr verzeichnet, dafür aber „Lion Marie geb. Stern, Witwe“. Isaac Lion war also mittlerweile gestorben. Er hatte eine Agentur für Tuche gehabt, später wurde er auch als „Vertreter für auswärtige Tuchfabriken“ bezeichnet. Das Gewerbe hatte er 1902 von seinem Vater, Isaac Lion sen., übernommen, der es seit den 1890er Jahren betrieb.

In der Kantstraße wohnte Marie Lion noch weitere zehn Jahre, sie ist als „Rentier“ eingetragen, konnte also von ihrem Vermögen leben. Um 1934 wechselte sie in die Schlüterstrasse 52, vielleicht in eine kleinere Wohnung. Als am 17. Mai 1939 bei der Volkszählung jüdische Mieter auf speziellen „Ergänzungskarten“ erfasst wurden, wohnte Marie Lion zwei Häuser weiter in der Pension Phiebig, Schlüterstraße 54. Sie war sicherlich noch nicht lange dort, da das Adressbuch sie noch kurz zuvor als Hauptmieterin in der Nr. 52 erwähnte. Wir wissen nicht, ob Marie Lion aus Bequemlichkeit in die Pension Phiebig zog – dort wurde sie auch verpflegt – oder ob sie genötigt wurde, ihre Wohnung aufzugeben. 1939 unterlagen Juden schon vielen Einschränkungen im Alltag, viele davon nach dem Pogrom vom November 1938 eingeführt. Auch das Mietrecht für Juden war im April gelockert worden, so dass sie leicht gekündigt werden konnten und so „Wohnraum für Deutschblütige“ geschaffen wurde, wie die Nationalsozialisten propagierten.

Marie Lion musste noch einmal umziehen, in eine mit Sicherheit noch bescheidenere Behausung. Ihre letzte Wohnung, von der aus sie zur Deportation abgeholt wurde, war ein Zimmer in einem der beiden „Fremdenheime“ in der Sächsischen Straße 5. Sie wurde von dort zunächst in einem der jüdischen Altersheime interniert, die im September und Oktober 1942 zusätzlich zu dem in der Großen Hamburger Straße als Sammellager herhalten mussten. Denn in diesen Monaten organisierte die Gestapo vier sogenannte „große Transporte“ von je über 1000 Menschen nach Theresienstadt, die Sammelstelle in der Großen Hamburger Straße reichte dafür nicht aus. Die Opfer wurden in geschlossenen Sonderzügen befördert. Am 3. Oktober 1942 fuhr der dritte dieser Züge nach Theresienstadt vom Güterbahnhof Moabit (Putlitzstraße) ab mit Marie Lion und weiteren 1020 Berliner und Brandenburger Juden.

Nur 72 von ihnen überlebten, Marie Lion gehörte nicht zu ihnen. Weit über die Hälfte der Ghettoinsassen wurden weiter in Vernichtungslager deportiert und dort ermordet. Etwa ein Drittel starb schon vorher in Theresienstadt aufgrund der unerträglichen Lebensumstände: Überfüllung, mangelhafte Ernährung, Kälte und miserable Hygiene waren der Nährboden für Seuchen und Krankheiten, die sie dahinrafften. Marie Lion hielt noch den Winter über diesen Verhältnissen stand, am 27. Februar 1943 jedoch starb auch sie in dem ihr zugewiesenen Zimmer 15 des Gebäudes Q 601. Laut offizieller „Todesfallanzeige“ soll sie an einer Lungenentzündung umgekommen sein, was in diesem Fall vielleicht sogar stimmt, aber mit Sicherheit die Folge der Theresienstädter Lebensbedingungen war. Marie Lion ist 77 Jahre alt geworden.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Kartei der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Adressbücher Berlin; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, 2005; Datenbank Theresienstadt

Stolperstein Else Moser

HIER WOHNTE
ELSE MOSER
GEB. PAKULLY
JG. 1876
DEPORTIERT 2.4.1942
GHETTO WARSCHAU
ERMORDET

Else Moser stammte aus Stettin. Sie wurde dort als Else Pacully am 13. April 1976 geboren. Es ist nicht bekannt, ob sie noch in Stettin oder in Berlin heiratete und welchem Beruf ihr Mann nachging. Dieser starb spätestens Anfang der 1930er Jahre und Else Moser bezog als Witwe eine Wohnung in der Wielandstraße 16. Sie hatte zwei Töchter, die beide rechtzeitig emigrieren konnten: Käthe, verheiratete Hirsch, nach Norwood und Holde, verheiratete Piket, nach Santiago de Chile.

Ab Mitte August 1941 lebte Else Moser in der Pension Phiebig in der Schlüterstraße 54. Offen bleibt, ob sie freiwillig dorthin zog oder ob sie dazu genötigt wurde. Wahrscheinlich wohnte sie schon davor zur Untermiete, da das Adressbuch sie letztmalig 1937 in der Wielandstraße aufführte.

Else Moser war erst ein gutes halbes Jahr in der Pension von Rosa Phiebig, als sie Ende März 1942, wie einige andere Bewohner, von der Gestapo mitgeteilt bekam, dass sie zur „Abwanderung“, sprich Deportation, bestimmt sei und davor eine detaillierte „Vermögenserklärung“ auszufüllen habe. Wohin sie deportiert werde, teilte man ihr nicht mit.
Else Mosers „Vermögen“ war bereits stark eingeschränkt: 380.- RM waren auf ihrem Konto und von den 4000.- in Wertpapieren waren bereits 3600 beschlagnahmt für die Reichsfluchtsteuer, die erst sechs Monate später fällig sein sollte. Diese Steuer, die in der Weimarer Zeit zur Verhinderung von Kapitalflucht dienen sollte, wurde von den Nationalsozialisten instrumentalisiert zur Ausraubung vornehmlich von Juden. Sie wurde von ihnen erhoben, wenn jemand nur im Verdacht stand, ausreisen zu wollen, später auch bei unfreiwilliger „Ausreise“ wie der Deportation. Die Steuer sollte 25% von Vermögen über 50000 RM betragen. Ob Else Moser oder ihr verstorbener Mann jemals soviel Geld besaßen, wissen wir nicht – die Höhe der beschlagnahmten Summe weist auf ein niedrigeres Vermögen hin.

Ansonsten beschränkte sich der Besitz von Else Moser auf spärliche Kleidung und Bettwäsche. Einiges musste sie dennoch zurücklassen und es wurde wenig später von dem Trödler Paul Linke, Krumme Straße 43, für 70,70 RM ersteigert.

Am 30. März 1942 unterschrieb Else Moser die unter Zwang ausgefüllte Vermögenserklärung sowie ein weiteres Formular, laut dem ihr bekannt sei, dass sie bei falschen Angaben, die noch „vor dem Abtransport“ geprüft würden, „auf keine Nachsicht zu rechnen“ habe. Eine eher gegenstandslose Drohung, denn viel Zeit für eine solche Überprüfung blieb wohl nicht: Else Moser, die in das Sammellager in der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße gebracht worden war, wurde schon drei Tage später, am 2. April 1942, kurz vor ihrem 66. Geburtstag, vom Bahnhof Grunewald aus in das Warschauer Ghetto deportiert.

In diesem völlig überfüllten Ghetto, 1940 von den deutschen Besatzern in der Altstadt von Warschau eingerichtet, mussten die Bewohner – zunächst polnische, dann auch deutsche Juden – streng bewacht und hinter hohen Mauern ein menschenunwürdiges Dasein fristen. „Unbefugtes Verlassen“ des Ghettos wurde mit der Todesstrafe geahndet. In unzureichendem Wohnraum eingepfercht, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, mit minimalen Lebensmittelrationen abgespeist und dennoch zu Zwangsarbeit herangezogen, wurden sehr viele Menschen dort Opfer von Kälte, Hunger und Seuchen. Das von Emanuel Ringelblum gegründete Untergrundarchiv („Oneg Schabbat“-Archiv) blieb der Nachwelt erhalten und legt Zeugnis über das Leben und Sterben im Ghetto ab.

Das Ghetto wurde durch die SS ab Mitte Juli 1942 nach und nach aufgelöst. Am 22. Juli fand die erste der Deportationen in Vernichtungslager statt, die meisten Gettobewohner wurden nach Treblinka geschickt und dort ermordet. Anfang 1943 lebte vielleicht noch ein Zehntel der vormals bis zu 500000 Ghettobewohner. Von ihnen waren inzwischen etliche zum bewaffneten Widerstand entschlossen und am 19. April 1943 begann der Aufstand im Ghetto. Trotz brutalster und blutiger Niederschlagung durch die Deutschen währte der Aufstand bis 16. Mai. Danach wurde das Ghetto dem Erdboden gleichgemacht.

Es ist unwahrscheinlich, dass Else Moser den Aufstand und das Ende des Ghettos noch erlebte. Wir wissen aber weder ihr Todesdatum noch ob sie bereits im Ghetto oder in einem der Vernichtungslager zu Tode kam.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Berliner Adressbücher

Stolperstein Erwin Nellhaus

HIER WOHNTE
ERWIN NELLHAUS
JG. 1906
DEPORTIERT 19.2.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Erwin Nellhaus wurde am 31. August 1906 in Berlin geboren. Sein Vater war der Kaufmann Bernhard Nellhaus. Im jüdischen Adressbuch von 1931 wurden Bernhard und Erwin mit der gleichen Adresse aufgeführt, Dunckerstraße 88. Im allgemeinen Berliner Adressbuch wurde Bernhard Nellhaus erstmals 1897 genannt und seit 1906, Erwins Geburtsjahr, in der Dunckerstraße 88 in Prenzlauer Berg eingetragen. Erwin Nellhaus hatte im allgemeinen Adressbuch keinen eigenen Eintrag. 1935 wurde Bernhard darin letztmalig erwähnt, Erwin hatte da wohl schon woanders zur Untermiete gewohnt. Wann er in die Schlüterstraße 54 gezogen war, bleibt unklar, er wurde dort bei der Volkszählung im Mai 1939 in der „Ergänzungskartei“ in der Pension Phiebig erfasst.

Diesen zusätzlichen Fragebogen hatten alle Haushalte auszufüllen, in denen auch Juden wohnten. In ihm wurden eine eventuelle Hochschulbildung abgefragt sowie die jüdische Zugehörigkeit der vier Großeltern. Die Wahrung des Statistikgeheimnisses sicherte man zwar zu, aber 1942 wurden die Daten dem Reichssippenamt übermittelt. Dennoch sind sie vermutlich nicht systematisch in die Vorbereitung der Deportationen eingeflossen, da diese schon längst im Gange waren. Verwendung fanden sie aber bei der Verpflichtung von Juden zu Zwangsarbeit.

Von Erwin Nellhaus können wir annehmen, dass die Schlüterstraße seine letzte freiwillig gewählte Adresse gewesen ist. In der unmittelbar vor der Deportation auszufüllenden „Vermögenserklärung“ gab er im Februar 1943 an, seit dem 1. Oktober 1941 in der Prenzlauer Straße 16, Vorderhaus I b, bei Baszynski zu wohnen (die Prenzlauer Straße entspricht heute dem nördlichen Teil der Karl-Liebknecht-Straße). Dort teilte er sich ein Zimmer mit dem vier Jahre jüngeren Herbert Rosenberg, sein Mietanteil betrug 22,50 RM. Wir wissen nicht, ob Erwin Nellhaus wie sein Vater von Beruf Kaufmann war, 1943 war er „Arbeiter“, zwangsverpflichtet bei der Hartung AG, Werk Borsigwalde.

Erwin Nellhaus gab kein Vermögen an, keine Verwandten, an Kleidung nur „diverse gebrauchte Sachen“. Er war ledig, sein Vater war wohl noch nicht so lange verstorben, denn er zahlte für ihn noch Schulden beim Wohlfahrtsamt Prenzlauer Berg ab, 3.- RM im Monat. Das Formular ist offensichtlich unwillig ausgefüllt, man kann sich denken, dass Erwin schon vieles an Einschränkungen, Schikanen und Demütigungen von Behörden und vermutlich auch etlichen Mitbürgern durchgemacht hatte. Jetzt ahnte er bestimmt, was die Deportation bedeutete. Er unterschrieb die Erklärung am 11. Februar 1943, am 17. Februar wurde ihm in der Sammelstelle Große Hamburger Straße 26, ein ehemaliges jüdisches Altersheim, die Verfügung zugestellt, dass sein gesamtes Vermögen vom Staat eingezogen werde – der blanke Hohn, da er so gut wie nichts mehr besaß. Zwei Tage später, am 19. Februar 1943, wurde Erwin Nellhaus vom Güterbahnhof Putlitzstraße aus nach Auschwitz verschleppt. Mit ihm wurden weitere Bewohner der Prenzlauer Straße 16 deportiert, unter ihnen seine Wirtin Eva Baszynski, geb. Lewinson und deren 37-jährige Tochter Hildegard sowie Erwin Nellhaus’ Zimmergenosse Herbert Rosenberg. Sie alle kehrten nicht zurück. Ob Erwin Nellhaus gleich bei Ankunft in die Gaskammer geschickt wurde, ist nicht dokumentiert, möglicherweise gehörte der noch junge Nellhaus zu den 140 Männern (plus 85 Frauen), die zunächst noch zur Zwangsarbeit ins Lager eingewiesen und erst später ermordet wurden.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher

Stolperstein Rosa Phiebig

HIER WOHNTE
ROSA PHIEBIG
GEB. GRUNWALD
JG. 1881
DEPORTIERT 29.1.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Rosa Phiebig wurde als Rosa Grunwald am 12. Dezember 1881 in Stolzenhagen bei Stettin geboren. Dort, in Stettin, heiratete sie mit 20 Jahren am 19. Januar 1902 den Kaufmann Carl Phiebig. Im November des gleichen Jahres wurde ihr Sohn Fritz, ein knappes Jahr später die Tochter Susanne geboren.

1910 zog die Familie nach Berlin, Carl Phiebig meldete 1916 ein Gewerbe an als „Stadtagent“ für Tuche, Vertreter der Firma Gebr. Franken, Aachen. Die Agentur war in der Dorotheenstraße, der Wohnsitz in der Charlottenburger Witzlebenstraße 12a. 1921 musste er die Agentur aufgeben, ließ sich aber weiter als Vertreter eintragen und war aus seiner Wohnung tätig. 1934 stellte er dann die Arbeit ganz ein, zwei Jahre später war die Firma erloschen.

Sohn Fritz war inzwischen Innenarchitekt geworden und hatte einen eigenen Hausstand gegründet, 1932 ist er nach Paris umgezogen. Tochter Susanne war Buchhalterin, arbeitete bei der Firma Sally Guggenheim und lebte noch bei ihren Eltern.

Die Familie wohnte mittlerweile in der Wielandstrasse 14 und hatte dank Rosa eine neue Einkommensquelle gefunden: Rosa Phiebig betrieb ab 1934 eine Familienpension in ihrer 8-Zimmerwohnung: zwei Zimmer bewohnten Phiebigs selbst, 6 vermieteten sie als Leerzimmer mit Verpflegung.
Sei es weil sie Schwierigkeiten mit dem Vermieter bekam, sei es weil sie sich vergrößern wollte – „es herrschte eine starke Nachfrage für jüdische Pensionen im Westen Berlins“ wird ihre Tochter später zu Protokoll geben – , Pension Phiebig zog 1936 in die nahe Schlüterstraße 54. Hier wurden nun 15 Zimmer vermietet, auch möbliert, im 1. und im 4. Stock. Rosa Phiebig hatte jetzt eine Partnerin, Gertrud Abramczyk, die die Wohnung im 4. Stock gemietet hatte und dort nur ein Zimmer mit ihrem Mann, Justizrat a.D. Abraham Abramczyk, selbst bewohnte. Die Pensionäre zahlten im Durchschnitt 150.- RM monatlich für das Zimmer mit Verpflegung, es handelte sich in der Regel um wohlhabende alleinstehende oder verwitwete ältere Damen oder Herren. Einige Ehepaare waren auch darunter.
Am 13. Februar 1938 starb Carl Phiebig. Seine Witwe führte die Pension mit Frau Abramczyk weiter, obwohl für ihre Pensionäre und auch für sie selbst unter der systematischen Judenverfolgung der Nationalsozialisten die Diskriminierungen und Einschränkungen zunehmend zunahmen. Im April 1939 wanderte Tochter Susanne nach England aus, nannte sich später dort in Susan Phillips um.

Der Pensionsbetrieb lief zwar weiter, aber bald sah man sich mit Zwangseinweisungen konfrontiert. Die Nationalsozialisten strebten an, Juden zwangsweise in „Judenwohnungen“ und „Judenhäusern“ zusammenzupferchen, um Wohnraum für „deutschblütige“ Mieter zu schaffen. Hierzu war bereits 1939 das Mietrecht für Juden gelockert worden. In Berlin wurde das besonders ab Anfang 1941 betrieben, da Ersatzwohnraum nicht nur infolge von Fliegerangriffen benötigt wurde, sondern auch aufgrund der Baupläne von Generalbauinspektor Albert Speer für die Vision „Welthauptstadt Germania“, im Zuge derer ganze Straßenzüge abgerissen wurden. Eine der Bewohnerinnen der Pension Phiebig, Gertrud Friedländer, schrieb im November 1941 „…Andererseits wurden unsere Zimmer wieder besichtigt und diesmal werden wir wohl Mitbewohner bekommen; das nimmt man ja heute nicht mehr so ungern in Kauf, wenn wir nur nicht fortmüssen.“
Eine Hoffnung, die auf grausame Weise unerfüllt blieb: nach und nach wurden alle jüdischen Bewohner der Schlüterstraße 54 und eben auch der Pension Phiebig deportiert, Gertrud Friedländer als eine der ersten. Einige wurden vor der Deportation noch mal gezwungen, in eine andere Wohnstatt umzuziehen.

Rosa Phiebig selbst wurde am 29. Januar 1943 mit weiteren 1003 Berliner Juden vom Bahnhof Putlitzstraße aus nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Quellen: Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Landesarchiv Berlin; Berliner Adressbücher

Stolperstein Otto Rathe

HIER WOHNTE
OTTO RATHE
JG. 1875
VOR DEPORTATION
FLUCHT IN DEN TOD
1.4.1942

Stolperstein Paul Rathe

HIER WOHNTE
PAUL RATHE
JG. 1873
VOR DEPORTATION
FLUCHT IN DEN TOD
1.4.1942

Paul Rathe und Otto Rathe waren Brüder. Beide wurden in Berlin geboren, Paul am 6. Februar 1873, Otto am 4. Mai 1875, als Söhne von Hermann Rathe und Natalie, geb. Cohn. Hermann Rathe war Teilhaber einer Fabrik, in der zunächst Metallknöpfe, später Goldleisten hergestellt und auch exportiert wurden. Um 1898 starb er und seine Witwe zog – offenbar mit ihren Söhnen – in eine Wohnung am Kurfürstendamm 261 (heute Budapester Straße). 1902 verzeichnet das Adressbuch erstmals auch Paul Rathe, ebenfalls am Kurfürstendamm 261. Er war bereits Leutnant der Reserve und Kammergerichtsreferendar. Er hatte also vor, eine juristische Laufbahn einzuschlagen. 1905 hatte er sich für die Polizeilaufbahn entschieden, er war als Polizei-Referendar eingetragen. Otto machte eine kaufmännische Ausbildung und hatte ab 1906 einen selbständigen Eintrag im Adressbuch, wiederum mit der gleichen Adresse.

Ein Jahr später wohnten beide Brüder am anderen Ende des Kurfürstendamms, Nummer 124 (Halensee). Ihre Mutter war wahrscheinlich gestorben. Paul bezeichnete sich inzwischen als Polizei-Assessor. 1923 – Paul war zum Polizei-Rat aufgestiegen – findet man beide Brüder in Treptow, Rethelstraße 8. Otto hatte nun eine Anstellung als Rendant (Rechnungsführer), später auch als Geschäftsführer bezeichnet, vermutlich schon damals dort, wo er bis in die 1930er Jahre hinein arbeiten sollte: bei der Treptower Sternwarte, heute Archenold-Sternwarte.

Beide Brüder blieben ledig und wohnten in der Rethelstraße zusammen, bis sie 1936, auch gemeinsam, nach Charlottenburg zogen. Otto wurde vermutlich Ende dieses Jahres wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen, so wie auch der Leiter der Sternwarte und Sohn des Begründers, Günther Archenold. Paul war schon 1933 in den Ruhestand versetzt worden, wahrscheinlich aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Beide, Paul und Otto Rathe, betonten, dass sie sich nicht dem jüdischen Glauben verbunden fühlten: Paul war evangelisch, Otto bezeichnete sich als konfessionslos. Aber dies nützte ihnen wenig.

Im Juni 1936 also mieteten die Brüder ein gemeinsames Zimmer in der Familienpension von Rosa Phiebig in der Schlüterstraße 54. Otto, Geschäftsführer a.D., erhielt eine nicht bezifferte Rente, Paul, Polizei-Rat i.R., bekam eine Pension, die allerdings für „Zwangspensionierte“ durch die „Siebente Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 5. Dezember 1938 reduziert wurde.

Ende März 1942 erhielten die Brüder Rathe, wie auch andere Bewohner der Pension Phiebig, die Aufforderung, die „Vermögenserklärung“ auszufüllen und sich für die „Abwanderung“ (für die auch sie 50 RM bezahlen mussten) bereit zu halten. Paul und Otto füllten das Formular minutiös aus, 178 RM im Monat brauche jeder für den Lebensunterhalt, wahrscheinlich der für sie durch „Sicherheitsanordnung“ festgelegte Betrag. Über die ca. 17000 RM in Wertpapieren, die jeder hatte, konnten sie schon seit längerem nicht mehr frei verfügen. Atlas, Weltkugel, Theaterglas und 225 Bücher zeugen von Bildungsbeflissenheit, die Kleiderliste davon, dass sie trotz aller widrigen Umstände auf ein gepflegtes Aussehen bedacht waren, so etwa die hohe Zahl von Krawatten und Kragen, die jeder besaß.

Am 30. März 1942 unterschrieben beide die jeweilige Vermögenserklärung, der erzwungenen „Abwanderung“ mochten sie sich jedoch nicht stellen: am 1. April flüchteten sie, die praktisch ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht hatten, auch gemeinsam in den Tod. Nach dem Zweiten Weltkrieg berichtete ein entfernter Verwandter, Paul Rathe habe sich in seinem Büro im Polizeipräsidium das Leben genommen. So unwahrscheinlich das klingt, etwas mag vielleicht dran sein, denn die Schätzer der Gestapo gaben im April 1942 zu Protokoll, sie hätten das Inventar nicht bewerten können, da „sich laut Hausverwaltung die Schlüssel bei der Polizei“ befänden.

Schließlich wurde das Zimmer der Brüder durch einen bestellten Nachlasspfleger geräumt, der durch die Versteigerung der Einrichtung noch über 3000 RM erzielte und einen Wertpapierbestand von fast 40000 RM ausmachte. Er ermittelte auch ganz förmlich und recht umständlich sieben mögliche Erben, von denen einige im jüdischen Altenheim Große Hamburger Straße 26, andere bereits emigriert waren, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass sie alle „nicht in Betracht“ kämen. Das ganze Vermögen wurde also bedenkenlos vom Staat „eingezogen“.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Landesarchiv Berlin; Berliner Adressbücher

Stolperstein Julie Sahlmann

HIER WOHNTE
JULIE SAHLMANN
GEB. GUTMANN
JG. 1875
DEPORTIERT 29.1.1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 24.11.1944

Julie Sahlmann wurde am 18. Juli 1875 in Stuttgart geboren als Tochter von Nathan Gutmann und Sophie geb. Dessauer. Einige Quellen geben ihr Geburtsdatum mit 17. August an, es dürfte sich dabei um einen Zahlendreher handeln.

Am 25. April 1895 heiratete Julie Gutmann den acht Jahre älteren Kaufmann Louis Sahlmann aus Fürth, auch Joseph Bär genannt. Die Hochzeit fand in Stuttgart statt, das Paar lebte anschließend in Fürth in der vornehmen Promenadenstraße (heute Hornschuchpromenade), wo am 7. Juni 1896 ihre Tochter Franziska auf die Welt kam. Louis Sahlmann betrieb in Fürth die Firma Bernhard Sahlmann, einen Hopfengroßhandel, der nach seinem Vater benannt war. Alle Brüder seines Vaters und fast alle Neffen waren ebenfalls im Hopfengeschäft tätig, die Familie stammte aus Burghaslach. 1818 wurde Louis in Fürth zum Kommerzienrat ernannt.

Am 3. Oktober 1925 starb Louis Sahlmann, Julie war nun Witwe. Ihre Tochter hatte 1918 nach Nürnberg geheiratet, den Wirtschaftswissenschaftler Robert Ehrenbacher, auch aus einer Hopfenhändlerdynastie stammend. Ein Jahr darauf war dort Julies Enkelin Marianne geboren worden. Ob Julie bald nach Louis’ Tod nach Berlin ging ist unklar aber unwahrscheinlich. Denn 1933 reichte Franziska die Scheidung ein und wohnte, vermutlich mit der jungen Tochter, bis Anfang 1934 wieder in Fürth. Danach ging sie nach Berlin, und es ist plausibel, dass Julie mit ihr umzog oder ihr folgte.

In Berlin hatten weder Julie noch Franziska eine eigene Wohnung, sie wohnten zur Untermiete oder bei Verwandten. Mehrere der Fürther Sahlmanns waren in die Hauptstadt gezogen, zum Beispiel Cousin Kurt Sahlmann, der zunächst in Berlin, dann in Kleinmachnow lebte. Julies verwitwete Schwägerin Clara Sahlmann wohnte in einem „Familienheim“ in Berlin-Grunewald. Sehr wahrscheinlich ist, dass Julie von Anfang an oder bald auch in eine Pension zog, die seit 1934 von Alice Schlesinger in der Schlüterstraße 54 geführt wurde. Dort wurde Julie Sahlmann im Mai 1939 bei der Volkszählung registriert, eine Zählung, bei der Juden in gesonderten Fragebögen erfasst wurden, was späteren Diskriminierungsmaßnahmen Vorschub leistete, z. B. der Zwangseinweisung von Juden in andere Wohnungen, um Wohnraum für „Deutschblütige“ frei zu machen.

So musste Julie Sahlmann im November 1942 mit der Witwe Emmy Mattull in der Bleibtreustraße 33 zusammenziehen. Emmy Mattull hatte selbst vorher in der Grolmannstraße gewohnt. Eine von der NS-Verwaltung für Julie „versehentlich angelegte“ Akte legt nahe, dass sie vor der Bleibtreustraße schon einmal umgezogen war, in die Xantener Straße 19. Hier wohnte auch ihre Tochter Franziska Ehrenbacher, genannt Franzi, die auch davor eine andere Wohnung hatte. Vielleicht war die Enkelin Marianne ebenfalls dort. Wahrscheinlich war Julie auch in diesem Haus, als ihre Tochter dem Druck der Verfolgung nicht mehr standhielt und am 29. August 1942 Selbstmord beging – siebzehn Tage nachdem Clara Sahlmann, die Witwe von Louis’ Bruder Justus, in den Tod geflüchtet war. Schließlich musste Julie noch erleben, dass am 9. Dezember 1942 ihre Enkelin Marianne Ehrenbacher deportiert wurde.

Sechs Wochen später musste sie selbst dieses Schicksal erleiden. Julie Sahlmann wurde zunächst in das ehemalige jüdische Altenheim in der Gerlachstraße 21 gebracht, das als Durchgangslager für ältere zu Deportierende dienen musste. Dort unterschrieb sie am 13. Januar 1943 die von ihr verlangte „Vermögenserklärung“, in der sie nur spärliche Angaben gemacht hatte: an Vermögen hätte sie noch ca. 1500.- RM, Wertpapiere seien für die Reichfluchtsteuer gepfändet, im übrigen hätte sie noch Schulden beim „Zahnbehandler“ (diese verächtliche Berufsbezeichnung mussten jüdische Zahnärzte verwenden) Dr. Kubatzky.

Die Finanzverwaltung stellte fest, dass ihr Wertpapiervermögen 38 800.- Reichsmark betrug, die sie, zusammen mit dem Bargeld und dem Versteigerungserlös spärlicher persönlicher Gegenstände, als „staats- und volksfeindliches Vermögen“ einziehen konnte. Vorher noch aber nötigte man Julie zu einem „Heimeinkaufsvertrag“, wonach sie für einen angeblichen „Heimplatz“ im „Altersghetto“ Theresienstadt im Voraus bezahlte. Der zu zahlende Betrag ging von einer Lebenserwartung von 85 Jahren aus à 150.- RM pro Monat plus beträchtlicher „Spenden“ für die Finanzierung von „Heimplätzen“ anderer, nicht vermögender Juden. Der Vertrag garantierte Unterbringung, Verpflegung und Krankenversorgung bis zum Lebensende. Er wurde mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland geschlossen, die die Unterbringung in Theresienstadt zu finanzieren hatte – im „Auftrag“ des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Die Reichsvereinigung konnte jedoch nur begrenzt über dieses Geld verfügen, nach ihrer Auflösung im Juni 1934 fiel der beträchtliche Überschuss dem RSHA zu. Da das eigentliche Vermögen der Deportierten von der Oberfinanzdirektion und nicht vom RSHA eingezogen wurde, war letzteres an den Heimeinkaufsverträgen interessiert, deren Ertrag es sich letztlich weitgehend aneignen konnte.

Es erübrigt sich zu sagen, dass der Vertrag in allen seinen Punkten überaus zynisch war. Am 29. Januar 1943 wurde Julie Sahlmann mit 99 weiteren Leidensgenossen nach Theresienstadt deportiert. Was sie dort erwartete, waren überfüllte und schlecht geheizte Wohnstätten, unzureichende Ernährung und mangelhafte Krankenbetreuung. Hinzu kamen katastrophale hygienische Verhältnisse. An ein Lebensalter bis 85 Jahre war nicht zu denken. Über ein Drittel aller Insassen kamen unter diesen Umständen weit vorher ums Leben, von den anderen wurde der größere Teil in Vernichtungslager weiter deportiert und dort ermordet. Julie Sahlmann gehörte zu denen, die besonders lange diese menschenverachtenden Bedingungen aushielt. Am 24. November 1944 kam aber auch sie in Theresienstadt zu Tode.

Julies Enkelin Marianne Ehrenbacher wurde in Auschwitz ermordet. Kurt Sahlmann, Vetter von Julies Ehemann, erfuhr 1938 bei einer Reise nach Riga, dass sein Haus in Kleinmachnow geplündert und zerstört worden war. Er blieb in Riga, wurde aber nach der deutschen Besetzung 1941 verhaftet und 1942 in das dortige Ghetto interniert, schließlich 1944 in Riga erschossen. Für ihn wurde am Kleinmachnower Erlenweg 2 im Jahr 2009 ein Stolperstein verlegt

Am gleichen Tag wie Julie Sahlmann, dem 29. Januar 1943, wurde ihre letzte Wirtin Emmy Mattull von einer anderen Sammelstelle aus, der Großen Hamburger Straße 26, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbücher Fürth; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, 2005; http://rijo-research.de

Stolperstein Alice Schlesinger

HIER WOHNTE
ALICE SCHLESINGER
GEB. WEIGERT
JG. 1894
VERSTECKT GELEBT
VERHAFTET
DEPORTIERT 28.6.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Alice Schlesinger war Berlinerin. Sie wurde in der Hauptstadt am 12. Dezember 1894 als Alice Weigert geboren. Wir wissen nichts über ihr Elternhaus, auch nicht, wann sie Adolf Schlesinger heiratete und welchem Beruf dieser nachging. Das Paar hatte eine Tochter, Hedi Leonie, am 13. April 1924 geboren. Möglich, dass sie weitere Kinder hatten.

Am 10. Juni 1930, Hedi war sechs Jahre alt, starb Adolf Schlesinger. Alice Schlesinger zog mit ihrer Tochter in eine vermutlich kleinere Wohnung in der Barbarossastraße 44. Etwa vier Jahre später bezogen sie in der Schlüterstraße 54 eine Wohnung, die groß genug war, um mehrere Zimmer weiter zu vermieten, „Familienheim Schlesinger“ steht im Adressbuch. Damit konnte Alice ihren Lebensunterhalt verdienen, denn es gab eine große Nachfrage nach jüdischen Pensionen unter noch vergleichsweise wohlhabenden Juden, die genötigt wurden, ihre geräumigen Wohnungen zu verlassen. Im Haus Schlüterstraße 54 wird sich ein Jahr später eine weitere Pension, Pension Phiebig, etablieren und auch andere Hausbewohner hatten Untermieter. Alice Schlesinger vermietete nicht nur möblierte Zimmer, sondern auch solche, wo Mieter eigene Möbel mitbringen konnten.

1939 steht das „Familienheim“ letztmalig im Adressbuch. Das heißt zwar nicht unbedingt, dass Alice Schlesinger ihre Pension ganz aufgegeben hatte. Aber spätestens ab Ende 1940, mit der Verfügung zur Zwangsarbeit für alle Juden – vielleicht aber auch vorher – wurde Alice Schlesinger zur Arbeit in der Industrie zwangsverpflichtet und konnte vermutlich ihre Pension nicht weiterbetreiben. Das bedeutete wohl auch, dass sie die Wohnung nicht mehr halten konnte. Im Mai 1942 wurde sie zur Untermiete um die Ecke in der Niebuhrstrasse 77 bei Eylenburg eingewiesen. Unklar ist, ob sie erst dann aus der Schlüterstraße 54 auszog. Dr. Ernst Eylenburg war ein Frauenarzt, der sich seit der entsprechenden Verordnung im Juli 1938 nur noch „jüdischer Krankenbehandler“ nennen und nur Juden behandeln durfte. Auch seine Frau Elisabeth war Ärztin.

Alice Schlesinger war zu diesem Zeitpunkt zur Arbeit bei Hermann Henseler eingesetzt, eine Fassondreherei in der Hollmanstraße 32, vermutlich ein Zulieferer für die Rüstungsindustrie. Alice verdiente dort 20.- RM in der Woche, allein ihre Zimmermiete betrug 60.- RM im Monat. So verwundert es auch nicht, dass auch Hedi, 1942 gerade 18 geworden, bei Henseler arbeitete, sie für 18.- RM die Woche. Mutter und Tochter hatten schon in der Schlüterstraße Deportationen in ihrem unmittelbaren Umfeld mitbekommen, nun mussten sie auch erleben, wie Gunda Eylenburg geb. Radt, Jahrgang 1857 und vermutlich Ernst Eylenburgs Mutter, im September 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Es musste Alice klar sein, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch sie und Hedi dieses Schicksal ereilen würde. Am 16. Februar 1943 tauchten Alice und Hedi Schlesinger unter. Sie hatten kein Glück: Anfang Juni wurden sie aufgegriffen und zur Deportation in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 gebracht, ein umfunktioniertes jüdisches Altersheim. Dort mussten beide eine „Vermögenserklärung“ ausfüllen, in der Alice angab, 1000-1200 RM zu besitzen und an Hausrat und Kleidung lediglich „diverses“. Die Formulare sind am 9. Juni 1943 unterschrieben.

Noch fast drei Wochen mussten Alice und Hedi in dem Sammellager bleiben. Am 28. Juni 1943 wurden sie dann mit 312 anderen Menschen nach Auschwitz deportiert. 163 davon wurden sofort ermordet, die übrigen – darunter 95 Frauen – zur Zwangsarbeit ausgewählt. Dies bedeutete für die meisten Vernichtung durch Arbeit. Auch Alice und Hedi, so sie nicht gleich getötet wurden, überlebten nicht. Ihr Todesdatum ist nicht bekannt.

Monate später, im Oktober, überwies der Chef der Sicherheitspolizei an die Oberfinanzdirektion zwei Beträge: 206,80 und 275,65 RM, offenbar das Geld, das Alice und Hedi bei ihrer Verhaftung bei sich hatten. Der Versuch, auch aus ihren letzten Habseligkeiten Kapital zu schlagen, blieb erfolglos. Der Schätzer meldete: „Schlesinger hat möbliert gewohnt und eigene Sachen nicht besessen. Die Wohnung des Vermieters ist bereits geräumt“. Tatsächlich waren Ernst Eylenburg und seine Frau Elisabeth geb. Marcuse am 4. August nach Theresienstadt verschleppt worden. In der Wohnung blieb Walter Eylenburg, 1929 geboren und wahrscheinlich ein Sohn. Er wurde am 10. September nach Theresienstadt gebracht. Alle drei wurden von dort im Oktober 1944 nach Auschwitz weiter deportiert und dort ermordet.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, 2005; Berliner Adressbücher

Stolperstein Hedi Leonie Schlesinger

HIER WOHNTE
HEDI LEONIE
SCHLESINGER
JG. 1924
VERSTECKT GELEBT
VERHAFTET
DEPORTIERT 28.6.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Stolperstein Ida Wollheim

HIER WOHNTE
IDA WOLLHEIM
GEB. FRANKENSTEIN
JG. 1858
DEPORTIERT 17.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 13.11.1942

Ida Mollheim s Familienname wurde schon zu ihren Lebzeiten öfter fälschlich als „Wollheim“ geschrieben, daher hat sich vermutlich der Fehler auch in das Gedenkbuch des Bundesarchivs und somit auf den Stolperstein eingeschlichen. Da nach neueren Recherchen eindeutig geklärt ist, dass der korrekte Name Mollheim war, wird er in diesem Lebenslauf abweichend von der Inschrift des Stolpersteins verwendet.

Idas Mädchenname war Frankenstein, sie wurde am letzten Tag des Jahres 1858, dem 31. Dezember, in Heepen bei Bielefeld geboren. Ihr Vater war Levi Frankenstein, der in Heepen eine Gaststätte betrieb. 1854 wurde er in den Vorstand der Synagogengemeinde Bielefeld gewählt und 1861 – Ida war zwei Jahre alt – verließ er Heepen, möglicherweise nach Varenholz/Lippe.

Stimmt diese Vermutung, hat Ida dort ihre Kindheit verbracht. Um 1879 heiratete sie dann den Kaufmann Max Mollheim aus Magdeburg und zog mit ihm nach Köthen/Anhalt. Dort brachte sie zwei Töchter zur Welt, 1880 Hedwig und 1883 Elsbeth. Um 1885 siedelte die Familie nach Berlin um. Max Mollheim unterhielt mit seinem Bruder Carl eine Vertretung für Textilfabriken aus Krefeld, Hannover und auch aus Manchester. Im Berliner Adressbuch finden die Gebrüder Mollheim erstmals 1886 Erwähnung. Später betrieben sie getrennte Agenturen, Max spezialisierte sich auf Möbelstoffe. Carl wird im Adressbuch Mitte der 20er Jahre nicht mehr aufgeführt. Max und Ida zogen mit ihren Kindern mehrfach um, 1903 wohnten sie in der Klopstockstraße, später in der Gervinusstraße 12a, ab 1920 in der Dahlmannstraße 1.

1903 heiratete Tochter Hedwig den Kaufmann Martin Simon, ein Jahr später trat dieser als Mitinhaber in Max Mollheims Firma ein. 1905 Bekam Hedwig einen Sohn, den sie Hans Leopold nannte, schon vier Jahre später starb die junge Mutter. Idas zweite Tochter Else heiratete 1911 Julius Bernstein, auch er war in der Textilbranche tätig. Sie wohnten auch in der Gervinusstraße 12a.

Am 2. Dezember 1934 starb Max Mollheim und wurde am 5. Dezember in Weißensee bestattet. Ida zog zunächst mit Tochter Else und Schwiegersohn Julius Bernstein in die Heiligegeiststraße 15. Am Tag der Volkszählung vom 17. Mai 1939 sind alle drei als Untermieter jüdischer Abstammung in der Schlüterstraße 54 erfasst. Ida wohnte dort, wie einige andere jüdische Witwen, in der Pension Schlesinger. Auch Else und Julius wohnten bis zu ihrer Auswanderung 1941 dort.

1942 hatte Ida Mollheim bereits eine neue Adresse, vermutlich nicht ganz freiwillig: Lietzenburger Straße 34, bei Daffis. Bei Landgerichtsdirektor i.R. Eduard Daffis bewohnte sie ein teilmöbliertes Zimmer, für das sie keine Miete zahlen musste – nur die Umlage für Strom und Gas und einen Zuschlag wegen Untermiete, zusammen 9.- RM im Monat.

All das trug Ida Mollheim in die „Vermögenserklärung“ ein, die sie ausfüllen musste, nachdem man ihr Anfang August 1942 eröffnete, sie sei zur „Abwanderung“ in das „Altersghetto“ Theresienstadt bestimmt. In das Erklärungsformular sollten Besitz und Vermögen kleinteilig aufgeführt werden. Ida Mollheim gab überhaupt keine Gegenstände an und über die paar tausend Reichsmark auf ihrem Konto bemerkte sie, verfügungsberechtigt sei ein Fräulein Elisabeth Horn. Offenbar war der Zugang der 83-jährigen an ihr Geld noch weiter eingeschränkt als bei Juden ohnehin nach der Verordnung vom November 1938 „zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“. Am 5. August 1942 unterschrieb Ida Mollheim die Vermögenserklärung. Danach sollte sie eigentlich in dem zum Sammellager umfunktionierten Altersheim Große Hamburger Straße 26 interniert werden. Da die Gestapo aber diesmal vorhatte, an Stelle der bei „Transporten“ nach Theresienstadt üblichen 100 Menschen das Zehnfache davon in einen Sonderzug zu stopfen, mussten noch andere jüdische Einrichtungen vorübergehend als Sammellager herhalten. Ida wurde in die Brunnenstrasse 41 gebracht, dort erhielt sie die ursprünglich auf Große Hamburger Straße adressierte Verfügung zugestellt, nach der ihr gesamter Besitz dem Reich „verfalle“. Zuzüglich zu dem Bankguthaben sollte bei einer späteren Versteigerung von Ida Mollheims Habseligkeiten das Deutsche Reich noch mal 288,40 RM einstecken.

Am 17. August 1942 wurde Ida Mollheim also mit 1001 weiteren Leidensgenossen vom Bahnhof Putlitzstraße aus nach Theresienstadt deportiert und dort in das Zimmer Nr. 58 eines Gebäudes mit der Bezeichnung E a III eingewiesen. Die Bezeichnung „Altersghetto“ sollte suggerieren, dass man hier in aller Abgeschiedenheit, aber angemessen betreut, seinen Lebensabend verbringen könne. Wer noch genug Mittel hatte, wurde sogar zu einem „Heimeinkauf“ gezwungen, womit Unterkunft und Verpflegung garantiert sein sollten. Tatsächlich unterschied sich Theresienstadt aber nur wenig von anderen Konzentrationslagern: Wohnraum und Verpflegung waren absolut unzureichend, Heizmaterial knapp und vor allem die Hygienebedingungen entsetzlich. Die Folge waren Schwächung, Krankheiten und Seuchen, denen viele der bereits geschwächten Menschen nicht standhalten konnten. Entsprechend häufig waren Durchfallerkrankungen, wie sie auch die 83-jährige Ida Mollheim erlitt. Am 13. November 1942, knapp drei Monate nach ihrer Ankunft, erlag sie den unerträglichen Lebensumständen in ihrem Zimmer 58, die offizielle Todesursache: „Darmkatarrh“.

Idas Tochter Else und ihrem Mann Julius Bernstein war noch im Oktober 1941 die Auswanderung nach Ecuador gelungen. Ida Mollheims letzter Wirt, Dr. jur. Eduard Daffis, wurde keine zehn Tage nach ihr, am 26. August 1942, nach Theresienstadt deportiert, seine Frau Johanna war schon am 2. April 1942 in das Warschauer Ghetto verschleppt worden. Keiner von beiden überlebte.

Quellen:
Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Mitteilungen Stadtarchiv Bielefeld; MyHeritage; Berliner Adressbücher; Auskunft Jüdischer Friedhof Weißensee; Todesfallanzeige Theresienstadt: https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/88383-wollheim-ida-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/ (https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/88383-wollheim-ida-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/ )

Recherche und Text: Micaela Haas