HIER WOHNTE
HILDEGARD
ROSENTHAL
GEB. LATTE
JG. 1904
DEPORTIERT 3.3.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET
Als der Vater von Hildegard Latte im Jahre 1913 von Hohensalza (Inowroclaw) im damaligen Posen mit seiner Familie nach Berlin zog, hatte er das angenehme, respektable Leben eines Privatiers im Sinn. Der 56-jährige Justizrat Max Latte wollte sich in Berlin zur Ruhe setzen. Sein Vermögen reichte für ein sorgenfreies Leben der Familie im großbürgerlichen Milieu der Hauptstadt aus: für seine Frau Olga, geb. Tausk, die er 1883 geheiratet hatte, für die damals neunjährige Hildegard und ihre zehn und dreizehn Jahre älteren Geschwister Manfred und Ilse. Hildegard wuchs in einer Sechs-Zimmer-Wohnung in der Martin-Luther-Straße 88 auf. Die Wohnung in der zweiten Etage des Eckhauses hatte mindestens vier Frontzimmer. Darin befanden sich wertvolle große Perserteppiche, handbemalte Porzellan-Service für 12 oder 36 Personen, Silberzeug, lederbezogene Stühle, Eichenholz-, Mahagoni- und Walnussmöbel, Ölgemälde, eine Radierung von Max Liebermann, wertvolle
Schmuckstücke aller Art. Eigentlich alles, was damals zum großbürgerlichen Leben gehörte. Hildegards Leben schien gesichert. Ihr Vater aber musste seine Pläne umstellen.
Nach Beginn des mit Staatsanleihen finanzierten Ersten Weltkrieges und der fortschreitenden Inflation verlor Max Latte einen großen Teil seines Vermögens, das er vorwiegend in Aktien angelegt hatte. Gegen Ende des Krieges hatte die Mark über die Hälfte ihres Wertes eingebüßt. Max Latte musste seine Pläne ändern. Er baute sich eine Anwaltskanzlei auf und wurde Rechtsberater der Deutschen Bank und Diskonto Gesellschaft. Als er am 10. November 1934 mit 77 Jahren starb, lebten nur noch Tochter Ilse und die Mutter in der großen Wohnung. Der am 18. Mai 1894 geborene Sohn Manfred und die nun 30-jährige Tochter Hildegard hatten inzwischen geheiratet. Das Ehepaar Latte ist auf dem Jüdischen Friedhof in Weissensee beerdigt.
Die Ehe von Hildegard Latte wurde am 5. Februar 1927 vor dem Standesamt Berlin-Schöneberg geschlossen. Die fast 23-Jährige hatte keinen Beruf erlernt. Ihr Ehemann wurde der Kaufmann Manfred Rosenthal. Er stammte, wie auch die Familie Latte, aus Posen. Dort, in Posen-Stadt, wurde er am 29. August 1898 geboren. Seinen Beruf gibt er bei der Eheschließung mit „Kaufmann“ an. Er wohnte in der Steglitzer Stephanstraße 19. Im Südende – so hieß die bürgerliche Gegend mit ihren großzügigen Miethäusern damals, weil sie am südlichen Ende von Steglitz lag. Auch Künstler dürften in der Gegend gelebt haben, denn als Trauzeugen brachte der Ehemann einen jungen Opernsänger mit, der im selben Haus wohnte.
Ein Jahr nach dem Tode ihres Mannes, am 4. April 1935, zogen die Witwe Olga Latte und ihre 38-jährige Tochter Ilse, die Schwester von Hildegard Rosenthal, in die Landhausstraße 9. Ilse Latte arbeitete von 1927 bis 1938 im Sekretariat der Gesellschaft für Elektrizitätsanlagen m.b.H.. Auch Hildegard Rosenthal wird später eine Zeit lang in der Landhausstraße 9 ihren Wohnsitz haben. Die neue geräumige 4-Zimmer-Wohnung befand sich in der zweiten Etage des Gartenhauses. Die Wohnung war zumindest zeitweise geteilt, es gab vorübergehend eine zweite Mietpartei in der Wohnung. Den beiden Frauen, Mutter und Tochter standen auf jeden Fall 2 ½ Zimmer zur Verfügung. „Da die Übernahme einer kleinen Wohnung von uns als eine infolge des Nazi-Regimes notwendige Übergangsperiode angesehen wurde, nahmen wir den größten Teil der Wohnungseinrichtung mit uns“, wird Ilse Latte später berichten. „Die Teppiche wurden in den besonders großen Zimmern übereinandergelegt.“ Am 13.
November 1938 wandert Tochter Ilse nach England aus. Ein Jahr später, am 11. November 1939 verstirbt Olga Latte 67-jährig in ihrer Wohnung. Ungewiss ist, ob sie in der Zeit davor krank oder hilfebedürftig gewesen ist. Denn zumindest vorübergehend haben ihre Tochter Hildegard Rosenthal und ihr Ehemann Manfred wahrscheinlich bei der Mutter in der Landhausstraße gewohnt. Das ergeben die Daten der Volkszählung vom 17. Mai 1939. Vielleicht war das Ehepaar aber auch nur polizeilich dort gemeldet und lebte woanders, dies ist unbekannt. Kurz nach dem Tod von Olga Latte wurde die Wohnung in der Landhausstraße 9 aufgelöst. Das Inventar geriet in fremde Hände. Spätere Zeugenaussagen belegen dies.
Vor 1939 hat das Ehepaar Hildegard und Manfred Rosenthal in einer 3 ½ Zimmer-Wohnung in der Motzstraße 79 mit eigenen wertvollen Möbeln gelebt. Wie lange ist nicht bekannt. Nur der allerletzte Wohnsitz des Ehepaares steht fest: der Prager Platz 2. In den 20er-Jahren eine beliebte Wohnadresse von Prominenten und Künstlern. Anfang März 1943 zerstörte ein Luftangriff fast alle Häuser des Prager Platzes.
Zur selben Zeit, am 1. März 1943 wurde Manfred Rosenthal in einen Zug nach Auschwitz verfrachtet. Es war der 31. Osttransport. Zwei Tage später wurde seine Frau Hildegard mit dem 33. Osttransport ebenfalls nach Auschwitz gebracht. Am 1. April 1943 wurden beide in Auschwitz ermordet.
Auch der Bruder von Hildegard Rosenthal, Manfred Latte, überlebte die Nazi-Herrschaft nicht. Im Jahr 1935 musste der promovierte Jurist seine kaufmännische Tätigkeit in Breslau aufgeben und schlug sich als Vertreter durch. 1938 war er kurzzeitig im KZ Buchenwald interniert. Im Februar 1943 floh die Familie nach Berlin und versteckte sich hier bis zu ihrer Verhaftung im September 1943. Manfred Latte und seine Frau Margarete wurden nach Auschwitz deportiert. Der Sohn der beiden, der 1922 geborene Musiker Konrad Latte, konnte am 23. November 1943 bei einem Bombenangriff aus dem Gestapogefängnis in der Großen Hamburger Straße fliehen. Er überlebte unter falschem Namen. Freunde und Kollegen, darunter seine spätere Ehefrau Ellen Brockmann, unterstützten ihn unter Lebensgefahr. Nach dem Krieg war er als Musiker erfolgreich. So gründete er u.a. das „Berliner Barockorchester“. Ellen Brockmann erhielt die israelische Auszeichnung „Gerechte unter den Völkern“.
Recherche und Text: Gudrun Küsel
Quellen:
Entschädigungsamt Berlin
Volkszählung 17. Mai 1939
Landesarchiv Berlin
WGA Datenbank
Berliner Adressbücher 1931-1940
Additional Sources:
Peter Schneider: Konrad oder die Liebe zur Musik. In: Der Spiegel Nr. 42, 2000
www.jüdische-gemeinden.de