Stolpersteine Giesebrechtstraße 18

Hausansicht Giesebrechtstr. 18

Hausansicht Giesebrechtstr. 18

21 von der Hausgemeinschaft gespendeten Stolpersteine wurden am 22.9.2010 verlegt.

Der Stolperstein für Reha Schlesinger wurde von Florence Moehl (Berlin) gespendet und am 15.10.2013 in Anwesenheit von Hausbewohner/innen und Nachbarn sowie einer Klasse der Paula-Fürst-Schule (Gemeinschaftsschule) mit ihrer Lehrerin Madlen Schmitz, die die Stolpersteine putzten und ein Lied sangen, verlegt.

Die Stolpersteine für Dr. Sally Citron und Herrmann Blumenthal wurden am 21.4.2016 verlegt.

Der Stolperstein für Siegmund Reiss wurde am 23. Oktober 2019 verlegt.

Stolperstein für Waldemar Cohn

HIER WOHNTE
WALDEMAR COHN
JG. 1876
DEPORTIERT 27.11.1941
RIGA
ERMORDET 30.11.1941

Waldemar Cohn war ein Sohn des Kaufmannes Carl Cohn und seiner Frau Friederike geb. Wolff. Er wurde am 18. Mai 1876 in Berlin geboren. Damals wohnte Carl Cohn in der Brunnenstraße 119. Da der Name Carl Cohn häufig vorkam, ist nicht zu ermitteln, in welcher Branche er tätig war. Auch wie oft und wohin die Familie in Waldemars Kindheit und Jugend umgezogen ist, lässt sich anhand des Adressbuches nicht klären. Dokumentiert ist lediglich, dass Waldemar einen Bruder namens Julius hatte.

Mit 19 Jahren trat Waldemar eine kaufmännische Lehre bei der Herrenkonfektionsfirma „Hugo Herrmann & Co“ an. Hier sollte er anschließend als Prokurist bis 1931 arbeiten. Im Adressbuch ist Waldemar erst 1911 mit einer eigenen Adresse vertreten: Bornholmer Straße 4. Wir können annehmen, dass er bis 1910 bei den Eltern, vielleicht bei einem verwitweten Elternteil gelebt hat. Anlass des Auszuges dürfte die Heirat mit Emma Hirsch im Oktober 1909 gewesen sein.

Emma Hirsch wurde am 30. November 1881 in Deutsch Krone/Westpreußen geboren. Laut einem in der Gedenkstätte Yad Vashem hinterlegtem Gedenkblatt hieß ihr Vater David, der Name der Mutter ist nicht übermittelt. Wir wissen nicht, wann Emma nach Berlin kam und ob sie allein oder – was wahrscheinlicher ist – mit ihrer Familie kam. Auch der Name David Hirsch kommt mehrmals vor und Emmas Vater ist daher im Adressbuch nicht eindeutig identifizierbar. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ein Mitbegründer der Firma „Hugo Herrmann“ Bernhard Hirsch hieß.

Emma brachte im Oktober 1912 ihren ersten Sohn Herbert Gideon zur Welt, möglicherweise schon in der Giesebrechtstraße 18, in der das Adressbuch Waldemar Cohn bereits 1913 verortet. Im Ersten Weltkrieg war Waldemar an der Front, in Üsküb (Skopje) erkrankte er an Malaria. Nach seiner Rückkehr arbeitete er wieder bei „Hugo Herrmann & Co“, im April 1918 wurde sein zweiter Sohn Heinz Assael geboren. Als Prokurist und später auch Lagerverwalter hatte er ein stabiles Einkommen und die Familie bewohnte in der Giesebrechtstraße 18 eine nicht sehr große, aber gut eingerichtete Wohnung im zweiten Stock des Gartenhauses.

Ende 1930 wurde Waldemars Chef Adolf Wolfstein – seit 1922 Gesellschafter und seit 1928 Alleininhaber von „Hugo Herrmann“ – tot aufgefunden, vermutlich Selbstmord. An der Weltwirtschaftskrise kann es nicht gelegen haben, denn laut Industrie- und Handelskammer hatte das Geschäft noch 1930 mehrere Millionen Umsatz gemacht. Das Unternehmen wurde 1931 an Georg Schönland verkauft und mit dessen Konfektionsfirma zusammengelegt. Allerdings, so die Handelskammer, stellte „Hugo Herrmann“ bessere Kleidung und ausschließlich in Heimarbeit her, Schönland ließ in der Werkstatt arbeiten. Schönland war auch Jude und musste 1939 die Firma liquidieren. 1942 wurde er nach Sobibor deportiert und ermordet.

Aus Anlass des Firmenverkaufs 1931 wurde Waldemar Cohn entlassen. Er fand nochmal Arbeit als Lagerverwalter beim Verband der Allgemeinen Ortskrankenkassen, allerdings mit einem um ein Drittel niedrigerem Einkommen. Lange konnte er aber nicht in dieser Stellung bleiben. Mit der Machtübernahme der Nazis wurde das Berufsleben von Juden zunehmend eingeschränkt. Waldemar Cohn wurde zum 1. April 1933 bei der AOK entlassen und konnte keine neue Arbeit finden. Offenbar war er auch gesundheitlich angeschlagen, denn er erhielt immerhin ein Ruhegeld von der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) wegen Berufsunfähigkeit. Diese Rente dürfte allerdings niedrig gewesen und im Zuge der Diskriminierung der Juden später auch noch gekürzt worden sein. Ein Neffe Waldemars berichtete nach dem Krieg, Waldemar und Emma Cohn seien von verschiedenen Verwandten unterstützt worden.

Während die Söhne noch rechtzeitig emigrieren konnten und sich in Palästina niederließen, hatten Waldemar und Emma sicherlich nicht die beträchtlichen Mittel, die man für eine Auswanderung benötigte. Verarmt, entrechtet und gedemütigt wurden sie schon im November 1941 zunächst in die als Sammelstelle missbrauchte Synagoge in der Levetzowstraße gebracht und am 27. des Monats mit dem 7. Deportationszug aus Berlin zusammen mit über 1050 weiteren Juden nach Riga verschleppt.

Als der Zug drei Tage später, am 30. November 1941, in Riga ankam, erwartete die Menschen ein grausames Schicksal. Auf Befehl des SS-Führers Friedrich Jeckeln wurden alle ausnahmslos sofort in den Wäldern von Rumbula bei Riga erschossen. Dies war eine Eigenmächtigkeit Jeckelns, die selbst Himmler rügte. Denn dieses Schicksal sollten nach Himmlers Richtlinien nur die als „arbeitsunfähig“ Eingestuften erleiden.

Jeckeln war erst seit einem Monat Kommandant in Riga, davor hatte er sich bei der Massenermordung von Juden in der Ukraine hervorgetan. Noch am gleichen 30. November ließ er unter Einsatz von 300 deutschen Polizisten und SS-Leuten und 500 lettischen Hilfspolizisten 27000 lettische Juden im Rigaer Ghetto erschießen, um „Platz“ für die „Reichsjuden“ zu schaffen. Da waren aber die Insassen des ersten Zuges aus Berlin bereits ermordet worden – auch Waldemar und Emma Cohn.

Friedrich Jeckeln wurde am 3. Februar 1946 von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Emma Cohn

HIER WOHNTE
EMMA COHN
GEB. HIRSCH
JG. 1881
DEPORTIERT 27.11.1941
RIGA
ERMORDET 30.11.1941

Emma Hirsch wurde am 30. November 1881 in Deutsch Krone/Westpreußen geboren

Stolperstein für Clara Jacobsohn

HIER WOHNTE
CLARA JACOBSOHN
GEB. LIPPMANN
JG. 1878
DEPORTIERT 28.3.1942
PIASKI
ERMORDET

Am 25. Dezember 1878 vormittags um halb sieben wurde in der Steglitzer Albrechtstraße 20 Clara Lippmann geboren. Ihr Vater, der Kaufmann Leopold Lippmann hatte sie beim Standesamt Steglitz angemeldet. Die Mutter Josephine war eine geborene Klein. Leopold Lippmann stammte aus Wronke, Kreis Samter (heute Wronki). Die Familie hatte in Steglitz, das damals noch nicht nach Berlin eingemeindet war, keine eigene Wohnung. Wann sie in die Hauptstadt gezogen ist, konnte nicht herausgefunden werden. Im Adressbuch Berlin konnte der Name Leopold Lippmann gefunden werden – der Name kommt häufiger vor. Erstmals eindeutig identifizierbar 1899 in der Ritterstraße 54. 1902 kauft Leopold zusammen mit einem Kompagnon die Zigarrenimportfirma „Friedrich W. Schulze“ von dem Gründer, Friedrich Wilhelm Schulze. Bald war Leopold Lippmann Alleininhaber und gründete Filialen in Hamburg, Kiel und Posen. Das Geschäftslokal in Berlin, zunächst in der Friedrichstraße 136, wurde 1904 in die Reichshallen, Leipziger Straße 77, verlegt, ein Komplex mit Theater, Café und Restaurant. Später befand es sich wieder in der Friedrichstraße. Der Umsatz lief offenbar nicht so wie erwartet, nach und nach gab Leopold die Filialen außerhalb Berlins auf. Um 1908 spezialisierte er sich auf die Vertretung der Dresdener Zigarettenmarke “Kios”. Leopold Lippmann selbst wohnte mit seiner Familie in der Bayreuther Straße, erst in der Nr. 11, dann in der Nr. 18.

Friedrich W Schulze Zigaretten Importeur

Dort wohnte Clara noch 1915 mit ihrem Vater – Claras Mutter war bereits verstorben -, als sie am 2. Juni in Charlottenburg den sieben Jahre älteren verwitweten Kaufmann Jaques Jacobsohn heiratete. Jaques (selten auch Jacques geschrieben) stammte aus Ostrowo/Posen und war 1902 nach Berlin gekommen. Er war noch nicht lange Witwer. Seine Frau Gertrud, geb. Meinhardt war mit nur 32 Jahren am 27. Oktober 1914 gestorben. Jaques Jacobsohn betrieb – offenbar von seiner Wohnung aus – in der Friedenauer Hertelstraße 9 eine Vertretung für recht unterschiedliche Erzeugnisse und Firmen: „Deutsche Margarine-Industrie, Deutsche Holzstreumehl-Industrie u. Chem. Produkte“.
Clara und Jaques wohnten wohl zunächst in der Hertelstraße, nach Kriegsende dann in der Sesenheimer Straße 30. Ob sie Kinder hatten, wissen wir nicht.

1920 erhält Jaques die Erlaubnis für Großhandel mit Schmalz, Butter und Käse. Sein Handel ist nun auf „Backpulver, Nährmittel u. chem. Erzeugnisse“ ausgerichtet. Ein Geschäftslokal hat er nicht, vermutlich deshalb kaufte er von seinem Schwiegervater 1922 die Firma „Friedrich W. Schulze“, da Leopold Lippmann den Zigarrenhandel inzwischen aufgegeben hat. Unter diesem Namen verkaufte Jaques Lebensmittel in der Kaiser-Friedrich-Straße 17a, wo er laut Industrie und Handelskammer (IHK) einen „großen Straßenladen mit Kellerräumen“ hatte. Zudem führte er die – unzulässige, so die IHK – Bezeichnung „Deutsche Margarine-Gesellschaft“.

Brief Deutsche Margarine-Gesellschaft

Auch Jaques‘ Geschäfte scheinen nicht so gut gelaufen zu sein, denn bereits zwei Jahre später verkauft er das Ganze an seinen kurzfristigen Mitinhaber, Wilhelm Lindemann, der bald darauf in Konkurs geht – vielleicht eine Folge der großen Inflation. Jaques ist nunmehr lediglich als Kaufmann und Vertreter im Adressbuch eingetragen. 1933 verschwindet der Eintrag ganz um erst 1935 mit der Adresse Klopstockstraße 38 wieder aufzutauchen, jetzt Jakobson geschrieben. Das war auch seine Wohnadresse – und somit auch die Claras – als er am 22. Dezember 1936 im Alter von 66 Jahren im Städtischen Robert-Koch-Krankenhaus starb. Seine letzte Berufsbezeichnung war „Provisions-Vertreter“.

Clara konnte in Zeiten, in denen das Leben für Juden zunehmend schwieriger wurde, wohl die Wohnung nicht halten und war gezwungen, in Untermiete zu ziehen, möglicherweise schon 1936 in die Giesebrechtstraße 18. Dort jedenfalls wurde sie bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 registriert. Aber auch hier konnte sie nicht lange bleiben. Als sie im März 1942 von der Gestapo in das Sammellager Levetzowstraße 7/8 – eine von den Nazis umfunktionierte Synagoge – einbestellt wurde, wohnte sie in der Mommsenstraße 22, sehr wahrscheinlich nicht freiwillig. Denn zu der großen Anzahl von Verboten, Verordnungen und Entrechtungen, die das Alltagsleben von Juden immer unerträglicher machte, gehörte auch die Aufhebung des Mieterschutzes. Juden konnten beliebig aus ihren Wohnungen verwiesen und bei anderen Juden eingewiesen werden, um so Wohnraum für Nichtjuden frei zu machen. Ein Höhepunkt der Verfolgung war allerdings dann die Deportation.

Clara Jacobsohn wurde am 28. März 1942 mit nahezu 1000 weiteren Menschen vom Güterbahnhof Moabit aus in das Ghetto Piaski bei Lublin verschleppt. Da Piaski keinen Bahnhof hatte, mussten sie in Trawniki aussteigen und die letzten 12 km zu Fuß auf der winterlichen Landstraße zurücklegen. Piaski galt als „Transit-Ghetto“. Bereits 1940 hatten die Deutschen das zunächst offene Ghetto eingerichtet, es aber später abgeriegelt. Als die Berliner Juden ankamen war das Lager bereits überfüllt, Piaskis Bevölkerung selbst war zu 2/3 jüdisch und zusätzlich hatte es „Transporte“ in das Ghetto aus Stettin und Schneidemühl gegeben. Neben der Überbelegung waren die Lebensbedingungen durch Mangelernährung, miserable Hygiene und Krankheiten gekennzeichnet. Wer nicht diesen Umständen erlag, wurde oft schon nach kurzer Zeit weiter nach Belcek oder Sobibor deportiert und dort ermordet. Die Spur von Clara Jacobsohn verliert sich in Piaski, es konnte nicht herausgefunden werden, ob sie bereits dort oder in einem der Vernichtungslager umgekommen ist.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin, Handelsregister A Rep 342-02/51600; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; /www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein Dr. Sally Citron

HIER WOHNTE
DR. SALLY CITRON
JG. 1863
DEPORTIERT 13.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 11.9.1942

Sally Saul Citron kam am 31. März 1863 in Tremessen (poln. Trzemeszno) zur Welt. Seine Eltern waren der Kaufmann Levi Louis Citron und dessen Ehefrau Helene geb. Pulvermacher. Außer Sally hatten sie mindestens noch zwei Kinder: Hermann (Heimann), Jahrgang 1845, und Franziska, 1859 geboren. Als Sally noch keine vier Jahre alt war, zog die Familie in das nahe Gnesen (Gniezno).

Sally besuchte das königlichen Gymnasium in Gnesen, bestand Ostern 1882 das Abitur und studierte anschließend Jura in Breslau. 1887 zog er als cand. jur. nach Posen, vielleicht hatte er dort eine Referendarstelle. Er wohnte bei dem Arzt und Apotheker Moritz Citron, sicherlich ein Verwandter, denn er stammte auch aus Tremessen. Im Winter 1888/89 war Sally in Dresden, kehrte im Juli wieder zu Moritz Citron nach Posen zurück. Unklar bleibt, wann er nach Berlin ging. Als er am 11. Mai 1895 Elisabeth Heilbronn heiratete, wohnte er bereits in der Hauptstadt in der Neuen Grünstraße 25a, diesmal bei Verwandten mütterlicherseits: Max Pulvermacher und seine Mutter Dorothea. Sally und Elisabeth, genannt Else, kannten sich bereits aus Gnesen, allerdings lebte die Braut inzwischen mit ihrer verwitweten Mutter in Wiesbaden. Sally und Else nahmen eine Wohnung in der Marburger Straße 9a in Charlottenburg, wo am 6. Februar 1896 der Sohn Louis Benno zur Welt kam. Sally hatte inzwischen promoviert und gab seinen Beruf mit Bank-Prokurist an. Er verdiente gut, und 1888 wohnte die Familie in einer vermutlich größeren Wohnung in der Pariser Straße 54. Dort wurde die Tochter Helene geboren, von allen Leni gerufen. Zwei Jahre später waren Citrons wieder umgezogen, nun in die Uhlandstraße 158.

Sallys Geschwister Hermann und Franziska waren schon seit den 70er Jahren verehelicht. Hermann hatte Florentine Harczyk aus Gnesen geheiratet, Franziska den Bruder Florentines, Ignatz Harczyk. Beide Paare waren Vettern und Kusinen: Die Mutter der Geschwister Harczyk, Johanna geb. Pulvermacher, war eine Schwester von Sallys und Franziskas Mutter Helene. Um die Jahrhundertwende lebte Hermann Citron in Berlin, ab 1907 wohnte er in der Giesebrechtstraße 19. Ein Jahr zuvor hatte Ignatz Harczyk, der bis dahin Gymnasialprofessor in Breslau gewesen war, mit Franziska eine Wohnung in der Giesebrechtstraße 18 bezogen.

Auch Sally war inzwischen mehrmals umgezogen, vermutlich in immer repräsentativere Wohnungen, denn beruflich war er recht erfolgreich. Er war schon länger Prokurist bei der Bank William Rosenheim & Co., als er 1920 als Gesellschafter in sie eintrat. Fortan nannte er sich Bankier. Zudem war er Prokurist und einer der Direktoren der Berliner Handelsgesellschaft (BHG). Diese war Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet worden und widmete sich nach wie vor der Industriefinanzierung. Sie war besonders mit großen Unternehmen wie AEG verbunden. Ihr Hauptgebäude in der Behrensstraße 32 ist heute Sitz der Kreditanstalt für Wiederaufbau.

1930 wurde die BHG eine der Hauptkommanditisten von William Rosenheim & Co, drei Jahre später schied sie allerdings wieder aus. Da war Sally Citron schon seit einem Jahr ebenfalls ausgeschieden. Inhaber wurde ein Max Berger und 1939 wurde das Haus in Bankgesellschaft Berger & Co umbenannt. Dafür musste Max Berger bestätigen, dass er „im Sinne der Nürnberger Gesetze” Reichsbürger sei.

Seit 1926 war Sally Citron auch Hauptgesellschafter der 1923 gegründeten Tuchgroßhandlung Rothe, Büdel & Rickel in der Roßstraße 21. Er blieb es auch noch im Ruhestand bis 1938, als die nichtjüdische Firma Schulze & Neubauer das Geschäft übernahm.

Als Sallys Tochter Leni 1923 den praktischen Arzt Dr. Fritz Blumenthal heiratete, wohnte Familie Citron in der Teplitzer Straße 32, Grunewald. Sohn Louis hatte Physik studiert, war inzwischen auch verheiratet und nach Jena gezogen. 1931 siedelte er mit seiner Frau Anna geb. Apel und den zwei Söhnen in die Schweiz um. Drei Jahre zuvor hatte Sally ein schwerer Schlag ereilt: Else, seine Frau, starb „nach kurzer Krankheit” am 19. Februar 1928 in Oberstdorf im Allgäu. Wahrscheinlich hatte sich das Ehepaar dort zur Kur aufgehalten. Sechs Jahre später traf die Familie ein weiteres Unglück: Louis verunglückte tödlich in den Schweizer Bergen.

1933 ging Sally in den Ruhestand, von der Berliner Handelsgesellschaft erhielt er eine Pension von 1000 RM im Monat, die ihm bereits 1924 vertraglich zugesichert worden war, zuzüglich eines Ruhegeldes von 1667,70 RM jährlich. Er nahm sich nun eine Wohnung drei Straßen weiter in der Franzensbader Straße 2. Mit ihm wohnte als Hausdame – vielleicht auch schon vorher in der Teplitzer Straße – Wilhelmine Wolfstein, genannt Elli, eine Schwester der bekannten Sozialistin und Kommunistin Rosi Wolfstein, die u.a. zusammen mit ihrem späteren Mann Paul Frölich den Nachlass Rosa Luxemburgs verwaltete und deren Biografie schrieb.

Sallys Ruhestand fiel mit der Machtübernahme Hitlers zusammen und wurde denkbar unruhig. Juden wurden zunehmend diskriminiert und eingeschränkt. Sallys Pension wurde zwar weiter ausgezahlt, er hatte aber 15% als soziale Ausgleichsabgabe zu leisten, ab Ende 1938 konnte er gar nicht mehr über sein Vermögen verfügen: Am 12. November 1938, unmittelbar nach den Novemberpogromen, wurde die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ erlassen, nach der Juden nur noch von einem „beschränkt verfügbaren Sicherheitskonto“ durch „Sicherungsanordnung“ festgelegte Beträge für ein Existenzminimum abheben durften.

Nach den Pogromen steigerten sich die antijüdischen Maßnahmen rasant und Sallys Tochter Leni und ihr Mann Fritz Blumenthal entschlossen sich zur Emigration in die USA über Schottland. Lenis Schwiegervater Hermann Blumenthal, der bis dahin bei ihnen gewohnt hatte, zog zu Sally in die Franzensbader Straße. Bald wurde Sally jedoch genötigt, seine Wohnung aufzugeben um für Nichtjuden Platz zu machen. Alle drei, Sally, Hermann Blumenthal und Elli Wolfstein fanden Unterkunft in der Giesebrechtstraße 18, Sally bei seiner inzwischen verwitweten Schwester Franziska Harczyk, Elli und Hermann vermutlich auch. Hermann Blumenthal musste allerdings zum 1. April 1941 die Giesebrechtstraße verlassen und wurde in der Württembergische Straße bei Henriette Jacob eingewiesen.

Im August 1942 wurden Sally und Franziska in das Sammellager in der Großen Hamburger 26 gebracht, ein von der Gestapo umfunktioniertes jüdisches Altenheim, und am 13. August nach Theresienstadt deportiert. In dem angeblichen „Altersghetto” dort herrschten kaum bessere Bedingungen als in anderen Konzentrationslagern. Unzureichende Ernährung, hoffnungslose Überfüllung, Kälte, Hunger und schreckliche hygienische Zustände sorgten für Krankheiten und Seuchen und kosteten zahlreichen Insassen das Leben. Und wer überlebte, wurde über kurz oder lang in ein Vernichtungslager weiterdeportiert. Sally und Franziska hielten es nicht lange durch: Sally starb bereits am 11. September 1942, Franziska überlebte ihn um ganze 11 Tage – am 22. September verschied auch sie, offiziell an Altersschwäche, Sally an Harnvergiftung. Die Todesangaben aus dem Lager verschleiern jedoch sämtlich, dass die eigentlichen Ursachen die katastrophalen Lebensumstände im Ghetto waren.

Hermann Blumenthal war zwei Tage vor den Geschwistern Citron, am 11. August 1942, ebenfalls nach Theresienstadt deportiert worden. Vielleicht gelang es ihm, seine Verwandten dort in dem vorherrschenden Chaos zu finden und noch einmal zu sehen. Er wurde kurz nach Franziskas Tod am 26. September 1942 nach Treblinka weiterverschleppt und dort ermordet.

Elli Wolfstein, die nach Franziskas Deportation weiterhin in der Giesebrechtstraße 18 wohnte – nun bei der Familie Schlesinger – wurde am 29. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht.

Quellen:
Gedenkbuch, Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/; Königlich-Preußischer Staatsanzeiger 1867 (https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10486498/bsb:4173804?queries=Citron&language=de&c=default”:https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10486498/bsb:4173804?queries=Citron&language=de&c=default); Einwohnermeldekartei Posen (http://e-kartoteka.net/en/); Deportationslisten (https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html)

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Franziska Harczyk

HIER WOHNTE
FRANZISKA HARCZYK
GEB. CITRON
JG. 1859
DEPORTIERT 13.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 22.9.1942

Franziska Harczyk geb. Citron

Franziska Citron wurde am 24. Januar 1859 in Tremessen (poln. Trzemeszno) als Tochter des Kaufmannes Levi Louis Citron und seiner Ehefrau Helene geb. Pulvermacher geboren. Sie hatte einen älteren Bruder, Hermann (Heimann), Jahrgang 1845, und einen jüngeren, Sally, der 1863 auf die Welt kam. 1867 zog die Familie in das nahe Gnesen (Gniezno).

Über ihre Kindheit und Jugend wissen wir wenig. Mit Sicherheit hatte Franziska – genannt Franja – Kontakt zur Familie ihres Onkels Bernhard Harczyk, der mit Johanna, Schwester von Franziskas Mutter, verheiratet war und der auch in Gnesen lebte. Denn am 30. September 1878 heiratete Franziska Bernhards Sohn Ignatz in Gnesen. Er war14 Jahre älter als seine Braut. Franziskas Bruder Hermann wiederum hatte 1874 Ignatz’ Schwester Florentine geehelicht.

Ignatz hatte in Berlin und Leipzig neuere Sprachen studiert und war bereits ordentlicher Lehrer am Johannes-Gymnasium in Breslau, und so ließ sich das Paar in dieser Stadt nieder. Sie wohnten zunächst in der Bahnhofstraße 1a, später in der Palmstraße 18. Ignatz stieg zum Oberlehrer auf, 1897 war er im Breslauer Adressbuch als „Professor Oberlehrer” eingetragen. Um 1906 wurde er pensioniert und zog mit Franziska nach Berlin. Die Ehe war kinderlos geblieben.

In Berlin wohnte das Paar von Anfang an in einer 5-Zimmer-Wohnung in der Giesebrechtstraße 18. Franziskas Bruder Hermann – inzwischen Rentier – und Florentine waren ihre unmittelbaren Nachbarn in der Nr. 19.
Ob und wie Ignatz in Berlin weiterhin beruflich tätig war, ist nicht überliefert. Das Adressbuch kennt ihn als „Dr. phil., Professor” – es ist denkbar, dass er weiterhin Vorträge hielt oder Lehraufträge bekam.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 dürften sich Ignatz’ Möglichkeiten stark eingeschränkt haben. Er und Franziska hatten alle diskriminierenden und entwürdigenden Maßnahmen der NS-Regierung zu erdulden. Auch die Pogromnacht im November 1938 blieb ihnen nicht erspart. Ob auch Ignatz Harczyk Opfer von Misshandlungen wurde, wissen wir nicht. Aber wenige Wochen darauf, am 15. Februar 1939, meldete die langjährige Haushaltshilfe Klara Günther, dass Professor Harczyk in seiner Wohnung gestorben sei, Todesursache: „Grippe, Lungenentzündung, Herzschwäche”. Er wurde 94 Jahre alt.

Franziska blieb allein mit Klara Günther in der großen Wohnung. Sie wurde bald genötigt, andere aus ihren Wohnungen vertriebene Juden, aufzunehmen. Zum Zeitpunkt der Volkszählung vom 17. Mai 1939 wohnten Berta Feilchenfeld und Lydia Neustein bei ihr. Geschwister von Lydia Neustein berichteten später, Franziska und Lydia hätten sich die Wohnung geteilt. Möglicherweise war das noch vor der Volkszählung 1939. Als Franziskas Bruder Sally später gezwungen wurde seine Wohnung aufzugeben, fand auch er bei ihr Aufnahme. Der Schwiegervater von Franziskas Nichte Helene (Leni), Hermann Blumenthal, zog ebenfalls in die Giesebrechtstraße 18. Er hatte bis dahin bei Sally Citron gewohnt. 1941 musste er nochmals umziehen.
Laut Fritz Blumenthal, Lenis Ehemann – der allerdings mit ihr 1939 auswanderte – bezog Franziska noch eine Witwenrente und hatte auch erhebliche Vermögenswerte. Allerdings konnte sie nicht darüber frei verfügen: Gleich nach den Novemberpogromen 1938 wurden Konten von Juden gesperrt und sie durften nur das Nötige für ein Existenzminimum abheben. Sachwerte, so wie Schmuck, Gold, Silber, hatten sie abzuliefern, eine Entschädigung bekamen sie selten. Fritz Blumental berichtet, die Wertsachen für Tante Franja bei der Pfandleihstelle abgegeben zu haben. Eine Quittung erhielt er nicht.

Franziska und ihr Bruder Sally wurden im August 1942 im als Sammellager missbrauchten jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße 26 interniert und am 13. August nach Theresienstadt deportiert. Im Ghetto Theresienstadt sollten Juden angeblich einen ruhigen Lebensabend verbringen können. Tatsächlich erwarteten sie bei unbeschreiblichen Hygienezuständen im hoffnungslos überfüllten Lager Hunger und Kälte, Krankheiten und Seuchen. Wenige überlebten diese Bedingungen. Sally Citron starb am 11. September 1942, Franziska elf Tage später, am 22. September, offiziell an Altersschwäche. Hinter den Todesursachen auf den „Todesfallanzeigen” verbergen sich allerdings die wirklichen Gründe – die menschenverachtenden Lebensumstände im Ghetto.

Hermann Blumenthal war zwei Tage vor Franziska und Sally, am 11. August 1942, auch nach Theresienstadt deportiert worden. Ob sie sich dort noch mal sehen konnten, bleibt ungewiss. Hermann wurde kurz nach Franziskas Tod am 26. September 1942 nach Treblinka weiterverschleppt und dort ermordet.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Adressbuch Breslau; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/; Deportationslisten (https://www.statistik-des-holocaust.de/)

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Lydia Neustein

HIER WOHNTE
LYDIA NEUSTEIN
JG. 1876
DEPORTIERT 9.7.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET SEPT. 1942 IN
TREBLINKA

Am 29. Oktober 1876 kam Lydia Neustein in Hammerstein/Westpreußen (poln. Czarne) zur Welt. Ihr Vater, der Kaufmann Georg Neustein, war ein angesehener Bürger von Hammerstein, zeitweise Stadtverordneter und Magistratsmitglied. Seine Frau Franziska geb. Beer brachte noch vier weitere Kinder zur Welt: Gustav 1880, Max 1882, Lina Lotte 1889 und Else, wahrscheinlich um 1884 geboren.

Lydia wuchs in Hammerstein auf und blieb auch im Elternhaus, als schon alle anderen Geschwister verheiratet und weggezogen waren. Laut ihrer Schwester Lina Lotte war sie körperlich beeinträchtigt und kränklich und wahrscheinlich war das auch einer der Gründe dafür, dass sie ledig blieb. Als die Eltern relativ kurz hintereinander um 1934 starben, verkaufte sie das Elternhaus in der Mühlenstraße, um dann nach Berlin zu ziehen. Die Geschwister machten ihr den Erlös des Hauses nicht strittig, laut Gustav war sie sowieso die Alleinerbin, laut Lina Lotte hatten alle anderen bereits eine Aussteuer erhalten.

In Berlin wohnte auch Lydias Bruder Gustav. Max lebte in Düsseldorf, Lina Lotte in Schwedt mit ihrem Mann Julius Wahrburg und Else, inzwischen verheiratete Lorenz, in Dresden. Es ist unklar, ob Lydia gleich in die Giesebrechtstraße 18 zog oder zunächst anderswo zur Untermiete wohnte, denn sie ist nicht im Adressbuch verzeichnet. In der Giesebrechtstraße lebte sie laut Bruder Max „bei einer Familie“, die sie auch versorgte, laut Lina Lotte teilte sie sich die Wohnung mit „einer alten Dame, deren Mann Professor gewesen war“, jede hatte zwei Zimmer für sich und das Wohnzimmer wurde gemeinsam genutzt. Die „alte Dame“ war Franziska Harczyk. Die Unterlagen der Volkszählung 1939 – bei der Juden in einer Sonderkartei erfasst wurden – bestätigen, dass Lydia Neustein Untermieterin von Franziska Harczyk war.

Im Februar 1939 starb Max Beer, ein Onkel Lydias, kinderlos. Er vermachte sein beträchtliches Vermögen den Kindern seiner Schwester Franziska. Das Erbe wurde zwar zu gleichen Teilen aufgeteilt, aber keines der Geschwister konnte mehr darüber verfügen. Seit 12. November 1938 galt eine Verordnung, nach der jüdisches Vermögen eingefroren wurde und Juden nur noch Beträge für ein Existenzminimum von ihren Konten abheben durften. Auch Max, Gustav und Lina Lotte, die dabei waren auszuwandern, konnten kein Geld aus Deutschland mitnehmen.

Die oben genannte Verordnung folgte unmittelbar auf die Pogrome vom 9./10. November. Wurden schon davor Juden vielfach diskriminiert und im Berufs- und Alltagsleben eingeschränkt, so häuften sich nach der Pogromnacht die judenfeindlichen Verordnungen in rascher Folge. Eine Teilnahme am öffentlichen Leben wurde Juden stückweise verwehrt, sie durften zuletzt zu bestimmten Zeiten nicht mal mehr auf die Straße gehen, zu anderen nur mit Judenstern. Ihren Höhepunkt fand die Judenverfolgung mit der Deportation und Vernichtung. In Berlin begannen die Deportationen im Oktober 1941.

Lydia Neustein wurde vorgesehen für einen „Transport“ in das Ghetto Warschau am 2. April 1942. Vielleicht war sie schon in ein Sammellager eingewiesen worden, aber aus uns unbekannten Gründen wurde sie zurückgestellt und ihr Name – zusammen mit 15 weiteren – auf der bereits feststehenden Deportationsliste durchgestrichen. Ihr war aber nur ein Aufschub von wenigen Monaten gegönnt. Anfang Juli 1942 kam sie, vielleicht zum 2. Mal, in das Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 und am 9. Juli wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Ihr Vermögen wurde zugunsten des Deutschen Reiches „eingezogen“.

Das Lager in Theresienstadt, offiziell „Altersghetto“ genannt, war völlig überfüllt, es herrschten Nahrungsmangel, Krankheiten und Seuchen, die nur wenige Insassen überlebten. Aber nicht einmal diese Chance hatte Lydia Neustein: Nach gut zwei Monaten, am 19. September, wurde sie in das Vernichtungslager Treblinka weiterverschleppt und dort vermutlich auf Ankunft umgebracht.

Lydias Bruder Max floh nach Glasgow und gründete dort mit seiner Frau Elfriede (Frieda) eine Textilmanufaktur. Er starb 1956. Gustav, der Architekt war und sich in Berlin auf Bau und Ausstattung von Kinos spezialisiert hatte, flüchtete im April 1939 über Kuba in die USA, wo er bis zu seinem Tod 1963 lebte. Lina Lotte wurden in Schwedt in Abwesenheit ihres Mannes in der Pogromnacht von SA und SS bedroht und misshandelt, anschließend von ihrem Vermieter fristlos gekündigt. Sie floh zunächst nach Berlin zu ihrer Schwester Lydia in die Giesebrechtstraße. Im Juli 1939 konnte sie dann mit ihrem Mann ebenfalls nach Glasgow auswandern und wurde Vorarbeiterin in dem Betrieb von Max und Frieda. Lydias Schwester Else nahm sich in Dresden wenige Monate vor Kriegsende das Leben, aus Angst vor einer drohenden Verhaftung durch die Gestapo.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Bertha Feilchenfeld

HIER WOHNTE
BERTHA
FEILCHENFELD
JG. 1890
DEPORTIERT 17.11.1941
KOWNO
ERMORDET 25.11.1941

Hinweis: Aufgrund einer Namensverwechslung beziehen sich die Daten auf dem nebenstehenden Stolperstein auf Bertha Feilchenfeld, geboren in Stettin am 29. Januar 1890, die 1939 in der Joachim-Friedrich-Straße 33 wohnte. In der Giesebrechtstraße 18 wohnte die gleichnamige Berta Feilchenfeld aus Frankfurt/Oder. Auf sie bezieht sich die folgende Biografie. Ein Austausch des Stolpersteines ist geplant.

Bertha (oder auch Berta) Feilchenfeld wurde am 16. Dezember 1888 in Frankfurt an der Oder geboren, als Tochter des Kaufmannes Moritz (Moshe) Feilchenfeld und seiner Frau Recha (Rachel) geb. Neustadt. Moritz Feilchenfelds Vater, Falk Joseph Falkenfeld, gebürtig aus Lissa (Posen, polnisch Leszno) war Kantor und Schächter in Letschin gewesen und hatte 1850 in Frankfurt/Oder einen Einbürgerungsantrag gestellt, “weil er sich jetzt hier niederlaßen und einen Material- und Viktualienhandel betreiben will”. Moritz war 1845 noch in Lissa geboren worden. Bertha wurde nach ihrer Großmutter Bertha geb. Jaffé benannt, die ein Jahr zuvor gestorben war. Der Großvater Falk, seit 1885 Rentier, starb 1890, und man kann annehmen, dass Moritz sein Geschäft weiterführte, welches er um 1900 ins Handelsregister eintragen ließ.

Die Familie geht auf Meschulam Fales zurück, der im 18. Jahrhundert von Deutschland nach Lissa – damals polnisch – einwanderte. Er ist Berthas Ur-Ur-Urgroßvater. Sein Sohn Wolf Fabian Fales nahm den Namen Feilchenfeld an. In Lissa, das 1793 preußisch wurde, gab es eine große jüdische Gemeinde, Wolf Fales-Feilchenfeld hatte in ihr eine bedeutende Stellung. Wolfs Tochter Sara bat Fabian heiratete einen Verwandten, Joseph Feilchenfeld. Eines ihrer Kinder war Falk Joseph, Berthas Großvater.

Moritz Feilchenfeld heiratete viermal. Von seiner vermutlich ersten Frau, Rosalie geb. Henschel, ließ er sich scheiden. Rachel heiratete er 1887, sie war die dritte Ehefrau, nach Julie Cohn. Möglicherweise starb Rachel bald nach Berthas Geburt und Bertha wuchs mit der Stiefmutter Zerline (Lina) geb. Geballe auf, Moritz’ vierter Ehefrau. Über Berthas Halbgeschwister sind die Quellen recht ungenau und unterschiedlich. Eine Quelle gibt eine Zahl von 5, andere 7, noch andere von 2 Geschwistern an.

Als Bertha auf die Welt kam, lebte die Familie in der Großen Oderstraße 34. Wenige Jahre später zogen sie in die Scharrnstraße 67 und 1894 in die Richtstraße 33. Nach Moritz’ Tod führte zunächst Lina das Geschäft weiter. Man kann annehmen, dass Bertha, die ledig blieb, mit Lina und evtl. weiteren Halbgeschwistern zusammenlebte. Wann und warum Bertha nach Berlin zog, wissen wir nicht. Sie hatte weder in Frankfurt noch in Berlin eine eigene Adresse als Haushaltsvorstand.

Erst 1939 findet sich Berthas Spur in Berlin. Bei der Volkszählung vom 17. Mai dieses Jahres wurde sie in die Sonderkartei für Juden als Untermieterin von Franziska Harczyk in der Giesebrechtstraße 18 eingetragen. Zu diesem Zeitpunkt war die Diskriminierung und Verfolgung von Juden im NS-Reich in vollem Gange. Möglich, dass diese Adresse nicht Berthas letzte freiwillige war. Jedenfalls wurde sie zum 1. Juli 1941 umgesiedelt in die Sybelstraße 53. Im November des gleichen Jahres musste sich Bertha Feilchenfeld in der als Sammellager missbrauchte Synagoge in der Levetzowstraße einfinden, um von dort am 27. dieses Monates entweder auf Lastwagen, möglicherweise aber auch zu Fuß zum Bahnhof Grunewald zu gelangen, von wo aus der erste Berliner Deportationszug nach Riga mit 1053 Menschen fuhr.

Das Ghetto Riga war von den Deutschen nach der Einnahme der Stadt im Juli 1941 eingerichtet worden. Fast 30000 lettische Juden waren dort auf engstem Raum und unter erbärmlichen Bedingungen eingepfercht. Ende November und Anfang Dezember des Jahres ließ die SS über 90% von ihnen ermorden – um Platz für die zu deportierenden „Reichsjuden“ zu schaffen. Der erste Zug aus Berlin, in dem auch Bertha Feilchenfeld war, kam am 30. November an und alle Insassen wurden sofort in dem nahen Wald von Rumbula erschossen, eine „Eigenmächtigkeit“ des SS-Führers Friedrich Jeckeln, die ihm eine Rüge von Himmler einbrachte. Himmler hatte dieses Schicksal nur „Arbeitsunfähigen“ zugedacht.

Obwohl die Gestapo bemüht war, solche Vorgänge geheim zu halten, wurden sie in der Bevölkerung bekannt. Viktor Klemperer schreibt in seinem Tagebuch unter dem 13. Januar 1942, ein Bekannter habe ihm „erzählt – Gerüchte, aber von verschiedenen Seiten sehr glaubhaft mitgeteilt – es seien evakuierte Juden bei Riga reihenweis [sic], wie sie den Zug verließen, erschossen worden.” (zitiert nach Gottwaldt/Schulle, S. 112).

Friedrich Jeckeln war erst seit 31. Oktober 1941 Höherer SS-Führer in Riga geworden, nachdem er „in gleicher Funktion in der Ukraine dafür gesorgt [hatte], dass die ‘Endlösung’ konsequent vorangetrieben wurde. Als routinierter Massenmörder war ihm aufgefallen, dass in Riga angeblich noch nicht genug für die ‘Lösung der Judenfrage’ getan wurde.” (Gottwaldt/Schulle, S.111).

Jeckeln wurde am 3. Februar 1946 von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbücher Frankfurt/Oder; Stadtarchiv Frankfurt/Oder; Arolsen Archives; The Descendants of Wolf Fales: A Chronicle of the Feilchenfeld Family as of June 1950. Zusammengestellt von Walter Fales. Verlag P. Heinegg, 1990; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Helene Katschke

HIER WOHNTE
HELENE KATSCHKE
GEB. BADT
JG. 1871
DEPORTIERT 3.10.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 17.1.1943

Dieser Stolperstein wurden am 22.9.2010 verlegt und von der Hausgemeinschaft gespendet.

Helene Katschke, geb. Badt, wurde am 21. August 1871 im sorbischen Sorau in der damaligen preußischen Provinz Brandenburg (heute Żary in der polnischen Woiwodschaft Lebus) geboren. Sie war Witwe und lebte zum Zeitpunkt der Volkszählung vom 17.5.1939 zusammen mit ihrer ebenfalls bereits verwitweten Tochter Margarethe Pinthus und deren Tochter Eva zusammen in der Giesebrechtstraße 18. Kurz vor der Deportation wurde sie zwangsweise in die Waitzstr. 7 umgesiedelt. Ihre Tochter Margarethe wurde am 26. Februar 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Enkeltochter Eva wurde im Juli 1939 im Alter von 13 Jahren mit einem Kindertransport nach Großbritannien geschickt und so gerettet.

Am 3. Oktober 1942 wurde Helene Katschke über das von den Nazis als „Sammellager“ missbrauchte Gemeindehaus der orthodoxen jüdischen Gemeinde Adass Jisroel in der Artilleriestraße 31 (heute Tucholskystr. 40) in Berlin-Mitte mit dem sog. „3. Großen Alterstransport“ zusammen mit über 1000 weiteren jüdischen Menschen aus Berlin und Brandenburg in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sie traf dort ihre Schwägerin Wally Kaufmann, geb. Katschke, wieder, die bereits am 6. Juni 1942 aus Berlin mit weiteren 49 Jüdischen Menschen nach Theresienstadt deportiert worden war.

Helene Katschke verstarb in Theresienstadt am 17. Januar 1943. Die Todesfallanzeige weist als Todesursache „Marasmus senilis“ – also Alterschwäche – aus.
Es ist aber bekannt, dass die wahren Todesursachen häufig verschleiert wurden. Man kann also davon ausgehen, dass Helene Katschke an Unterernährung, Kälte, den unsäglichen hygienischen Zuständen und den allgemein lebensfeindlichen Bedingungen im Ghetto Theresienstadt zugrunde gegangen ist.

Recherche: Alexander von Oettingen, Biographische Zusammenstellung: Gisela Morel-Tiemann

Quellen:
  • Minderheitenzensus v. 17.5.1939
  • Gedenkbuch des Bundesarchivs
  • Berliner Gedenkbuch
  • Opferdatenbank Theresienstadt dokumenten/
  • Susan Robson, Eva Pinthus Obituary, The Guardian 24.5.2020

Stolperstein für Margarete Pinthus

HIER WOHNTE
MARGARETE PINTHUS
GEB. KATSCHKE
JG. 1895
DEPORTIERT 26.2.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Margarethe Pinthus. geb. Katschke, erblickte am 19. April 1895 in Berlin das Licht der Welt. Sie heiratete den 11 Jahre älteren Rechtsanwalt Jacob Heinrich Pinthus, in dessen Kanzlei sie als Sekretärin arbeitete. Das jüdische Ehepaar Pinthus hatte zwei Töchter, Eva, geb. am 17. Februar 1925, und deren fünf Jahre ältere Schwester Edith Ursula, die am 14. März 1935 im Alter von 15 Jahren an Tuberkulose verstarb. Heinrich Pinthus starb am 24. Juli 1938 an einer Darmerkrankung. Die Asche von Schwester Edith und Vater Heinrich wurde auf dem jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee beigesetzt. Margarethe Pinthus lebte danach zusammen mit ihrer Mutter Helene Katschke und ihrer Tochter Eva in der Giesebrechstr.18.

Nach der Pogromnacht am 9./10.November 1938 gelang es Margarethe Pinthus, ihre Tochter Eva im Juli 1939 mit einem Kindertransport nach England zu schicken, sodass deren Leben gerettet werden konnte. Eva Pinthus ließ sich später in der Church of England taufen und wurde eine engagierte, ökumenisch denkende Quakerin. Nachdem sie Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet hatte, schrieb sie sich als erste Frau zum Theologiestudium an der University of Birmingham ein, erwarb verschiedene akademische Grade in Theologie und Pädagogik, unterrichtete in unterschiedlichen Colleges und engagierte sich in der ökumenischen Bewegung sowie gegen Rechtsextremismus in Großbritannien. Auch in der damaligen DDR war sie in den 1970er und 1980er Jahren in Friedens- und Konfliktbewältigungsprojekten mit der Quäkerbewegung aktiv. Sie starb im Alter von 95 Jahren in Menston, West-Yorkshire.

Margarethe Pinthus wurde am 26. Februar 1943 über das von den Nazis als „Sammellager“ missbrauchte jüdische Altersheim in der Großen Hamburger Straße mit dem sog. „30. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Recherche: Alexander von Oettingen, Biographische Zusammenstellung: Gisela Morel-Tiemann

Quellen:
Minderheitencensus v. 17.5.1939
Gedenkbuch des Bundesarchivs .
Centrum Judaicum, Berlin
Susan Robson, Eva Pinthus Obituary, The Guardian International Edition, May 24, 2020

Stolperstein für Walter Meyer

HIER WOHNTE
WALTER MEYER
JG. 1891
DEPORTIERT 3.2.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Walter Ernst Otto Meyer kam zur Welt am 26. Mai 1891 in Wolfenbüttel als Sohn des “Cigarrenhändlers” Otto Konrad Karl Emil Meyer und seiner Frau Bertha, geb. Friedländer. Bertha war Jüdin, Otto Meyer nicht. Sie lebten in der Auguststraße 7, ob sie weitere Kinder hatten, wissen wir nicht. Als Walter etwa drei Jahre alt war, zog die Familie nach Braunschweig und wohnte dort in der Sophienstraße 28. Otto Mayer ist als Kaufmann im Adressbuch vermerkt, vielleicht handelte er nicht mehr mit Zigarren. Ab 1900 hat auch Bertha einen eigenen Eintrag als Schneiderin in der Sophienstraße. Drei Jahre später starb Otto Meyer, vielleicht war das der Auslöser für Bertha 1905 zur evangelischen-lutherischen Kirche überzutreten.

Walter machte eine Glaserlehre, es ist nicht bekannt, ob in Braunschweig oder bereits in Berlin. Ab Juni 1909 – Walter war 18 Jahre alt und seine Mutter lebte noch in Braunschweig – war er als Glasergeselle angestellt bei der 1902 gegründeten Berliner Firma J. Salomonis, Glas & Spiegel, Alexandrinenstraße 135/6, die in den 20er Jahren eine GmbH wurde. In Walter Meyers Zeugnis von 1938 heißt es: er “wurde lange Jahre hindurch in der Abteilung Kunstglaserei beschäftigt. Anfang des Jahres 1919 wurde er Werkmeister im Betriebe, und zwar in der Messingglaserei …”

Möglicherweise gab die Beförderung den Anstoß, seine Verlobte zu ehelichen. Am 24. Juli 1919 heiratete er in Berlin Elsa Silberberg. Elsa war am 29. April 1894 (einige Quellen geben fälschlicherweise den 24. April an) in Berlin als Tochter des Schneidermeisters Israel Itzig Silberberg und seiner Frau Jenny, geb. Hannach auf die Welt gekommen. Israel Silberberg – im Adressbuch finden wir ihn als Isidor Silberberg – wohnte zu dem Zeitpunkt in der Elsasser Straße 19 (heute Torstraße). In dieser Straße muss sich Elsas gesamte Kindheit und Jugend abgespielt haben, denn als sie heiratete, wohnte sie mit ihrem Vater schräg gegenüber von ihrem Geburtshaus, in der Elsasser Straße 70. Ihre Mutter war bereits verstorben. Wie ihr Vater war Elsa ausgebildete Schneiderin, wahrscheinlich lernte sie bei ihm.

Walter wohnte bis zur Heirat in Steglitz, in der Bergstraße 16, wohin Bertha Meyer 1911 gezogen war. Nach der Hochzeit zog das junge Paar in die Giesebrechtstraße 18. Am 19. April 1920 wurde ihr einziger Sohn Hans Joachim geboren. In späteren Jahren berichtete Hans Joachim, seine Mutter Elsa habe ab 1920 in einer getrennten Wohnung in der Giesebrechtstraße ein Damenkonfektionsatelier betrieben mit zeitweise vier Schneiderinnen. Tatsächlich verzeichnet das Adressbuch für 1920 und 21 in der Giesebrechtstraße 18 “Silberberg Dora, Modesalon”. Ob es sich bei Dora Silberberg um einen Geschäftsnamen oder eine Verwandte Elsas handelte, konnte nicht geklärt werden. Auch nicht, warum sie nach 1922 nicht mehr erwähnt wird. Mit einem eigenen Eintrag als “Elsa Meyer, Schneiderin” wurden weitere Informationen über Elsa erst wieder 1932 gefunden.

Unterdessen hatte Walter Meyer bei J. Salomonis weiter Karriere gemacht. “Späterhin war Herr Meyer einige Jahre in der Abteilung Bauglaserei mit der technischen Überwachung der in Arbeit befindlichen Bauten …betreut,… und hatte gleichzeitig auch die mit der Ausführung zusammenhängenden Verbindungen mit Architekten und Baugeschäften im Außendienst zu führen”, so das Zeugnis. Da Meyers Doppelverdiener waren – Elsa trug mit 300-350 monatlich zum Haushalt bei -, konnten sie sich neben der 4-Zimmerwohnung in der Giesebrechtstraße auch ein Sommerhaus in Borgsdorf leisten, heute ein Stadtteil von Hohen Neuendorf, nördlich von Berlin.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderten sich zunächst nur für Elsa die Arbeitsumstände: Nach dem Boykott im April 1933 blieb ein Teil ihrer Kundschaft weg. Elsa musste das Atelier in der Zweitwohnung aufgeben und führte nur noch Näharbeiten in einem Zimmer ihrer Wohnung aus. Walter aber behielt seine Stellung, 1936 legte er sogar die Meisterprüfung mit “sehr gut” ab.

Meisterprüfungszeugnis Walter Meyer

“In der letzten Zeit” heißt es 1938 “haben wir Herrn Meyer auch in der Schleiferei und in der Autoscheiben-Reparatur-Abteilung beschäftigt…” unklar bleibt, ob dies eine Zurückstufung war oder nicht. Und das Zeugnis endet mit “Infolge der vorgesehenen Betriebs-Stilllegung zum 31. März 1939 sehen wir uns zu unserem Bedauern genötigt, Herrn Meyer zu diesem Zeitpunkt zu kündigen …” Die “Betriebs-Stilllegung” dürfte eine “Arisierung” gewesen sein: Das Adressbuch 1940 vermerkt zu J. Salomonis: siehe jetzt Franz Borrmann & Co. Franz Borrmann war 1921-33 Prokurist bei J. Salomonis gewesen. Im Jahr 1940 ist Walter Meyer, Glasermeister, auch zum letzten mal im Adressbuch eingetragen. Elsa stand ebenfalls noch 1940 (mit dem Zwangsnamen “Elsa Sara”) als Damenschneiderin im Telefonbuch.

Das Zeugnis für Walter Meyer ist am 25. Oktober 1938 geschrieben worden, noch vor den Pogromen vom November des Jahres. Der Alltag für Juden war seit 1933 bereits schrittweise erschwert worden. Hans Joachim musste vom Oberrealgymnasium abgehen, statt Abitur machte er eine Optikerlehre. Dass sein Vater die Diskriminierung vergleichsweise weniger zu spüren bekam, mag damit zusammen hängen, dass er nach NS-Lesart als “Halbjude” galt. Doch das nützte ihm nicht mehr viel, nachdem in der Folge der Pogrome vom 9./10. November die antisemitischen Verordnungen drastisch zunahmen. Das Haus in Borgsdorf mussten sie verkaufen. Hans Joachim brach auch die Optikerlehre ab und floh am 1. April 1939 nach London. Walter und Else konnten zwar in der Giesebrechtstraße bleiben, sehr wahrscheinlich wurden aber andere Juden bei ihnen eingewiesen. Wahrscheinlich ist auch, dass sie zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie herangezogen wurden.

Vielleicht hatten Elsa und Walter vor, ihrem Sohn nachzureisen. Nach Kriegsausbruch wurde das aber praktisch unmöglich. Ende Januar/Anfang Februar 1943 musste sich das Ehepaar Meyer in der Großen Hamburger Straße 26 einfinden, ein von der Gestapo zum Sammellager für Deportationen umfunktioniertes jüdisches Altersheim. Sie wurden am 3. Februar des selben Jahres vom Güterbahnhof Moabit aus mit weiteren 950 Personen nach Auschwitz deportiert. Dort angekommen wurden lediglich 181 Männer und 106 Frauen zur Zwangsarbeit in das Lager eingewiesen. Die übrigen Menschen wurden in den Gaskammern ermordet. Elsa war 48 Jahre alt, Walter 51. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie zur Arbeit “selektiert” wurden. Eine Quelle gibt Walters Todesdatum mit 31.März 1945, eine andere 31. März 1943 an. Stimmt letztere, war der “Aufschub” denkbar kurz, auf jeden Fall haben weder Walter noch Elsa die Schoah überlebt. Elsas Todesdatum ist unbekannt.

Hans Joachim wurde in England 1940 als “Feind” nach Australien deportiert und dort bis Juni 1941 interniert. Er starb in Australien am 6. August 2003.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Adressbuch Braunschweig; Niedersächsisches Landesarchiv Abteilung Wolfenbüttel; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin;Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; /www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Elsa Meyer

HIER WOHNTE
ELSA MEYER
GEB. SILBERBERG
JG. 1894
DEPORTIERT 3.2.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Stolperstein für Karl-Heinz Schlesinger

HIER WOHNTE
KARL-HEINZ
SCHLESINGER
JG. 1917
DEPORTIERT 12.1.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Karl-Heinz Schlesinger ist am 6. April 1917 in Berlin geboren. Mit seiner Frau Ursula Schlesinger, geb. Goldstein, geboren am 7. März 1919 in Hannover, sowie den beiden Töchtern Tana, geboren am 13. August 1940, und Reha, geboren am 9. August 1942, beide in Berlin, lebte er in der Giesebrechtstraße 18 im 3. Stock in der geräumigen Familienwohnung, wo auch die Mutter Margarete Schlesinger, geb. Fabian, geboren am 2. September 1885 in Berlin, und der jüngere Bruder Gert mit seiner Familie lebten.

Zu der Zeit, als sie auf ihre Deportation vorbereitet wurden, war Karl- Heinz Schlesinger Zwangsarbeiter im Siemens-Kabelwerk für einen Wochenlohn von 25 Reichsmark. Das war alles, was die Familie zur Verfügung hatte, denn Ursula Schlesinger konnte wegen ihrer beiden kleinen Kinder nicht arbeiten. Im April 1942 mussten sie die Wohnung in der Giesebrechtstraße verlassen und in die Marburger Straße 8 umziehen, wo sie bei der im Hochparterre wohnenden Margarete Aufrichtig in 1½ Zimmern für 60 RM Miete Unterschlupf fanden.

Am 1.10.1942 wurden vier Verfügungen der Geheimen Staatspolizei erlassen, dass „das gesamte Vermögen … zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen“ werde. Merkwürdigerweise wurden diese Schriftstücke an Ursula und Tana Schlesinger mit der Adresse Marburger Straße 5 ausgefertigt, dabei kann es sich allerdings um einen Schreibfehler handeln. Am 7.1.1943 bekam Karl-Heinz Schlesinger dann vier Vermögenserklärungen vorgelegt, das waren 16seitige Fragebögen, die von allen zur Deportation vorgesehenen Juden beantwortet werden mussten. Er füllte den Vordruck aus, seine Frau schrieb außer ihren Personendaten nur: „s. mein Mann!“ Absurd ist, dass auch für die zweijährige Tana und die fünf Monate alte Reha solche Vermögenserklärungen abgegeben werden mussten. Karl-Heinz Schlesinger unterschrieb die sinnlosen Papiere brav mit dem Zusatz „als Vater“.

Zu den wenigen Habseligkeiten, die als „Vermögen“ auszuweisen waren, gehörten ein Kinderbett, ein Kinderkörbchen und eine Wickelkommode sowie „etwas Kinderbekleidung“. Außerdem trug Karl-Heinz Schlesinger in die Inventarliste ein: „deutscher Teppich, teilweise abgetreten“. Alles in allem wurde der Wert des ärmlichen Familienbesitzes auf 203 Reichsmark geschätzt und brachte beim Verkauf oder bei Versteigerungen 156 RM ein. Dieser Erlös wurde zusammen mit 19 RM Lohn, die noch vom Siemens-Kabelwerk ausstanden, von der Oberfinanzkasse verrechnet. Am 17.3.1944 notierte die Vermögensverwertungsstelle: „Die Akten wurden geschlossen.“

Am 12. Januar 1943 waren Karl-Heinz Schlesinger, seine Frau Ursula mit den beiden Töchterchen Tana und Reha und seine Mutter Margarete von der Sammelstelle Große Hamburger Straße 26 zum Bahnhof Grunewald transportiert worden, von wo ein Zug nach Auschwitz in den Tod fuhr.

Auch Margarete Aufrichtig, geboren am 19. Februar 1901 in Teplitz-Schönau (Teplice-Sanov, Böhmen), die die Familie Schlesinger zuletzt beherbergt hatte, wurde am 12. Januar 1943 in diesem Zug nach Auschwitz deportiert.

Stolperstein für Margarete Schlesinger

HIER WOHNTE
MARGARETE
SCHLESINGER
GEB. FABIAN
JG. 1885
DEPORTIERT 12.1.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Stolperstein für Ursula Schlesinger

HIER WOHNTE
URSULA
SCHLESINGER
GEB. GOLDSTEIN
JG. 1919
DEPORTIERT 12.1.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Stolperstein für Tana Schlesinger

HIER WOHNTE
TANA
SCHLESINGER
JG. 1940
DEPORTIERT 12.1.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Stolperstein Reha Schlesinger

HIER WOHNTE
REHA SCHLESINGER
JG.1942
DEPORTIERT 12.1.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Stolperstein für Gert Schlesinger

HIER WOHNTE
GERT
SCHLESINGER
JG. 1920
DEPORTIERT 4.3.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Gert Schlesinger ist am 22. Januar 1920 in Berlin geboren. Seine Frau war Ingeborg Schlesinger, geb. Frey, geboren am 13. Januar 1922 in Berlin. Sie hatten eine gemeinsame Tochtern Zilla, geboren am 8. Februar 1943 in Berlin. Mit ihnen lebte ihr Sohn aus erster Ehe, Denny Brauer, geboren am 1. Mai 1941 in Berlin, der amtlich als „Pflegekind“ geführt und manchmal auch Danny geschrieben wurde. Die Familie lebte in der Giesebrechtstraße 18 im 3. Stock in einer 5½-Zimmer-Wohnung, die 186,20 Reichsmark Miete kostete – damals ein enorm hoher Betrag. Sie hatten 1942 geheiratet.
Gert Schlesinger, der ein Bruder von Karl-Heinz Schlesinger war, musste Zwangsarbeit bei der Firma Siemens-Halske für einen Wochenlohn von 36 Reichsmark verrichten. Die damals gerade 20jährige Ingeborg Schlesinger hatte ihre beiden kleinen Kinder Danny und Zilla zu versorgen. Zum Zeitpunkt der Volkszählung am 17.5.1939 war Ingeborg Schlesinger nicht in der Giesebrechtstraße 18 gemeldet, weil sie damals bei dem Vater ihres Sohnes wohnte. Dieser war Dr. med. Alfred Brauer, den sie erst am 5. September 1940 geheiratet hatte und der am 6. Juni 1941 – fünf Wochen nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Denny – an Darmtuberkulose gestorben ist. Erst später, nach dem Tod ihres ersten Mannes, zog sie in die Schlesinger-Wohnung ein. Irrtümlich steht auf ihren Stolperstein der Zusatz, sie sei „geschieden“. Diese Angabe ist falsch, sie war verwitwet.
Am 1.2.1943 wurden die berüchtigten Verfügungen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) ausgestellt, dass das „Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen“ werde, sogar für die Kinder. Am 1.3.1943 folgten 16seitige Vordrucke, die Vermögenserklärungen hießen und auf denen Juden sämtlichen Besitz angeben mussten. Gert und Ingeborg Schlesinger trugen nur wenige Möbel und keinerlei Kleidung ein und unterschrieben die bis auf die Namen leeren Formulare auch für ihre Kinder.
Gert, Ingeborg und Zilla Schlesinger sowie Denny Brauer wurden am 4. März 1943 vom Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald zusammen mit 1 120 Menschen nach Auschwitz deportiert. 389 Männer und 96 Frauen wurden aussortiert und in das Arbeitslager eingewiesen. Gert und Ingeborg Schlesinger, die noch jung und arbeitsfähig waren, wurden wahrscheinlich ins Lager geschickt. Alle anderen, darunter die Kinder, also sicherlich auch Zilla und Denny, wurden in den Gaskammern in Birkenau getötet.
Obergerichtsvollzieher Becker, der diese Schicksale vielleicht nicht kannte oder sie ausblendete, teilte am 28.5.1943 mit: „Die Wohnung ist bereits geräumt und wieder bewohnt“, wofür er eine Gebühr 2,50 RM berechnete.
Ingeborgs Schwester Gisela Rosa, geboren am 15. Juni 1923 in Berlin, gelang es, in den 1930er Jahren nach Palästina zu emigrieren. Später lebte sie als verheiratete Dickson in Nordirland.

Quellen: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam. Landesarchiv Berlin. Entschädigungsamt Berlin. Texte: Helmut Lölhöffel, berichtigt und ergänzt von Florence Springer Moehl.

Stolperstein für Ingeborg Schlesinger

HIER WOHNTE
INGEBORG
SCHLESINGER
GEB. FREY
GESCH. BRAUER
JG. 1922
DEPORTIERT 4.3.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Stolperstein für Denny Brauer

HIER WOHNTE
DENNY BRAUER
JG. 1941
DEPORTIERT 4.3.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Stolperstein für Zilla Schlesinger

HIER WOHNTE
ZILLA
SCHLESINGER
JG. 1943
DEPORTIERT 4.3.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Stolperstein für Zerel L. Wagner

HIER WOHNTE
ZEREL L. WAGNER
GEB. HANFF
JG. 1883
DEPORTIERT 17.12.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 1943 IN
AUSCHWITZ

Zerel Lucie Hanff kam am 9. August 1883 als Tochter des jüdischen Kaufmanns Lippmann Hanff und seiner Ehefrau Klara Neuendorf in Berlin auf die Welt. Ihr 1845 geborener Vater stammte aus Schwerin. Er hatte 1882 in Berlin die zwölf Jahre jüngere Tochter eines evangelischen Hammerschmiedes geheiratet, die zum Judentum konvertierte. 1885 wurde Zerel Lucies Schwester Johanna geboren, 1890 ihr Bruder Leo. Die Familie lebte anfangs in der Turmstraße 6 im Arbeiterbezirk Berlin-Moabit. Wie damals üblich, lernte Zerel Lucie Hanff keinen Beruf und lebte bis zu ihrer Hochzeit bei den Eltern.

Am 22. Oktober 1914 heiratete sie den 1870 im schlesischen Frankenstein (heute Ząbkowice Śląnskie/Polen) geborenen Kaufmann Löbel Wagner. Die Trauung fand in der Synagoge statt.
Die Familie Hanff war in der Zwischenzeit des Öfteren umgezogen und wohnte 1914 im Hochparterre der Friedrich-Wilhelm-Straße 17 (heute Klingelhöferstraße) im vornehmen Bezirk Tiergarten (Lippmann Hanff nannte sich längst „Louis“.). Ein Jahr später zog sie in die nahe Von-der-Heydt-Straße 7. Die Familie Wagner besaß in Schlesien eine große Getreidehandlung. Löbel Wagners Vater Markus Wagner war Kaufmann in Frankenstein, seine fünf Söhne zogen nach Breslau und Berlin. Gemeinsamer Besitz, enge Familien- und gleichzeitig Geschäftsbeziehungen wurden zur Basis ihres Wohlstandes. In Berlin lebten zwei Brüder von Löbel Wagner: Louis (1877–1943 London) und Waldemar (1880–1943 Auschwitz).

Zerel Lucies Ehemann handelte seit 1910 mit Getreide und besaß zusätzlich ein Bankgeschäft. Seine Geschäftsräume waren an der Neuen Promenade 8 in Berlin-Mitte. Nach der Hochzeit zogen Zerel Lucie und Löbel Wagner in ein repräsentatives Bürgerhaus in der ruhigen Giesebrechtstraße 18, damals noch Charlottenburg bei Berlin. Am 14. Mai 1916 wurde der Sohn Hans Markus geboren. Er blieb ihr einziges Kind.

Nach dem Ersten Weltkrieg kaufte Löbel Wagner das Haus. Zerel Lucie Wagner lebte als gutsituierte bürgerliche Hausfrau in einer 6-Zimmer-Wohnung, in der es ein Herrenzimmer und ein Musikzimmer mit einem Flügel gab. Und einen Dienstbotenaufgang: Selbstverständlich beschäftigte das Ehepaar Dienstpersonal und für den Sohn eine ebenfalls dort wohnende Erzieherin. Ehemann Löbel Wagner besaß einen PKW und wurde von einem Chauffeur gefahren.
In der Nähe, Giesebrechtstraße 15, wohnte seit 1927 die Familie von Lucies Schwager Waldemar Wagner. Auch der Schwager Louis und die Schwägerin Regina, verheiratete Deutsch, wohnten nicht weit. Die Geschäftsräume des Ehemannes befanden sich für ein paar Jahre in der Hardenbergstraße 12 in Charlottenburg.

Im Mai 1934 starb Löbel Wagner. Zerel Lucie Wagner und ihr Sohn Hans Markus erbten das Haus. Das Getreide-Geschäft wurde 1937 liquidiert. Zerel Lucie Wagner besaß nach dem Tod ihres Ehemannes laut Berliner Adressbuch einen Zigarrenladen in der Giesebrechtstraße 18.
Das Mietshaus verkauften Mutter und Sohn 1938(?) unter Zwang. Im Januar 1939 emigrierte der Sohn Hans Markus nach Shanghai, im Februar 1939 rettete sich Schwager Louis Wagner mit seiner Ehefrau nach Großbritannien. Zerel Lucie Wagner musste sechs Untermieterinnen aufnehmen, sie selbst wohnte im ehemaligen Dienstbotenzimmer der Wohnung.

Mitte Dezember 1942 wurde Zerel Lucie Wagner „abgeholt“, wie man es nannte. Die Portiersfrau berichtete 1959, dass Zerel Lucie Wagner sich im Keller versteckt hatte, sich dann aber stellte. Am 17. Dezember 1942 wurde sie in das Ghettolager Theresienstadt deportiert und von dort am 23. Januar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt. Zerel Lucie Wagner wurde in der Gaskammer ermordet.

Biografische Zusammenstellung
Dr. Dietlinde Peters, Recherchen: Nachlass Wolfgang Knoll

Weitere Quellen
Berliner Telefonbücher;
Breslauer Adressbuch;
Datenbank Jüdische Gewerbebetriebe in Berlin 1930–1945;
https://www.geni.com/people/;
https://www.jüdische-gemeinden.de/.

Von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin

Stolperstein für Else Weisz

HIER WOHNTE
ELSE WEISZ
GEB. ROSENTHAL
JG. 1887
DEPORTIERT 1943
ERMORDET

Else Rosenthals Vater war der Kaufmann Salomon (Salo) Rosenthal, aus Billerbeck stammend (heute Nordrhein-Westfalen), der mit seiner Ehefrau Henriette (Jettchen) geb. Kahnfeld in Münster gelebt hatte. Im April 1879 siedelte er mit seiner Frau und den zwischen 1873 und Januar 1879 geborenen Kindern Otto, Martha, Selma, Alma und Julius nach Hamm um. Otto war möglicherweise ein angenommenes Kind. In Hamm kam am 25. Dezember 1887 Else zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie in der kleinen Weststraße 29, Salomon betrieb einen Möbelhandel. Es ist unklar, ob Else weitere, in Hamm geborene Geschwister hatte. Wahrscheinlich waren Betty, 1881 in Hamm geboren, und Alfred Rosenthal, Jahrgang 1883, auch Kinder von Salomon Rosenthal. Bis mindestens 1892 blieb Salomons Familie in Hamm, im Adressbuch von 1895 ist er nicht mehr aufgeführt.

Entsprechend diesen eher dürftigen Daten ist ebenfalls nichts über Elses Kindheit und Jugend bekannt. Am 20. September 1916 heiratete sie in Berlin den ungarischen Schuhmacher Martin Weisz, der sich damals Weiss schrieb. Wann sie in die Hauptstadt kam, ist ungewiss. Möglicherweise hat sie Martin Weiss bei Otto Rosenthal kennen gelernt, der in der Richthofenstraße 17 (heute Auerstraße) einen Schuhwarenhandel betrieb. Dieser Otto Rosenthal war wohl nicht identisch mit Elses Bruder oder Nennbruder Otto. Wahrscheinlich war er ein Cousin gleichen Namens.

Else und Martin lebten zunächst in der Invalidenstraße 16. Dort brachte Else am 9. Juli 1917 ihre einzige Tochter Käthe zur Welt. Martin Weisz (ungarisch: Marton) war am 28. Oktober 1889 in Fürményes (Siebenbürgen) zur Welt gekommen. Er war der Sohn des Landwirtes Samuel Weisz. Seine Mutter Eva geb. Goldberger starb, als Martin drei Jahre alt war. Martin besuchte die Volksschule und wurde dann, nach dreijähriger Ausbildung, Schuhmachermeister. Wann er sich in Berlin niederließ, ist nicht bekannt. Wenige Jahre nach seiner Heirat mit Else konnte er ein Schuhwarengeschäft mit Reparaturwerkstatt in der Chausseestraße 51/52 eröffnen. Die Geschäfte gingen gut, Martin beschäftigte bis zu drei Gesellen. Else arbeitete im Laden mit, die Tochter machte eine Ausbildung zur Kontoristin auf der Handelsschule. Aber nach dem Judenboykott im April 1933 blieben die Kunden weg und Martin Weisz – so schrieb er sich nun – musste sein Geschäft verkleinern. Die Familie mietete sich in der Giesebrechtstraße 18 ein und brachte auch die Schuhwerkstatt dort unter. Aber auch hier konnte er nicht mehr einen Kundenstamm aufbauen, die Geschäftslage sei ungünstig gewesen, so seine Tochter. Hinzu kam die wachsende Zahl von diskriminierenden Verordnungen gegen Juden. In der Pogromnacht im November 1938 wurden Geschäft und ein bescheidenes Warenlager geplündert.

Käthe Weisz trug zum Haushalt ihrer Eltern mit ihrem Einkommen als Kontoristin in verschiedenen Firmen bei. Von der letzten, der Parfümfabrik Careel, wurde sie entlassen, weil die Firma “arisiert” und ihre jüdischen Inhaber – wahrscheinlich im Rahmen der sog. “Polentransporte” im Oktober 1938 – nach Polen abgeschoben wurden. Nach dem Pogrom 1938 sah Käthe keine Zukunft mehr in Deutschland für sich, im Mai 1939 emigrierte sie nach Shanghai.

Else und Martin blieben in Berlin. Als „ausländische Juden“ – Else hatte durch die Heirat die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen – waren sie zunächst relativ geschützt. Sigismund Rosenthal, ein älterer Bruder Elses, der seinerzeit nicht mit nach Hamm gekommen war, wohnte zum Zeitpunkt der Volkszählung vom 17. Mai laut der Sonderkartei, die extra für Juden angelegt wurde, bei Else. Er lebte getrennt von seiner (vermutlich nicht-jüdischen) Frau. Else musste erleben, dass 1942 Sigismund Opfer der „Sonderaktion” zur „Vergeltung” nach dem Anschlag der Gruppe Baum auf die NS-Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies” wurde. 500 Juden wurden verhaftet und nach Sachsenhausen verbracht. 154 von ihnen wurden sofort erschossen, darunter auch Sigismund Rosenthal. 96 weitere, bereits inhaftierte Häftlinge erlitten ebenfalls dieses Schicksal.

Es war abzusehen, dass sich die vergleichbar sichere Situation „ausländischer“ Juden jederzeit ändern konnte. Else und Martin beschlossen, nach Ungarn zurückzukehren. Offenbar taten sie dies nicht auf offiziellem Wege, sie verschwanden so spurlos, dass ihre Tochter, die Anfang 1943 zum letzten Mal über das Rote Kreuz eine Nachricht von ihnen erhielt, zunächst davon ausgehen musste, sie seien in Berlin verhaftet, deportiert und ermordet worden. Erst später konnte über die Israelische Kultusgemeinde in Budapest ihr Schicksal geklärt werden. Anders als auf dem Stolperstein nach dem Recherchestand von 2010 vermerkt, wurden sie nicht von Berlin aus deportiert.

Martin, und offenbar Else mit ihm, flüchtete ungefähr im März 1943 nach Budapest, und wohnte dort „…vom Ende des Jahres unter der Adresse Kárpát utca 3 […], von wo er zur Zeit des deutsch-faschistischen Regime’s in Ungarn im Oktober 1944 verschleppt und deportiert wurde und in der Deportierung fand er sein Tod.[sic]“

Bescheinigung Kultusgemeinde Martin Weisz

Bescheinigung Kultusgemeinde Martin Weisz

Nach der Besetzung Ungarns durch die Deutschen im März 1944 begannen diese sofort mit der Verhaftung und Deportation der ungarischen Juden. Martin Weisz wurde „erst“ am 20. Oktober 1944 verhaftet. Einen Monat später wurde er in Buchenwald eingeliefert, im Aufnahmeblatt heißt es „Zähne: 10 fehlen“ und „Besondere Kennzeichen: der linke Arm gebrochen“. Ganz offensichtlich war er schwer misshandelt worden. Als Verhaftungsgrund ist „Polit.Ungar.Jude“ vermerkt, er galt also als politischer und jüdischer Häftling. In Buchenwald trug er den roten Winkel auf dem gelben.

Martin wurde im Außenlager Ohrdruf zur Zwangsarbeit eingesetzt. Das war ein älteres Wehrmachtlager, dass im November 1944 als KZ ausgebaut wurde. Es war das erste Lager, das 1945 durch westalliierte Truppen befreit wurde. Für Martin kam das allerdings zu spät. Der Lagerarzt des Außenkommandos Ohrdruf-Nord meldete, dass der Häftling 97504, Marton Weisz, am 2. Januar 1945 um 1 Uhr an einer Blutvergiftung gestorben sei. Er war mit einer Gesichtsrose am gleichen Tag eingeliefert worden.

Else war nicht verhaftet worden. Sie galt offenbar nicht als politisch, vielleicht konnte sie auch untertauchen. Jedenfalls blieb sie in der Kárpát utca 3 gemeldet. Die Budapester Kultusgemeinde informierte nach dem Krieg, dass „Frau Martin Weiss, geborene Elisabeth Rosenthal in unserem Begräbnisregister mit Todestag 2. April 1945 und gewesene Adresse V. Kárpát utca 3 eingetragen ist.“ Wir wissen nicht, ob Else noch vom grausamen Tod ihres Mannes erfahren hat. Das Ende des Krieges erlebte sie nicht mehr.

Bescheinigung Kultusgemeinde Else Weisz

Bescheinigung Kultusgemeinde Else Weisz

Käthe Weisz, die Tochter, musste in Shanghai nach Ankunft bis 15. August 1945 in das dortige Ghetto. In Shanghai lernte sie ihren zukünftigen Mann Leo Altmann kennen, den sie 1947 heiratete. 1949 konnte das Paar nach Israel weiterwandern. Entschädigungsanträge, die Käthe Altmann nach ihren Eltern stellte, wurden in den 60er Jahren abgewiesen, mit der Begründung, die Wohnungsvoraussetzungen – letzter Wohnsitz in Berlin – seien nicht gegeben, denn nach dem (in den) Heimatstaat zu gehen – gemeint ist Ungarn – sei keine Auswanderung.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Sigismund Rosenthal

HIER WOHNTE
SIGISMUND
ROSENTHAL
JG. 1873
VERHAFTET 27.5.1942
SACHSENHAUSEN
ERMORDET 28.5.1942

Sigismund Rosenthal wurde am 13.6.1873 in Münster geboren. Am 27.5.1942 wurden in Berlin 500 Juden verhaftet und in das KZ Sachsenhausen gebracht. 250 von ihnen wurden erschossen. Adolf Eichmann hatte dem Vorstand der Reichsvereinigung am 29.5.1942 mitgeteilt, dass dies im Zusammenhang mit dem Anschlag der Gruppe um Herbert Baum auf die Ausstellung “Das Sowjetparadies” angeordnet wurde.

Laut dem „Register der Juden und Dissidenten im Regierungsbezirk Münster“ im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen wurde Sigismund Rosenthal am 13. Juni 1873 in Münster als Sohn des Handelsmannes Salomon Rosenthal und seiner Frau Jettchen (Henriette) geb. Cahnfeld (Kahnfeld) geboren. Allerdings sind die Angaben in anderen Quellen widersprüchlich und verwirrend. Möglicherweise sind die Daten zu verschiedenen Familien durcheinandergekommen, denn in Münster und Umgebung war der Name Rosenthal sehr häufig. So ist Sigismund in den späteren Einwohnermeldeunterlagen von Münster unter den Kindern von Salomon und Jettchen Rosenthal nicht aufgeführt, dafür aber ein Sohn namens Otto, geboren einen Monat nach Sigismund, am 22. Juli 1873. Die spätere Heiratsurkunde von Sigismund bestätigt jedoch sein Geburtsdatum und -ort. Hier bestehen also Ungereimtheiten, die sich nicht mehr auflösen lassen.

Auch als 1879 Salomon und Jettchen von Münster nach Hamm zogen, war laut dem dortigen Bürgerbuch Sigismund nicht unter den Kindern des Paares, wohl aber Otto. Dementsprechend wissen wir nicht genau, wo und wie Sigismund aufwuchs und inwieweit er in der Kindheit Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern hatte.

Als er später in Berlin lebte – er hatte den Beruf des Kaufmannes erlernt – wohnte er der Heiratsurkunde von 1924 zufolge in der Richthofenstraße 17 (heute Auerstraße). Dies war auch die Adresse des Schuhwarenhändlers Otto Rosenthal. Ein Name, der häufiger vorkommt. Dieser Otto Rosenthal war über ein Jahr älter als Sigismund, also nicht identisch mit dem Kind, das seinerzeit mit Salomon und Jettchen nach Hamm zog. Dennoch war er vermutlich ein Verwandter, vielleicht ein Cousin, mit dem Sigismund zusammenwohnte.

Am 7. August 1924 heiratete Sigismund die Witwe Anna Martha Koppe, geb. Jung, als Fleischbeschauerin bezeichnet – vielleicht war das auch der Beruf ihres ersten Mannes. Einer der Trauzeugen war der Ehemann von Sigismunds Schwester Else, Martin Weisz, auch er Schuhwarenhändler und Schuhmachermeister.

Ob Sigismund (selten auch Siegismund geschrieben) mit seiner Frau in der Richthofenstraße wohnen blieb oder anderswo zur Untermiete zog, vielleicht auch aus Berlin wegging, bleibt unklar. Nur einmal, 1930, verzeichnet das Adressbuch einen Sigismund Rosenthal, Kaufmann, in der Hildegardstraße 10. Aber auch hier ist nicht sicher, ob es sich um dieselbe Person handelt. Gesichert ist nur, dass er zum Zeitpunkt der Volkszählung vom 17. Mai 1939 bei seiner Schwester Else Weisz in der Giesebrechtsstraße 18 gemeldet war. Er lebte zu der Zeit wohl bereits getrennt von seiner Frau, von der er am 13. August desselben Jahres geschieden wurde. Sehr wahrscheinlich war Anna Martha Rosenthal geb. Jung nicht Jüdin – ob die Scheidung von ihrem jüdischen Mann ihrerseits unter Druck der NS-Behörden oder freiwillig geschah, bleibt offen.

1942 wohnte Sigismund nicht mehr bei seiner Schwester, sondern zur Untermiete in der Straßburger Straße 58. Am 8. Mai dieses Jahres wurde im Berliner Lustgarten die Propagandaausstellung „Das Sowjet-Paradies“ eröffnet, die „Armut, Elend, Verkommenheit und Not“ – so der Katalog – in der Sowjetunion zeigen und damit zur Rechtfertigung des Krieges gegen Russland beitragen sollte. Am 18. Mai verübten Widerstandskämpfer der Gruppe Baum einen Brandanschlag auf die Ausstellung. Der Sachschaden war gering, die Reaktion enorm: 500 Berliner Juden, auch Sigismund Rosenthal, wurden am 27. Mai verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verbracht. Goebbels hatte sich eigens dafür von Hitler die Erlaubnis geholt. „Für den Gauleiter von Berlin war der Brandanschlag vor allem ein willkommener Anlass, um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, Berlin als erste Großstadt des Deutschen Reiches „judenfrei“ zu machen.“ schrieb 2012 der damalige Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, Prof. Günter Morsch. Es wurde beschlossen, die Hälfte, also 250, dieser am Brandanschlag völlig unbeteiligten Geiseln sofort zu erschießen. In kürzester Zeit wurde eine Liste mit 404 Opfern zusammengestellt, unter ihnen Sigismund Rosenthal. 94 Todeskandidaten sollten unter bereits inhaftierten Insassen ausgesucht werden.

Der Massenmord fand in der erst kürzlichen fertiggestellten „Station Z“ statt. Es handelte sich um ein Krematorium mit angeschlossener Genick-Erschießungsanlage, die nun erstmals getestet wurde. Die Opfer wurden am 28. und 29. Mai 1942 einzeln per Genickschuss ermordet. Auch Sigismund Rosenthal. Prof. Morsch: “Wie wenig Scheu die Nationalsozialisten hatten, sich zu diesem Massenmord zu bekennen, belegt auch die Praxis des Standesamtes in Oranienburg. Dort trugen die städtischen Beamten in die Totenscheine als Todesursache ungeschminkt ein: ‘Auf Befehl erschossen’.” Keiner der Täter und der für die Ausführung der Morde Verantwortlichen wurde nach dem Krieg verurteilt, mehrere Verfahren wurden „aus Mangel an Beweisen“ eingestellt.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Archiv Stadt Münster; Stadtarchiv Hamm; Arolsen Archives; http://guenter-morsch.de/rede-die-ermordung-der-juedischen-geiseln-im-mai-1942-im-kz-sachsenhausen-27-januar-2012/

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein Herrmann Blumenthal

HIER WOHNTE
HERRMANN
BLUMENTHAL
JG. 1860
DEPORTIERT 11.8.1942
THERESIENSTADT
1942 TREBLINKA
ERMORDET

Am 1. August 1860 wurde Hermann Meyer Blumenthal in Egeln bei Magdeburg geboren als Sohn des Kaufmannes Wolf Blumenthal und seiner Frau Julie geb. Blumenthal. Er hatte einen ein Jahr älteren Bruder, Selig Max, und einen drei Jahre jüngeren, Gustav. Nach einigen Quellen hatte er auch eine Schwester, Sara Metha. Wolf Blumenthal war Getreidehändler. Seinen Söhnen ließ er eine gute – vermutlich kaufmännische – Ausbildung zukommen. Hermann besuchte das Dom Gymnasium in Halberstadt. Später arbeitete er zunächst im Getreidegeschäft seines Vaters in Egeln. Eine Quelle besagt, dass er um 1900 in den USA gelebt und dort 1891 einen Sohn, Leo, bekommen habe. Das ist aber wahrscheinlich eine Verwechslung. Die Familie Blumenthal in Egeln war sehr verzweigt, es gab häufige Namenswiederholungen, so dass man leicht die Verwandtschaftsverhältnisse durcheinanderbringen konnte.

Unwahrscheinlich ist das auch, weil Hermann Blumenthal am 23. Dezember 1893 in Witten an der Ruhr die aus diesem Ort stammende, acht Jahre jüngere Rosalie Buchthal, genannt Rosi, heiratete. Rosalie war eines von sieben Kindern des Kaufmannes Samuel Buchthal und seiner Frau Sophie geb. Roßkamp. Möglicherweise hatte Hermann sie im Rahmen von Geschäftsreisen kennen gelernt. Die Heirat fand in der Heimatstadt der Braut statt, das Paar zog anschließend nach Egeln. Dort wurde ein Jahr später, am 2. Dezember 1894, der Sohn Fritz geboren. Fritz Blumenthal gab später an, das einzige Kind aus dieser Ehe zu sein.

1899 zog Hermann nach Magdeburg um und gründete die „Magdeburger Malzkaffee-Fabrik”. Diese wurde 1911 von einem gewissen Kaufmann A. Knape übernommen und Hermann Blumenthal widmete sich wieder dem Getreidehandel. Er hatte eine 5-Zimmer-Wohnung in Magdeburg-Wilhelmstadt, Große Diesdorfer Straße. 1928 starb Hermanns Ehefrau Rosi und er zog bald darauf nach Berlin, wo sein Sohn Fritz inzwischen ein angesehener Arzt war. Hermann nahm eine Wohnung in der Mansfelder Straße, in der Nähe von Fritz, der in der Mansfelder Straße 13 wohnte. Fritz’ Arztpraxis war in der Behrensstraße 30, im Haus der Berliner Handelsgesellschaft, in welcher sein Schwiegervater Sally Citron eine leitende Stellung innehatte. Fritz hatte 1922 Sallys Tochter Helene – Leni – geheiratet.

1930 konnte sich Fritz ein eigenes Haus in Dahlem, Im Gehege 13, leisten und Hermann zog dort in eine Etage. Mit Hitlers Machtübernahme 1933 bekam Fritz jedoch infolge der offiziellen Judendiskriminierung zunehmend Schwierigkeiten. Er verlor die Kassenzulassung sowie seine Stellungen als Vertrauensarzt und an der Uniklinik. Viele Patienten blieben weg. Schließlich verlor er 1938 auch die Approbation und durfte als “Krankenbehandler” nur noch jüdische Patienten haben. Er sah sich gezwungen, sein Haus an Nichtjuden zu verkaufen. Diese und andere Erniedrigungen von Juden bewogen Fritz Blumenthal mit seiner Frau Leni und den Kindern Elisabeth und Ulrich 1939 auszuwandern, zunächst nach Schottland, später in die USA. Hermann Blumenthal musste die Wohnung in Dahlem verlassen, er zog zu dem Schwiegervater seines Sohnes, Sally Citron, in die Franzesbader Straße 2. Dort wohnte er zum Zeitpunkt der Volkszählung vom 17. Mai 1939, bei der Juden in einer Sonderkartei erfasst wurden.

Als wenig später auch Sally Citron seine Wohnung aufgeben musste, zog Hermann mit ihm zu Sallys Schwester Franziska Harczyk in die Giesebrechtstraße 18. Vielleicht kam er auch über Franziskas Vermittlung bei jemand anderem im Haus unter. Aber auch in der Giesebrechtstraße konnte er nicht lange bleiben. Zum 1. April 1941 wurde er in der Württembergische Straße zur Untermiete bei Henriette Jacob eingewiesen.

Von dieser Wohnung wurde er Anfang August 1942, kurz nach seinem 82. Geburtstag, zunächst in das Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 gebracht – ein umfunktioniertes jüdisches Altersheim – und am 11. August nach Theresienstadt deportiert. Dort konnte er vielleicht noch Sally und Franziska sehen, die zwei Tage nach ihm ebenfalls nach Theresienstadt verschleppt worden waren. Falls er sie finden konnte, musste er dann erleben, wie beide noch im September an den elenden Lebensbedingungen im Ghetto starben. Auch seine Schwägerin Margarete Blumenthal geb. Benjamin, die Witwe von Hermanns Bruder Selig Max, konnte er möglicherweise in Theresienstadt treffen – sie war am 2. September 1942 dorthin deportiert worden. Aber wenige Wochen später, am 26. September 1942, wurde Hermann Blumenthal in das Vernichtungslager Treblinka weiterdeportiert und dort ermordet.

Margarete Blumenthal konnte trotz der im Ghetto herrschenden Hunger, Kälte, Überfüllung und unsäglichen hygienischen Bedingungen bis Anfang 1945 überleben. Sie hatte das Glück, am 5. Februar dieses Jahres mit einem der SS abgerungenen Rot-Kreuz-Transport in die Schweiz zu gelangen. 1946 kehrte sie nach Berlin zurück zu ihrer Tochter Elsa Krebs.

Hermann Blumenthals letzte Vermieterin, Henriette Jacob geb. Sachs, wurde am 28. Januar 1943 auch nach Theresienstadt deportiert und starb dort wenige Tage nach der Ankunft am 19. Februar.

Auf dem Jüdischen Friedhof in Egeln sind unter ca. 25 noch vorhandenen Grabsteinen die von Wolf und Gustav Blumenthal erhalten, Hermann Blumenthals Vater und Bruder.

Grabsteine von Wolf und Gustav Blumenthal auf dem Friedhof Egeln.

Grabsteine von Wolf und Gustav Blumenthal auf dem Friedhof Egeln.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Stadtarchiv Witten; Stadtarchiv Magdeburg; Arolsen Archives; https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html; http://www.alemannia-judaica.de/egeln_friedhof.htm; http://www.sudenburg-chronik.de/Industrie/Brandt_Robert.htm

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein Siegmund Reiss

HIER WOHNTE
SIEGMUND REISS
JG. 1875
GEDEMÜTIGT/ ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
8.8.1942

Nathan und Therese Reiss

Siegmund Reiss wurde am 19. Oktober 1875 in Ulrichstein in Hessen als fünftes Kind der Eltern Nathan Reiss und Therese geborene Spier geboren. Als Zeugen unterzeichneten Salomon Stern und Moses Fröhlich, die lt. Geburtsurkunde im Hause Reiss anwesend waren. Siegmund hatte noch die Geschwister Louis, Herrmann, Berta verh. Bloch und Sally, der in Karlsruhe versteckt der Holocaust überlebte. Er starb 1946.

In der Zeit zwischen Siegmunds Geburt und seiner Tätigkeit in Berlin gibt es leider keine konkreten Unterlagen, vermutlich absolvierte er eine Ausbildung zum Kaufmann im Schuhhaus Emil Jacobi in der Schillstraße 11a. Er kaufte 1911 die Fa. Emil Jacobi und wurde als „Emil Jacoby Nachfolger“ im Handelsregister mit der Nr.HR A38414 eingetragen. Seit 1912 firmierte er „Schuhhaus Siegmund Reiss“. Er lebte dann in der Heilbronner Straße 25, später in der Wichmannstraße 4.

Siegmund, Louis, Berta

Siegmund Reiss war aktiver Kriegsteilnehmer. Nach dem Krieg eröffnete er am Kurfürstendamm 37 ein elegantes Schuhgeschäft und wohnte auch im selben Haus. Inzwischen trat Else Darge mit dem Vertrag vom 8. Oktober 1935 als Betriebsleiterin in die Firma ein.
Die Beteiligung wurde so geregelt, dass die Beteiligung wie folgt bestand: Else Darge erhielt 55 % und Siegmund Reiss 45 %. Am 26. Januar 1938 wurde Else Darge persönlich haftende Gesellschafterin. Siegmund Reiss schied am 31.Juli 1938 aus und Else Karge übernahm seine 45 % aus der Gesellschaft. Am 7. März 1939 trat Franz Kaltenbeck in die Gesellschaft ein, der Vertrag wurde vom Notar Dr. Goldstein Schlüterstraße 51 ausgefertigt. Franz Kaltenbach wies sich mit seinem SA Ausweis aus, ausgestellt am 27. Mai 1937 in Neuaubing. Die neuen Eigentümer seien rein arischer Abstammung und Herr Reiss nicht arischer deutscher Staatsangehöriger, die Parteien “einigten” sich auf 5.000 RM mit der Zustimmung der Partei vom 29. Dezember 1938. Der Schuhsalon firmierte nun „Siegmund Reiss Nachf., Darge und Kaltenbach“ und ab dem 26. Mai 1941 hieß die Firma „Da-Ka-Schuhe“. Als Adresse blieb der Kurfürstendamm 37.

Siegmund Reiss musste nun auch seine Wohnung in diesem Haus verlassen und zog als Untermieter zu Frau Stern in der Giesebrechtstraße 18, wo schon mehrere jüdische Bürger lebten, die alle deportiert wurden. Siegmund Reiss schied am 8. August 1942 angesichts der bevorstehenden Deportation aus dem Leben. Als die Gestapo ihn abholen wollte, hatte man ihn schon in das jüdische Krankaushaus gebracht, wo man nur noch den Tod feststellte. Siegmund Reiss ist auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee begraben und bekam nach der Wende einen neuen Gedenkstein.

Recherche/Text: Siegfried Dehmel

Quelle: Landesarchiv Berlin
Fotos privat von Parvis Vaziri-Elahi