HIER WOHNTE
LUCIA COHN
GEB. FRANCKEN
JG. 1870
DEPORTIERT 17.3.1943
THERESIENSTADT
“FREIKAUF”
TRANSPORT 5.2.1945
IN DIE SCHWEIZ
ÜBERLEBT
Lucia Francken wurde am 13. Juli 1870 als jüngste Tochter von Philipp Francken (geboren 1828 in Geldern) und Betty Francken, (1837 – 1926) geborene Auerbacher, in Aachen geboren. Ihr ältester Bruder Julius war damals 7 Jahre und Alfred 4 Jahre alt. Über ihre Kindheit und Jugend konnte nichts recherchiert werden. Da sie Englisch- und Französischkenntnisse besaß, ist anzunehmen, dass sie eine Höhere Töchterschule besuchte. Ihr Vater, der Kaufmann Philipp Francken, starb, als sie 17 Jahre alt war, am 7. Januar 1888 in Aachen. Als auch ihr ältester Bruder Julius am 11. April 1897 mit 34 Jahren starb, wohnte Lucia schon mindestens zwei Jahre in Berlin.
Wann sie ihren späteren Ehemann, den Kaufmann Moritz Cohn, kennenlernte und heiratete, ist nicht bekannt. Moritz Cohn wurde 1856 als viertes von insgesamt fünf Kindern in Samotschin im Kreis Kolmar (heute Szamocin in Polen) geboren. Nach dem Tod der Eltern in den 1880er- Jahren gingen sein 4 Jahre älterer Bruder Issac, seine älteren Schwestern Ernestine und Bertha und auch seine jüngste Schwester Rose mit ihm nach Berlin.
Vermutlich heirateten Moritz Cohn und Lucia Francken 1895. Ihr erster Sohn Alfred Philipp Emanuel kam am 27. Juli 1896 in der Großbeerenstraße 25 in Berlin-Kreuzberg zur Welt. Sie nannten ihn Alfred, nach Lucias Bruder und Philipp nach ihrem verstorbenen Vater.
Ebenfalls in Berlin heiratete ihr Bruder Alfred am 19. September 1898 Betty Schwabe, die mit ihren Eltern ebenfalls von Aachen nach Berlin gezogen war und damals in der Kalckreuthstraße 5 in Berlin-Charlottenburg (heute Schöneberg) wohnte. Das frisch vermählte Ehepaar ging jedoch zurück nach Aachen.
Lucias zweiter Sohn Julius Kurt wurde am 30. Juni 1899 und der dritte Sohn Heinz Albert am 3. Oktober 1903 geboren. Als ihr jüngster Sohn Heinz 8 Jahre alt war, starb sein Vater, der Kaufmann Moritz Cohn, am 25. Mai 1912 mit 55 Jahren. Lucia wurde mit 42 Jahre Witwe und ihre drei Söhne Halbwaisen.
Als 1914 der Erste Weltkrieg begann, war ihr ältester Sohn Alfred 18 Jahre alt und sehr motiviert, nach der Reifeprüfung an diesem Krieg teilzunehmen. Mit dem Verwundetenabzeichen und dem Eisernen Kreuz II. Klasse kehrte er aus dem Krieg zurück.
Anschließend studierte er Medizin an der Universität Berlin. In der Warschauer Straße 32 in Berlin-Friedrichshain eröffnete er eine eigene Arztpraxis und galt als vermögend. Mit 35 Jahren heiratete er am 18. Dezember 1931 die gleichaltrige, aus Maastricht in Holland stammende Mathilde Goldstein. Sein 32-jähriger Bruder Julius bezeugte die Trauung. Er und sein jüngerer Bruder Heinz wohnten damals noch bei ihrer Mutter in der Mainzer Straße 16 in Berlin-Wilmersdorf. Die beiden Brüder traten in die Fußstapfen ihres Vaters und wurden wie er Kaufleute von Beruf.
Am 29. Dezember 1932 kam Alfred und Mathildes Sohn Gert zur Welt. Lucia wurde mit 62 Jahren Großmutter.
Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 sah sich Alfred als jüdischer Arzt antisemitischen Einschüchterungs- und Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Da er Weltkriegsteilnehmer war, wurde ihm gemäß Zulassungsverordnung vom 28. September 1933 die Zulassung als Arzt erst einmal nicht entzogen.
1936 zog Lucia Cohn mit ihren Söhnen Julius und Heinz in die Landhausstraße 36 in eine 3-Zimmer-Parterrewohnung im Gartenhaus rechts.
Zwei Jahre später, 1938, wurde ihrem Sohn Alfred wie allen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen, dadurch war er gezwungen seine Arztpraxis zu schließen. Er zog mit seiner Familie in Lucias Nähe in den II. Stock des Hinterhauses in der Kaiserallee (heute Bundesallee) 48. Kurz nach der Minderheiten-Volkszählung bot sich ihm die Möglichkeit, am 1. Juli 1939 in die Büsingstraße 6 in Berlin-Friedenau umzuziehen. Sein 20 Jahre älterer Kollege, der Sanitätsrat Dr. Siegfried Laserstein, überließ ihm seine Wohnung, als er in die USA auswanderte. Seinen Unterhalt verdiente Alfred fortan bei der Reichsvereinigung der Juden.
Am 18. Dezember 1941 heiratete Lucias jüngster Sohn Heinz Flora Opat, geborene Ball. Flora hatte einen 11- jährigen Sohn mit Namen Victor Alexander. Durch die Heirat mit Flora wurde Heinz dessen Stiefvater. Sie bewohnten nach der Deportation von Floras Mutter seit Oktober 1942 1,5 Zimmer in der Landhausstraße 36 bei seiner Mutter. Da Heinz und Flora Zwangsarbeit leisten mussten und die Schulen für jüdische Kinder geschlossen waren, gaben sie Viktor in die Obhut von Lucia.
Julius Cohn heiratete am 5. Juni 1942 die 33-jährige Judith Pogorzelski und zog zu ihr in die Martin-Luther-Straße 87 in Berlin-Schöneberg. Julius und Judith bekamen aus der Familie Cohn als erste den Deportationsbefehl. Mit dem 30. Osttransport wurden sie mit weiteren 1.098 Personen am 26. Februar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Julius Cohn starb mit 43 Jahren und Judith Cohn mit 33 Jahren.
Kurze Zeit später erhielten auch Heinz, Flora und Victor den Deportationsbefehl. Im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 21 mussten sie am 12. März 1943 die Vermögenserklärungen ausfüllen und dann auf ihre Deportation warten. Erst fünf Wochen später, am 19. April 1943, deportierte die Gestapo Heinz, Flora und Victor Cohn zusammen mit weiteren 685 Personen mit dem 37. Osttransport in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie sie ermordeten. Heinz Cohn starb mit 39 Jahren, Flora Cohn mit 35 Jahren und Victor mit 12 Jahren.
Lucia hatte ihre Vermögenserklärung schon am 6. März 1943 ausgefüllt. Auf die Frage, welche Familienangehörigen schon ausgewandert seien, gab sie an, dass ihre beiden Söhne Julius und Heinz „abgewandert“ seien. Demnach wusste sie nicht, dass sich ihr jüngster Sohn Heinz und Familie noch im Sammellager in Berlin aufhielten.
Am 17. März 1943 deportierte die Gestapo Lucia Cohn mit dem 4. Großen Alterstransport mit insgesamt 1.200 Personen vom Anhalterbahnhof in Berlin nach Theresienstadt.
Als Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges und langjähriger Mitarbeiter der Reichsvereinigung der Juden wurde Lucias ältester Sohn, der 46-jährige Dr. Alfred Cohn mit seiner Familie, erst verhältnismäßig spät und nicht nach Auschwitz deportiert.
Zusammen mit seiner Frau Mathilde und seinem 11-jährigen Sohn Gert wurde er am 17. Mai 1943 nach Theresienstadt deportiert. Auf der Deportationsliste wurde vermerkt, dass er Inhaber des Verwundetenabzeichens und des Eisernen Kreuzes II. Klasse war.
Im Ghetto Theresienstadt trafen sie höchstwahrscheinlich ihre Mutter Lucia wieder. Sie lebten dort über ein Jahr. Auch im Ghetto wird Alfred Mitarbeiter der „jüdischen Selbstverwaltung“ gewesen sein. Einen Tag nach der Hinrichtung von Dr. Paul Eppstein, dem zweiten „Judenältesten“ in Theresienstadt, wurde Alfred zusammen mit anderen Mitarbeitern der „jüdischen Selbstverwaltung“ am 28. September 1944 nach Auschwitz deportiert. Es ging das Gerücht um, es handele sich um einen Ärztetransport nach Polen. Die SS-Kommandantur machte den Frauen der Deportierten das zynische Angebot, dass sie ihre bereits deportierten Männer mit dem nächsten Zug folgen könnten.
Mathilde und ihr Sohn Gert machten von diesem Angebot sechs Tage später, am 4. Oktober 1944, Gebrauch. Die Gestapo deportierte sie in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie sie ermordeten. Alfred und Mathilde starben mit 48 Jahren und Gert mit 12 Jahren.
Vier Monate später, Anfang Februar 1945, ging im Ghetto das Gerücht um, dass die SS einen Transport in die Schweiz vorbereite. Die Liste wurde von der Lagerkommandantur zusammengestellt. Es war aber auch möglich, sich freiwillig für den Transport zu melden oder sich von der Liste streichen zu lassen. Viele glaubten, dass der angebliche Transport in die Schweiz ein Trick der SS sei, um Juden nach Osten zu transportieren, und lehnten deshalb die Mitfahrt ab.
Tatsächlich war der Transport das Resultat geschickter Verhandlungen zwischen dem ehemaligen Vorsitzenden des Schweizerischen Bundesrates, Jean Marie Musy, und dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, der das Schicksal der Jüdinnen und Juden als Verhandlungsmasse gegenüber den Alliierten einsetzte. Jean Marie Musy handelte dabei nicht im Auftrag der Schweizer Regierung, die zu keinem Zeitpunkt über die Absichten der Verhandlungen informiert worden war, sondern war im Auftrag des jüdischen Ehepaares Recha und Isaak Sternbuch aus Montreux unterwegs, die auch ein Auto zur Verfügung stellten und für die Spesen aufkamen. Zwei Brüder von Recha Sternbuch sollten u.a. aus dem Ghetto Theresienstadt befreit werden. Roswell McClelland, der zuständige Direktor des War Refugee Boards (US-Regierungsstelle in der Schweiz, die Opfern der NS-Diktatur, insbesondere jüdischen Flüchtlingen, helfen sollte), informierte Jean Marie Musy Mitte Januar 1945, dass seine Organisation in den USA
eine Million Dollar für den Freikauf auf einem Schweizer Konto der Sternbuchs bereitstelle. Das Geld wurde nie ausgezahlt.
Wie Lucia Cohn auf die Liste kam, ist nicht bekannt. Sie hatte nichts mehr zu verlieren und nahm die Gelegenheit wahr, das Ghetto zu verlassen. Die Reisewilligen wurden in den Hof bestellt und der Dienststelle vorgeführt. Akademiker und Großunternehmer wurden ausgeschieden. Lucia bekam einen Stempel in ihren von der Selbstverwaltung am 1. Januar 1945 unter der Nr. 001598 ausgestellten neuen Personalausweis. Am Montag, dem 5. Februar 1945, um 16 Uhr verließen 1.200 Reisende, zum Erstaunen aller in einem Personenwagen und nicht, wie sonst üblich, in einem Viehwagen, Theresienstadt.
Während der Zugfahrt sahen die Reisenden das zerstörte Deutsche Reich entlang der Strecke Bayreuth, Nürnberg, Augsburg und Friedrichshafen, wo der Zug in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar stehenblieb. Am nächsten Morgen ging es weiter nach Konstanz, wo Jean Marie Musy die Reisenden persönlich in Empfang nahm, bevor sie in zwei Züge der Schweizer Bundesbahn (SBB) umsteigen mussten. Um 11.45 Uhr kamen sie am Bahnhof Kreuzlingen an. Hier wurden sie von Schweizern und Repräsentanten der örtlichen jüdischen Gemeinde in Empfang genommen. Am Nachmittag des 7. Februars 1945 kamen die beiden Züge, für die Schweizer Behörden unangemeldet, in St. Gallen an. Die Unterbringung erfolgte zunächst in einem Schulgebäude.
Fünf Tage später kam Lucia Cohn in das Internationale Lager „Belmont“ in Montreux. Im Fragebogen des eidgenössischen Justiz- und Polizeipräsidenten gab sie auf die Frage, ob sie Angehörige im Ausland habe, den Namen von Martin Friedmann in Sao Paulo, Brasilien, an. Martin Emanuel Friedmann war der jüngste Sohn von Moritz Cohns älteren Schwester Bertha Friedmann, geborene Cohn. Er hatte noch 1937 ganz in der Nähe von Lucia in der Nassauischen Straße 31 gelebt. 1939 gelang ihm mit Frau, Tochter und Schwiegersohn die Flucht über Brasilien in die USA.
Mitte Juli 1945 quartierte man Lucia Cohn und 400 andere vorübergehend in das Hotel Titlis in Engelberg ein. Dort erreichte sie ein Brief des Verbandes Schweizerischer jüdischer Flüchtlingshilfen (VSJF) mit einer Anfrage von Rudolf Hesse aus London, der eine Lucia Cohn suchte, „welche in Berlin Friedenau gewohnt hat und deren drei Söhne Dr. Alfred, Julius und Heinz heißen.“ Rudolf Hesse war der jüngste Sohn ihrer Nichte Dora Hesse, geborene Seligsohn, die wiederum Tochter von Moritz Cohns älteren Schwester Ernestine Seligsohn, geborene Cohn war. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im August 1939 gelang ihm noch die Flucht aus Berlin nach England zusammen mit seiner Ehefrau Ilse und seiner damals 63-jährigen Mutter Dora.
Lucia antwortete am 18. Juli 1945 auf Papier des Hilfswerks für Zivilinternierte Flüchtlinge in der Schweiz (auf Anregung der Christlichen Vereine Junger Männer und der Christlichen Vereine Junger Töchter), dass das Schreiben in ihren Besitz gelangt sei, da der Verband ihre Adresse bereits nach London weitergegeben habe und sie es nicht mehr für notwendig erachte, nochmals zu schreiben, zumal ihr es für solche Ausgaben an nötigen Mitteln mangele. Sie schrieb weiter, dass „die Angaben über ihre Söhne stimmen. Es sind meine Söhne, nach denen ich schon dauernd forsche, aber leider bisher ohne Erfolg.“
Im Flüchtlingsheim Edelweiss in Engelberg erreichte sie am 9. Oktober 1947 die Nachricht, dass ihr Antrag auf Dauerasyl in der Schweiz bewilligt worden war. Da das Flüchtlingsheim aufgelöst werden sollte, suchte die Jüdische Flüchtlingshilfe in Luzern nach einem Altersheimplatz für Lucia Cohn. Sie schrieben, dass es sich bei Frau Cohn „um eine ältere, feine Dame“ handele, „die es verdient, ihren Lebensabend in Ruhe zu verbringen.“
Nach vielem Hin und Her bekam sie einen Platz im Altersheim „Les Berges du Léman“ in Vevey, welches sie Mitte der Fünfziger Jahre aufgrund von Entschädigungs- und Wiedergutmachungszahlungen für entzogene Vermögenswerte ihres Sohnes Alfred vom Amt aus Berlin selber bezahlen konnte. Das Geld ermöglichte ihr einen finanziell sorglosen Lebensabend.
Lucia Cohn starb am 29. Juni 1960 im Alter von fast 90 Jahren im Altersheim „Berges du Léman“ in Vevey in der Schweiz.
Text und Recherche: Gundula Meiering, Oktober 2024
Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945; Berliner Adressbuch – Zentral- und Landesbibliothek Berlin; Arolsen Archives – Deportationslisten; Mapping the lives; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry; My Heritage; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam – Vermögenserklärungen
Masterarbeit, Der Zug in die Freiheit von Catrina Schmid, 2017
ETH Archiv für Zeitgeschichte, Flüchtlingsakten: Personendossier, Schweizerisch Jüdischer Vorsorgen (VSJF) IB VSJF-Archiv / C. 172 Cohn, Luzia geb. 13.10.1870