HIER WOHNTE
MINNA EICK
GEB. SEELIG
JG. 1888
DEPORTIERT 26.2.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET
Minna Eick kam am 20. Juli 1888 in Hirschberg im Riesengebirge (heute Jelenia Góra in Polen) zur Welt. Sie war das älteste Kind des Kaufmanns Julius Seelig und dessen Frau Martha Olga, geborene Feistel, und hatte drei Geschwister, Hermann, Bertha und Dorothea.
Die ganze Familie zog um die Jahrhundertwende nach Berlin. Dort heiratete Minna den Kaufmann Louis Eick. Über seinen familiären Hintergrund war wenig in Erfahrung zu bringen, außer dass er am 26. Oktober 1877 im westpreußischen Krojanke (Krajenka) geboren war.
Am 13. Oktober 1909 bekam das Ehepaar eine Tochter, Erna Annette und viele Jahre später, mit großer Wahrscheinlichkeit nach 1921, noch einen Sohn, Horst. Zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie in der Bismarckstraße. Wann sie in die Sybelstraße umzog, ist nicht mehr festzustellen. Am Müggelsee hatten sie ein Sommerhäuschen, wo sich die Kinder mit Freunden und Familie oft und gerne aufhielten. Tochter Annette besuchte eine Privatschule am Savignyplatz.
Louis Eick besaß ein Möbelgeschäft in der Mommsenstraße 5. Das prächtige Haus des Architekten Albert Gessner steht heute unter Denkmalschutz und in Herrn Eicks Laden befindet sich ein Antiquitätengeschäft.
1912 starb Minnas Vater mit 53 Jahren. Er ist auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee beigesetzt.
Die Eicks führten ein gutbürgerliches, gut situiertes Leben. Tochter Annette bezeichnete ihre Familie später als „Yom-Kippur-Juden“: Nicht sehr religiös, aber die heiligen Feiertage wurden geehrt. Annette merkte schon als Schulmädchen, dass sie lesbisch war. Als Teenager und junge Frau machte sie dann die „Damenclubs“ von Berlin unsicher und genoss die wilden Jahre der Weimarer Republik: „Wir waren frei in Berlin. Wir konnten tun, was wir wollten.“ Sie begann Gedichte, Kurzgeschichten und Artikel zu schreiben, unter anderem für die lesbische Wochenzeitschrift „Frauenliebe“, aber auch Filmkritiken für die Berliner Zeitung.
Ihr Verhältnis zu den Eltern war gut und entspannt. Das Wort „lesbisch“ wurde nicht in den Mund genommen, aber Annette konnte ihre wechselnden Freundinnen jederzeit mit nach Hause bringen. „Was meine Eltern gedacht haben? Meine Mutter wusste es die ganze Zeit. Mein Vater war naiv: Ihm ist nichts aufgefallen.“ Erst später, als seine Tochter mit ihrer amerikanischen Freundin Francis in eine Wohnung in der Spichernstraße zog, dämmerte es Louis Eick. „Und dann war er sehr unglücklich. Eine Weile ging ich dann gar nicht mehr nach Hause.“
Annettes Beziehung scheiterte auf schmerzhafteste Weise, weil Francis an einer paranoiden Schizophrenie erkrankte. Annette zog dann wieder zu den Eltern, die sie liebevoll aufnahmen und trösteten.
Bei der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erkannten die Eicks, wie so viele Jüdinnen und Juden, den Ernst der Lage nicht. „Die Zeiten waren hart“, erzählte Annette. „Leute fanden keine Arbeit. Die Inflation war schrecklich. Aber Hitler? Zuerst haben wir nur über ihn gelacht. So einer wie Hitler – und die Leute folgen ihm? Versprechen, Versprechen. Und die Leute haben ihm geglaubt.“
Die Lebensgrundlagen der Eicks wurden nach und nach zerstört. Das Möbelgeschäft in der Mommsenstraße wurde erst boykottiert, dann wurde es bei den „Kristallnacht“-Pogromen im November 1938 völlig zerstört.
Annette hatte zu diesem Zeitpunkt längst beschlossen, Deutschland zu verlassen. „Ich habe eine gute Intuition. Ich hatte gespürt, dass etwas Grauenhaftes passieren würde.“ Nach ihrer Trennung von Francis, mit der sie in die USA hatte emigrieren wollen, hatte sie sich zum Ziel gesetzt, nach Palästina auszuwandern. Zum Zeitpunkt der Novemberpogrome befand sie sich auf einem Gutshof in Havelberg, wo sie einen „Hachschara“-Kurs absolvierte: Ein landwirtschaftliches Training, ursprünglich von der zionistischen Jugendbewegung organisiert, das die Voraussetzung für eine Einreisegenehmigung nach Palästina war. Im November 1938 überfielen die Nazis auch die Hachschara-Farm in Havelberg, schlugen alles kurz und klein und verschleppten die jungen Jüdinnen und Juden in ein Polizeigefängnis. Annette gelang die Flucht – durch einen glücklichen Zufall und dank der Frau eines Polizisten, die mit Absicht eine Tür nicht abgeschlossen hatte. Sie fand zwischen Glasscherben und
herumfliegenden Bettfedern wie durch ein Wunder sogar ihren Pass. Mit dem Fahrrad machte sie sich auf den Weg nach Berlin. Irgendwann überholte sie der Postbote und gab ihr einen Brief: Darin befand sich ein Visum für Großbritannien. Eine Bekannte aus den Tagen der lesbischen Clubs von Berlin hatte es ihr besorgt. „Hätte ich den Brief verpasst“, sagte Annette Eick später, „ich wäre mit meinen Eltern in Auschwitz gelandet.“
Sie drängte Louis und Minna, ebenfalls das Land zu verlassen, aber sie wollten davon nichts hören: „Die Leute, die schon etwas älter waren, dachten immer: So schlimm wird es schon nicht werden. Da nahm ich also meine paar Sachen und fuhr ab, vom Bahnhof Zoo. Am schlimmsten war, dass ich meine Eltern vom Bahnsteig winken sah und genau wusste, ich sehe sie nie wieder.“
Annettes kleinen Bruder Horst konnte das Ehepaar Eick noch in Sicherheit bringen: Er gelangte in einem der Kindertransporte nach Dänemark und lebte später in Schweden. Seine Schwester schlug sich in England zunächst als Hausmädchen, Nanny und Krankenpflegerin durch.
Als erste der Familie Eick wurde Minnas verwitwete Mutter Martha Olga Seelig deportiert. Am 4. Oktober 1942 verschleppte man die alte Frau nach Theresienstadt, wo sie noch anderthalb Jahre die Schikanen und Strapazen ertragen musste. Am 23. April 1944 wurde sie im Alter von 77 Jahren ermordet.
Minna und Louis Eick hatten die Nazis in eine Untermietwohnung in der Grolmannstraße 27 eingewiesen. Von dort aus wurden sie am 26. Februar 1943 im 30. Osttransport vom Güterbahnhof Moabit aus nach Auschwitz deportiert und wahrscheinlich gleich nach der Ankunft vergast. Minna war 54 und Louis 66 Jahre alt. Ihre Tochter Annette wusste noch 1946 nicht, was aus ihren Eltern geworden war und stellte Suchanträge beim Roten Kreuz.
Annette Eick verbrachte den Rest ihres Lebens in Großbritannien. Nach einer gescheiterten Beziehung lernte sie ihre Lebenspartnerin Gertrud Klingel kennen, eine Deutsche, die bei der deutschen Reichsbank in England gearbeitet hatte. Obwohl Gertrud keine Jüdin war, wollten sie nach Israel emigrieren, aber stattdessen zogen sie nach Brixham/Devon und eröffneten dort eine Kindertagesstätte. Annette begann wieder zu schreiben, diesmal auf Englisch. Das meiste blieb unveröffentlicht, 1984 erschien ein Gedichtband, „Immortal Muse“, der wegen seiner lesbischen Inhalte aus der Stadtbücherei von Brixham verbannt wurde. Nach vierzig gemeinsamen Jahren starb Gertrud 1989. Annette Eick starb hundertjährig am 25. Februar 2010.
Recherche und Text: Christine Wunnicke
Die Zitate von Annette Eick sind aus dem Englischen übersetzt.
Quellen:
Yad Vashem
Myheritage
Arolsen Archives
Gedenkbuch des Bundes
Adressbücher Berlin
Dokumentarfilm “Paragraf 175”, USA 1999
Claudia Schoppmann, “Days of Masquerade. Life Stories of Lesbians during the Third Reich”, New York 1996