Stolpersteine Landhausstr. 36

Landhausstraße 36, 17.8.2010, Foto: KHMM

Landhausstraße 36, 17.8.2010, Foto: KHMM

Die drei Stolpersteine vor dem Haus an der Landhausstraße 36 wurden am 15.4.2010 verlegt.

Stolperstein für Julius Cohn

Stolperstein für Julius Cohn

HIER WOHNTE
JULIUS COHN
JG. 1899
DEPORTIERT 26.2.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Julius Kurt Cohn wurde am 30. Juni 1899 in der Großbeerenstraße 25 in Berlin-Kreuzberg geboren. Sein Vater, der Kaufmann Moritz Cohn, war bei seiner Geburt 42 Jahre alt und seine Mutter Lucia Cohn geborene Francken 29 Jahre. Julius hatte einen drei Jahre älteren Bruder mit Namen Alfred und einen vier Jahre jüngeren Bruder mit Namen Heinz.
Als Julius 12 Jahre alt war, starb sein Vater Moritz Cohn am 25. Mai 1912 mit 55 Jahren. Seine Mutter wurde mit 42 Jahren Witwe.
Sein ältester Bruder Alfred nahm mit 18 Jahre am Ersten Weltkrieg teil. Mit dem Verwundetenabzeichen und dem Eisernen Kreuz II. Klasse kehrte er 1918 aus dem Krieg zurück. Alfred studierte Medizin und wurde Arzt. Es ist anzunehmen, dass auch Julius eine höhere Bildung genoss, leider konnte hierzu nichts recherchiert werden.

Als sein ältester Bruder im Dezember 1931 heiratete, wurde er Trauzeuge und gab als Beruf Kaufmann und als Wohnadresse die Mainzer Straße 16 in Berlin-Wilmersdorf an, wo auch seine Mutter und sein jüngster Bruder Heinz wohnten. 1936 zogen die drei in die Landhausstraße 36 in eine 3-Zimmer-Parterrewohnung im Gartenhaus rechts. Hier waren sie auch bei der Minderheiten-Volkszählung am 17. Mai 1939 gemeldet.

Wann und wo Julius seine spätere Ehefrau Judith kennenlernte, ist nicht bekannt.
Judith Pogorzelski wurde am 26. April 1909 in Breslau geboren. Aus der ersten Ehe ihres Vaters hatte sie einen 3-jährigen Halbbruder Hans Wilhelm (geboren 1906). Ihre Eltern, der Kaufmann und Fleischermeister Wilhelm Pogorzelski (*1869) und die Fleischereigeschäftsinhaberin Flora, geborene Preuss, verwitwete Reiter (*1872), gingen in den 1920er-Jahren nach Berlin. Ihr Vater starb dort mit 52 Jahren am 25. April 1922, einen Tag vor Judiths 13. Geburtstag. Ihre Mutter wurde mit 49 Jahren Witwe und hatte für ihren 16-jährigen Stiefsohn Hans und ihre Tochter Judith zu sorgen.
Am 14. November 1933 heiratete Judiths Bruder, der Kaufmann Hans Pogorzelski, die 20-jährige Ilse Elisabeth Cohen. Judiths Mutter Flora war Trauzeugin und wohnte damals mit der Familie in der Saarstraße 12 in Berlin-Schöneberg.
Im April 1934 zogen Judith und ihre Mutter in eine 3-Zimmerwohnung im II. Stock des Hauses in der Martin-Luther-Straße 87. Am 24. Mai 1937 wanderten Hans und Ilse in die USA aus.

Julius und Judith hatten seit 1941 Zwangsarbeit zu leisten. Julius arbeitete, wie sein jüngster Bruder Heinz, als Maschinenarbeiter bei der Firma Heinrich Klüssendorf im Zitadellenweg 20 in Berlin-Spandau. Die Firma Klüssendorf war auch als Rüstungsbetrieb tätig und lieferte Teile für die Herstellung automatischer Waffen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden zudem die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke beliefert. Judith arbeitete in Berlin-Siemensstadt bei Siemens & Halske, die für die deutsche Armee große Stückzahlen von MG08/15-Maschinengewehren und Feldtelefone vom Typ „Feldfernsprecher 33“ produzierten.

Julius Cohn und Judith Pogorzelski heirateten am 5. Juni 1942 in Berlin-Schöneberg. Seit dem 15. Oktober 1942 wohnte auch Julius in der Martin-Luther-Straße 87.

Anfang 1943 bekam Judiths Mutter Flora den Deportationsbefehl. Mit dem 80. Alterstransport wurde sie am 13. Januar 1943 vom Anhalter Bahnhof in Berlin in das Ghetto Theresienstadt deportiert.

Julius und Judith bekamen aus der Familie Cohn als Erste den Deportationsbefehl. Mit dem 30. Osttransport wurden sie mit weiteren 1.098 Personen am 26. Februar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Julius Cohn starb mit 43 Jahren und Judith Cohn mit 33 Jahren.

Text und Recherche: Gundula Meiering, Oktober 2024

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945; Berliner Adressbuch – Zentral- und Landesbibliothek Berlin; Arolsen Archives – Deportationslisten; Mapping the Lives; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über Ancestry; My Heritage; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam – Vermögenserklärungen

Stolperstein für Heinz Cohn

Stolperstein für Heinz Cohn

HIER WOHNTE
HEINZ COHN
JG. 1903
DEPORTIERT19.4.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET

Heinz Albert Cohn wurde am 3. Oktober 1903 in der Großbeerenstraße 25 in Berlin-Kreuzberg geboren. Sein Vater, der Kaufmann Moritz Cohn, war bei seiner Geburt 46 Jahre alt und seine Mutter Lucia Cohn, geborene Francken, 33 Jahre. Heinz hatte zwei ältere Brüder, den 7-jährigen Alfred und den 4-jährigen Julius.

Als Heinz 8 Jahre alt war, starb sein Vater Moritz Cohn am 25. Mai 1912 mit 55 Jahren. Seine Mutter wurde mit 42 Jahren Witwe.

Sein ältester Bruder Alfred nahm mit 18 Jahren am Ersten Weltkrieg teil. Mit dem Verwundetenabzeichen und dem Eisernen Kreuz II. Klasse kehrte er 1918 aus dem Krieg zurück. Alfred studierte Medizin und wurde Arzt. Es ist anzunehmen, dass auch Heinz eine höhere Bildung genoss, leider konnte hierzu nichts recherchiert werden.

Als sein ältester Bruder im Dezember 1931 heiratete, wohnte Heinz zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder Julius in der Mainzer Straße 16 in Berlin-Wilmersdorf. 1936 zogen die drei in die Landhausstraße 36 in eine 3-Zimmer-Parterrewohnung im Gartenhaus rechts. Hier waren sie auch bei der Minderheiten-Volkszählung am 17. Mai 1939 gemeldet.

In der bei seiner Deportation angelegten Vermögensakte fand sich ein Schreiben des Finanzamtes Wilmersdorf-Süd an den Oberfinanzpräsidenten, in dem mitgeteilt wurde, dass „Heinz Israel Cohn, Autovermietung” für 1943 noch Vermögenssteuer in Höhe von 40 RM zu entrichten habe. „Nach dem Stande vom 1. Januar 1940 besaß der Steuerpflichtige ein Vermögen von 8.486 RM.“ Demnach verdiente Heinz seinen Unterhalt mit Autovermietung. Da ab dem 3. Dezember 1938 Juden das Führen und Halten von PKW mit sofortiger Wirkung verboten war, konnte er diese Tätigkeit danach nicht mehr ausüben. Führerscheine und Kfz-Papiere mussten bis spätestens 31. Dezember 1938 zurückgegeben werden.

Wann und wo Heinz Cohn seine spätere Ehefrau Flora kennenlernte, ist nicht bekannt.

Die am 15. November 1907 geborene Flora Ball, Tochter des aus Galizien stammenden Eiergroßhändlers Abraham Ball und seiner Gattin Berta Erika Ball, geborene Alexandrowitz, hatte zum ersten Mal mit 22 Jahren am 29. April 1930 den 23-jährigen Österreicher Karl Opat geheiratet. Schon drei Monate später kam ihr Sohn Victor Alexander zur Welt.

1935 wurde auf der Heiratsurkunde mit einem Stempel vermerkt, dass die Ehe zwischen Karl Opat und Flora Opat durch das am 28. Juni 1935 rechtskräftig gewordene Urteil für aufgelöst erklärt wurde, wobei das auf dem Stempel vorgegebene Wort „geschieden“ durchgestrichen wurde. Es ist anzunehmen, dass Karl Opat sich als Opfer einer arglistigen Täuschung sah und deshalb den Antrag auf Aufhebung der Ehe stellte. Er selber gab später in Wien an, dass er nicht geschieden, sondern ledig sei.

In der von Flora bei der Deportation ausgefüllten Vermögenserklärung schrieb sie mehrmals, dass ihr mittlerweile 12-jährige Sohn Victor „Geltungsjude” sei. Karl Opat war Jude, deshalb kann davon ausgegangen werden, dass Victors leiblicher Vater nicht Karl Opat war.

Nach Auflösung der Ehe zog Flora zu ihrer Mutter, die seit 1932 verwitwet war. Bei der Minderheiten-Volkszählung 1939 waren Flora, Victor und ihre Mutter Berta in der Madaistraße 1 in Horst-Wessel-Stadt (heute Berlin-Friedrichshain) in der Nähe des Ostbahnhofs gemeldet. Von dieser Adresse wurde ihre Mutter am 8. September 1942 nach Riga deportiert.

Heinz und Flora heirateten am 18. Dezember 1941. Heinz wurde mit der Heirat Stiefvater von Victor. Erst nach der Deportation von Floras Mutter zog die kleine Familie im Oktober 1942 zu Heinz Mutter in die 1,5 Zimmer ihrer Wohnung in der Landhausstraße 36.

Heinz und Flora hatten seit 1941 Zwangsarbeit zu leisten. Heinz arbeitete wie sein älterer Bruder Julius als Maschinenarbeiter bei der Firma Heinrich Klüssendorf im Zitadellenweg 20 in Berlin-Spandau. Die Firma Klüssendorf war auch als Rüstungsbetrieb tätig und lieferte Teile für die Herstellung automatischer Waffen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden zudem die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke beliefert. Flora arbeitete als Stanzerin in der Firma Max Scheele in der Blücherstraße 37 in Berlin-Kreuzberg. Da die jüdischen Schulen 1941 schon geschlossen waren, wird Victor sich in der Wohnung bei Heinz’ Mutter aufgehalten haben.

Als ersten der Familie Cohn deportierte die Gestapo Julius zusammen mit seiner Ehefrau Judith am 26. Februar 1943 aus der Martin-Luther-Straße 87 nach Auschwitz. Kurze Zeit später erhielten Heinz, Flora und Viktor den Deportationsbefehl. Im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 21 mussten sie am 12. März 1943 die Vermögenserklärungen ausfüllen und danach auf ihre Deportation warten.

Heinz’ Mutter Lucia hatte ihre Vermögenserklärung schon am 6. März 1943 ausgefüllt. Auf die Frage, welche Familienangehörigen schon ausgewandert seien, gab sie ihre beiden Söhne, Julius und Heinz mit der Bemerkung „abgewandert“ an. Mit dem 4. Großen Alterstransport wurde sie am 17. März 1943 mit 1.199 anderen vom Anhalter Bahnhof in Berlin nach Theresienstadt deportiert.

Heinz, Flora und Victor blieben noch über einen Monat im Sammellager. Da Heinz ältester Bruder Alfred für die Reichsvereinigung der Juden arbeitete, wird er alles versucht haben, die Deportation seines jüngsten Bruders hinauszuzögern, allerdings ohne Erfolg. Am 19. April 1943 deportierte die Gestapo Heinz, Flora und Victor zusammen mit weiteren 685 Personen mit dem 37. Osttransport in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie sie ermordeten.

Heinz Cohn starb mit 39 Jahren, Flora Cohn mit 35 Jahren und Victor Opat mit 12 Jahren.

Text und Recherche: Gundula Meiering, Oktober 2024

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945; Breslauer Adressbuch; Berliner Adressbuch – Zentral- und Landesbibliothek Berlin; Arolsen Archives – Deportationslisten; Mapping the Lives; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über Ancestry; My Heritage; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam – Vermögenserklärungen

Stolperstein für Lucia Cohn

Stolperstein für Lucia Cohn

HIER WOHNTE
LUCIA COHN
GEB. FRANCKEN
JG. 1870
DEPORTIERT 17.3.1943
THERESIENSTADT
“FREIKAUF”
TRANSPORT 5.2.1945
IN DIE SCHWEIZ
ÜBERLEBT

Lucia Francken wurde am 13. Juli 1870 als jüngste Tochter von Philipp Francken (geboren 1828 in Geldern) und Betty Francken, (1837 – 1926) geborene Auerbacher, in Aachen geboren. Ihr ältester Bruder Julius war damals 7 Jahre und Alfred 4 Jahre alt. Über ihre Kindheit und Jugend konnte nichts recherchiert werden. Da sie Englisch- und Französischkenntnisse besaß, ist anzunehmen, dass sie eine Höhere Töchterschule besuchte. Ihr Vater, der Kaufmann Philipp Francken, starb, als sie 17 Jahre alt war, am 7. Januar 1888 in Aachen. Als auch ihr ältester Bruder Julius am 11. April 1897 mit 34 Jahren starb, wohnte Lucia schon mindestens zwei Jahre in Berlin.

Wann sie ihren späteren Ehemann, den Kaufmann Moritz Cohn, kennenlernte und heiratete, ist nicht bekannt. Moritz Cohn wurde 1856 als viertes von insgesamt fünf Kindern in Samotschin im Kreis Kolmar (heute Szamocin in Polen) geboren. Nach dem Tod der Eltern in den 1880er- Jahren gingen sein 4 Jahre älterer Bruder Issac, seine älteren Schwestern Ernestine und Bertha und auch seine jüngste Schwester Rose mit ihm nach Berlin.
Vermutlich heirateten Moritz Cohn und Lucia Francken 1895. Ihr erster Sohn Alfred Philipp Emanuel kam am 27. Juli 1896 in der Großbeerenstraße 25 in Berlin-Kreuzberg zur Welt. Sie nannten ihn Alfred, nach Lucias Bruder und Philipp nach ihrem verstorbenen Vater.
Ebenfalls in Berlin heiratete ihr Bruder Alfred am 19. September 1898 Betty Schwabe, die mit ihren Eltern ebenfalls von Aachen nach Berlin gezogen war und damals in der Kalckreuthstraße 5 in Berlin-Charlottenburg (heute Schöneberg) wohnte. Das frisch vermählte Ehepaar ging jedoch zurück nach Aachen.
Lucias zweiter Sohn Julius Kurt wurde am 30. Juni 1899 und der dritte Sohn Heinz Albert am 3. Oktober 1903 geboren. Als ihr jüngster Sohn Heinz 8 Jahre alt war, starb sein Vater, der Kaufmann Moritz Cohn, am 25. Mai 1912 mit 55 Jahren. Lucia wurde mit 42 Jahre Witwe und ihre drei Söhne Halbwaisen.

Als 1914 der Erste Weltkrieg begann, war ihr ältester Sohn Alfred 18 Jahre alt und sehr motiviert, nach der Reifeprüfung an diesem Krieg teilzunehmen. Mit dem Verwundetenabzeichen und dem Eisernen Kreuz II. Klasse kehrte er aus dem Krieg zurück.
Anschließend studierte er Medizin an der Universität Berlin. In der Warschauer Straße 32 in Berlin-Friedrichshain eröffnete er eine eigene Arztpraxis und galt als vermögend. Mit 35 Jahren heiratete er am 18. Dezember 1931 die gleichaltrige, aus Maastricht in Holland stammende Mathilde Goldstein. Sein 32-jähriger Bruder Julius bezeugte die Trauung. Er und sein jüngerer Bruder Heinz wohnten damals noch bei ihrer Mutter in der Mainzer Straße 16 in Berlin-Wilmersdorf. Die beiden Brüder traten in die Fußstapfen ihres Vaters und wurden wie er Kaufleute von Beruf.

Am 29. Dezember 1932 kam Alfred und Mathildes Sohn Gert zur Welt. Lucia wurde mit 62 Jahren Großmutter.
Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 sah sich Alfred als jüdischer Arzt antisemitischen Einschüchterungs- und Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Da er Weltkriegsteilnehmer war, wurde ihm gemäß Zulassungsverordnung vom 28. September 1933 die Zulassung als Arzt erst einmal nicht entzogen.

1936 zog Lucia Cohn mit ihren Söhnen Julius und Heinz in die Landhausstraße 36 in eine 3-Zimmer-Parterrewohnung im Gartenhaus rechts.
Zwei Jahre später, 1938, wurde ihrem Sohn Alfred wie allen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen, dadurch war er gezwungen seine Arztpraxis zu schließen. Er zog mit seiner Familie in Lucias Nähe in den II. Stock des Hinterhauses in der Kaiserallee (heute Bundesallee) 48. Kurz nach der Minderheiten-Volkszählung bot sich ihm die Möglichkeit, am 1. Juli 1939 in die Büsingstraße 6 in Berlin-Friedenau umzuziehen. Sein 20 Jahre älterer Kollege, der Sanitätsrat Dr. Siegfried Laserstein, überließ ihm seine Wohnung, als er in die USA auswanderte. Seinen Unterhalt verdiente Alfred fortan bei der Reichsvereinigung der Juden.

Am 18. Dezember 1941 heiratete Lucias jüngster Sohn Heinz Flora Opat, geborene Ball. Flora hatte einen 11- jährigen Sohn mit Namen Victor Alexander. Durch die Heirat mit Flora wurde Heinz dessen Stiefvater. Sie bewohnten nach der Deportation von Floras Mutter seit Oktober 1942 1,5 Zimmer in der Landhausstraße 36 bei seiner Mutter. Da Heinz und Flora Zwangsarbeit leisten mussten und die Schulen für jüdische Kinder geschlossen waren, gaben sie Viktor in die Obhut von Lucia.

Julius Cohn heiratete am 5. Juni 1942 die 33-jährige Judith Pogorzelski und zog zu ihr in die Martin-Luther-Straße 87 in Berlin-Schöneberg. Julius und Judith bekamen aus der Familie Cohn als erste den Deportationsbefehl. Mit dem 30. Osttransport wurden sie mit weiteren 1.098 Personen am 26. Februar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Julius Cohn starb mit 43 Jahren und Judith Cohn mit 33 Jahren.

Kurze Zeit später erhielten auch Heinz, Flora und Victor den Deportationsbefehl. Im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 21 mussten sie am 12. März 1943 die Vermögenserklärungen ausfüllen und dann auf ihre Deportation warten. Erst fünf Wochen später, am 19. April 1943, deportierte die Gestapo Heinz, Flora und Victor Cohn zusammen mit weiteren 685 Personen mit dem 37. Osttransport in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie sie ermordeten. Heinz Cohn starb mit 39 Jahren, Flora Cohn mit 35 Jahren und Victor mit 12 Jahren.

Lucia hatte ihre Vermögenserklärung schon am 6. März 1943 ausgefüllt. Auf die Frage, welche Familienangehörigen schon ausgewandert seien, gab sie an, dass ihre beiden Söhne Julius und Heinz „abgewandert“ seien. Demnach wusste sie nicht, dass sich ihr jüngster Sohn Heinz und Familie noch im Sammellager in Berlin aufhielten.
Am 17. März 1943 deportierte die Gestapo Lucia Cohn mit dem 4. Großen Alterstransport mit insgesamt 1.200 Personen vom Anhalterbahnhof in Berlin nach Theresienstadt.
Als Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges und langjähriger Mitarbeiter der Reichsvereinigung der Juden wurde Lucias ältester Sohn, der 46-jährige Dr. Alfred Cohn mit seiner Familie, erst verhältnismäßig spät und nicht nach Auschwitz deportiert.
Zusammen mit seiner Frau Mathilde und seinem 11-jährigen Sohn Gert wurde er am 17. Mai 1943 nach Theresienstadt deportiert. Auf der Deportationsliste wurde vermerkt, dass er Inhaber des Verwundetenabzeichens und des Eisernen Kreuzes II. Klasse war.
Im Ghetto Theresienstadt trafen sie höchstwahrscheinlich ihre Mutter Lucia wieder. Sie lebten dort über ein Jahr. Auch im Ghetto wird Alfred Mitarbeiter der „jüdischen Selbstverwaltung“ gewesen sein. Einen Tag nach der Hinrichtung von Dr. Paul Eppstein, dem zweiten „Judenältesten“ in Theresienstadt, wurde Alfred zusammen mit anderen Mitarbeitern der „jüdischen Selbstverwaltung“ am 28. September 1944 nach Auschwitz deportiert. Es ging das Gerücht um, es handele sich um einen Ärztetransport nach Polen. Die SS-Kommandantur machte den Frauen der Deportierten das zynische Angebot, dass sie ihre bereits deportierten Männer mit dem nächsten Zug folgen könnten.
Mathilde und ihr Sohn Gert machten von diesem Angebot sechs Tage später, am 4. Oktober 1944, Gebrauch. Die Gestapo deportierte sie in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie sie ermordeten. Alfred und Mathilde starben mit 48 Jahren und Gert mit 12 Jahren.

Vier Monate später, Anfang Februar 1945, ging im Ghetto das Gerücht um, dass die SS einen Transport in die Schweiz vorbereite. Die Liste wurde von der Lagerkommandantur zusammengestellt. Es war aber auch möglich, sich freiwillig für den Transport zu melden oder sich von der Liste streichen zu lassen. Viele glaubten, dass der angebliche Transport in die Schweiz ein Trick der SS sei, um Juden nach Osten zu transportieren, und lehnten deshalb die Mitfahrt ab.
Tatsächlich war der Transport das Resultat geschickter Verhandlungen zwischen dem ehemaligen Vorsitzenden des Schweizerischen Bundesrates, Jean Marie Musy, und dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, der das Schicksal der Jüdinnen und Juden als Verhandlungsmasse gegenüber den Alliierten einsetzte. Jean Marie Musy handelte dabei nicht im Auftrag der Schweizer Regierung, die zu keinem Zeitpunkt über die Absichten der Verhandlungen informiert worden war, sondern war im Auftrag des jüdischen Ehepaares Recha und Isaak Sternbuch aus Montreux unterwegs, die auch ein Auto zur Verfügung stellten und für die Spesen aufkamen. Zwei Brüder von Recha Sternbuch sollten u.a. aus dem Ghetto Theresienstadt befreit werden. Roswell McClelland, der zuständige Direktor des War Refugee Boards (US-Regierungsstelle in der Schweiz, die Opfern der NS-Diktatur, insbesondere jüdischen Flüchtlingen, helfen sollte), informierte Jean Marie Musy Mitte Januar 1945, dass seine Organisation in den USA eine Million Dollar für den Freikauf auf einem Schweizer Konto der Sternbuchs bereitstelle. Das Geld wurde nie ausgezahlt.

Wie Lucia Cohn auf die Liste kam, ist nicht bekannt. Sie hatte nichts mehr zu verlieren und nahm die Gelegenheit wahr, das Ghetto zu verlassen. Die Reisewilligen wurden in den Hof bestellt und der Dienststelle vorgeführt. Akademiker und Großunternehmer wurden ausgeschieden. Lucia bekam einen Stempel in ihren von der Selbstverwaltung am 1. Januar 1945 unter der Nr. 001598 ausgestellten neuen Personalausweis. Am Montag, dem 5. Februar 1945, um 16 Uhr verließen 1.200 Reisende, zum Erstaunen aller in einem Personenwagen und nicht, wie sonst üblich, in einem Viehwagen, Theresienstadt.
Während der Zugfahrt sahen die Reisenden das zerstörte Deutsche Reich entlang der Strecke Bayreuth, Nürnberg, Augsburg und Friedrichshafen, wo der Zug in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar stehenblieb. Am nächsten Morgen ging es weiter nach Konstanz, wo Jean Marie Musy die Reisenden persönlich in Empfang nahm, bevor sie in zwei Züge der Schweizer Bundesbahn (SBB) umsteigen mussten. Um 11.45 Uhr kamen sie am Bahnhof Kreuzlingen an. Hier wurden sie von Schweizern und Repräsentanten der örtlichen jüdischen Gemeinde in Empfang genommen. Am Nachmittag des 7. Februars 1945 kamen die beiden Züge, für die Schweizer Behörden unangemeldet, in St. Gallen an. Die Unterbringung erfolgte zunächst in einem Schulgebäude.
Fünf Tage später kam Lucia Cohn in das Internationale Lager „Belmont“ in Montreux. Im Fragebogen des eidgenössischen Justiz- und Polizeipräsidenten gab sie auf die Frage, ob sie Angehörige im Ausland habe, den Namen von Martin Friedmann in Sao Paulo, Brasilien, an. Martin Emanuel Friedmann war der jüngste Sohn von Moritz Cohns älteren Schwester Bertha Friedmann, geborene Cohn. Er hatte noch 1937 ganz in der Nähe von Lucia in der Nassauischen Straße 31 gelebt. 1939 gelang ihm mit Frau, Tochter und Schwiegersohn die Flucht über Brasilien in die USA.

Mitte Juli 1945 quartierte man Lucia Cohn und 400 andere vorübergehend in das Hotel Titlis in Engelberg ein. Dort erreichte sie ein Brief des Verbandes Schweizerischer jüdischer Flüchtlingshilfen (VSJF) mit einer Anfrage von Rudolf Hesse aus London, der eine Lucia Cohn suchte, „welche in Berlin Friedenau gewohnt hat und deren drei Söhne Dr. Alfred, Julius und Heinz heißen.“ Rudolf Hesse war der jüngste Sohn ihrer Nichte Dora Hesse, geborene Seligsohn, die wiederum Tochter von Moritz Cohns älteren Schwester Ernestine Seligsohn, geborene Cohn war. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im August 1939 gelang ihm noch die Flucht aus Berlin nach England zusammen mit seiner Ehefrau Ilse und seiner damals 63-jährigen Mutter Dora.

Lucia antwortete am 18. Juli 1945 auf Papier des Hilfswerks für Zivilinternierte Flüchtlinge in der Schweiz (auf Anregung der Christlichen Vereine Junger Männer und der Christlichen Vereine Junger Töchter), dass das Schreiben in ihren Besitz gelangt sei, da der Verband ihre Adresse bereits nach London weitergegeben habe und sie es nicht mehr für notwendig erachte, nochmals zu schreiben, zumal ihr es für solche Ausgaben an nötigen Mitteln mangele. Sie schrieb weiter, dass „die Angaben über ihre Söhne stimmen. Es sind meine Söhne, nach denen ich schon dauernd forsche, aber leider bisher ohne Erfolg.“
Im Flüchtlingsheim Edelweiss in Engelberg erreichte sie am 9. Oktober 1947 die Nachricht, dass ihr Antrag auf Dauerasyl in der Schweiz bewilligt worden war. Da das Flüchtlingsheim aufgelöst werden sollte, suchte die Jüdische Flüchtlingshilfe in Luzern nach einem Altersheimplatz für Lucia Cohn. Sie schrieben, dass es sich bei Frau Cohn „um eine ältere, feine Dame“ handele, „die es verdient, ihren Lebensabend in Ruhe zu verbringen.“
Nach vielem Hin und Her bekam sie einen Platz im Altersheim „Les Berges du Léman“ in Vevey, welches sie Mitte der Fünfziger Jahre aufgrund von Entschädigungs- und Wiedergutmachungszahlungen für entzogene Vermögenswerte ihres Sohnes Alfred vom Amt aus Berlin selber bezahlen konnte. Das Geld ermöglichte ihr einen finanziell sorglosen Lebensabend.

Lucia Cohn starb am 29. Juni 1960 im Alter von fast 90 Jahren im Altersheim „Berges du Léman“ in Vevey in der Schweiz.

Text und Recherche: Gundula Meiering, Oktober 2024

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945; Berliner Adressbuch – Zentral- und Landesbibliothek Berlin; Arolsen Archives – Deportationslisten; Mapping the lives; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry; My Heritage; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam – Vermögenserklärungen
Masterarbeit, Der Zug in die Freiheit von Catrina Schmid, 2017
ETH Archiv für Zeitgeschichte, Flüchtlingsakten: Personendossier, Schweizerisch Jüdischer Vorsorgen (VSJF) IB VSJF-Archiv / C. 172 Cohn, Luzia geb. 13.10.1870