Stolpersteine Niebuhrstr. 66

Hauseingang Niebuhrstr. 66, 20.4.13

Hauseingang Niebuhrstr. 66, 20.4.13

Die Stolpersteine für Gerhard, Paula, Joachim und Helene Lina Wolff, Salomon Cohen, Lina Potolowsky, Selma Schlesinger wurden am 27.10.2009 verlegt.

Die Stolpersteine für Martha und Salomon Grohnem wurden am 07.04.2010 verlegt.

Stolperstein für Gerhard Wolff

Stolperstein für Gerhard Wolff

HIER WOHNTE
GERHARD WOLFF
JG. 1912
DEPORTIERT 27.11.1941
RIGA
ERMORDET 30.11.1941

- siehe Joachim Wolff –

Stolperstein für Paula Wolff

Stolperstein für Paula Wolff

HIER WOHNTE
PAULA WOLFF
GEB. TREITEL
JG. 1912
DEPORTIERT 27.11.1941
RIGA
ERMORDET 30.11.1941

- siehe Joachim Wolff –

Stolperstein für Joachim Wolff

Stolperstein für Joachim Wolff

HIER WOHNTE
JOACHIM WOLFF
JG. 1937
DEPORTIERT 27.11.1941
RIGA
ERMORDET 30.11.1941

Gerhard Wolff war das jüngste Kind von Richard Wolff und Helene Wolff geb. Meyerhardt. Er kam am 13. August 1912 in Stallupönen/Ostpreußen zur Welt. Seine älteren Geschwister Leo, Charlotte, Martin und Alfred waren 1900, 1903, 1905 und 1910 geboren worden. Stallupönen war damals eine Kreisstadt von 5500 Tausend Einwohnern am Ostrand von Ostpreußen. Kurz nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges wurde sie bei einem Gefecht mit Russland stark zerstört und ab 1915 wieder aufgebaut. Heute heißt die Stadt Nesterow und liegt am Ostrand der russischen Exklave Kaliningrad.

Gerhards Familie zog um 1920 nach Berlin, der Vater war Getreidegroßhändler und an der Börse als Getreidemakler zugelassen. Er war vermögend und konnte seinen Kindern ein Leben in Wohlstand ermöglichen. In Berlin ging Gerhard bis zur Mittleren Reife auf die Oberrealschule. Danach arbeitete er als Vertreter für Papierwaren bei verschiedenen Firmen. Etwa 1932 machte er sich selbstständig, indem er ein Unternehmen für Papier- und Tütengroßhandel gründete. Geschäfts- und Lagerräume waren im Keller des Hauses Niebuhrstraße 66, das seinem Vater gehörte. Wahrscheinlich wohnte er bei seinen Eltern, zunächst noch am Karolingerplatz 3, dann in der Niebuhrstraße. Der Mann von Gerhards Schwester Charlotte, Kurt Blaschkauer, betrieb ebenfalls eine Papiergroßhandlung in der Niebuhrstraße 66 und wohnte auch dort.

Als Gerhard am 10. April 1936 Paula Treitel heiratete, wohnte er zur Untermiete in der Kantstraße 33. Paula stammte aus Obersitzko/Kreis Samter (heute Obrzycko), sie war dort am 21. Februar 1912 geboren worden. Ihre Eltern waren der Bäckermeister Lippmann Treitel und seine Ehefrau Hedwig, geb. Deworesohn. Paulas Schwester Marga war ein Jahr älter als sie. Die Kleinstadt Obersitzko kam nach dem Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag zu Polen, und viele Deutsche verließen die Stadt, auch Lippmann Treitel. Er kaufte in Berlin das Haus Tilsiter Straße 34 (heute Richard-Sorge-Straße in Friedrichshain), in dem er bis zu seiner Deportation lebte.

Paula und Gerhard bezogen eine Wohnung in der Weimarer Straße 18. Am 25. April 1937 brachte Paula einen Sohn zur Welt, Joachim. Gerhards Papierhandlung blieb weiterhin in der Niebuhrstraße. Die Geschäfte liefen seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten allerdings nicht mehr so gut, da die nichtjüdischen Kunden wegblieben und die jüdischen nach und nach auswanderten. Auch Gerhards Geschwister waren nach Brasilien und Palästina emigriert. Gerhard musste um 1938 das Geschäft und auch die Wohnung aufgeben. Er zog mit Paula und Joachim zu seinen Eltern in die Niebuhrstraße. Wie sein Vater hoffte auch Gerhard darauf, dass der Bruder Leo sie von Palästina aus anfordern würde, um auch ausreisen zu können. Tatsächlich erhielt er einen Brief von Leo, mit dem er zum Palästinaamt ging. Dort hieß es aber, er müsse zur Sicherung eine Summe Geld hinterlegen, die er nicht besaß. Wahlweise solle er erst mal auf Hachschara gehen, d.h. eine Ausbildung in einer für die Besiedlung Palästinas nötigen Fähigkeit machen. Schließlich musste er ganz auf die Auswanderung verzichten, nach Kriegsausbruch wurde eine Ausreise sowieso fast unmöglich.

Als 1939 Gerhards Eltern die Wohnung in der Niebuhrstraße aufgeben mussten, fanden Gerhard, Paula und Joachim Unterschlupf bei Paulas Vater in der Tilsiter Straße 34. Dort lebten schon – außer Paulas Mutter Hedwig – Paulas Schwester Marga und zwei Schwestern Hedwigs, Liese und Bertha, wahrscheinlich alle in einer 2-Zimmer Wohnung. Möglicherweise mussten Wolffs auch dort unterkommen.

Etwa zwei Jahre konnten Gerhard, Paula und Joachim bei Lippmann Treitel bleiben. Sie wurden am 27. November 1941 mit dem ersten Sonderzug nach Riga deportiert. Eigentlich sollten die 1053 Insassen dieses Zuges – soweit arbeitsfähig – in das erst kürzlich eingerichtete Rigaer Ghetto gelangen. Doch der SS-Führer Friedrich Jeckeln entschied eigenmächtig, sie auf Ankunft am 30. November sofort und ohne Ausnahme in den nahen Wäldern von Rumbula erschießen zu lassen. Noch am gleichen Tag wurden dort auch mehrere Tausend lettische Juden ermordet. Der 30. November 1941 ging als „Rigaer Blutsonntag“ in die Geschichte ein.

Sowohl Gerhard wie Paula Wolff wurden nur 29 Jahre alt, ihr Sohn Joachim IV. Friedrich Jeckeln wurde am 3. Februar 1946 von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet.

Paulas Eltern Lippmann und Hedwig Treitel, sowie ihre Tante Liese Deworesohn wurden am 5. September 1942 ebenfalls nach Riga deportiert, Paulas Schwester Marga und ihre Tante Bertha Deworesohn am 1. März 1943 nach Auschwitz. Alle wurden ermordet. Für sie liegen Stolpersteine vor der Richard-Sorge-Straße 34 (ehemals Tilsiter Straße). Gerhards Mutter Helene Wolff wurde zwei Monate nach ihm, am 25. Januar 1942, auch nach Riga deportiert und kam dort bald ums Leben. Gerhards Vater war vorher, am 3. Juli 1941, in Berlin gestorben.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; Stolpersteine Familie Treitel: https://www.stolpersteine-berlin.de/de/richard-sorge-str/34/lippmann-treitel

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Helene Wolff

Stolperstein für Helene Wolff

HIER WOHNTE
HELENE WOLFF
GEB. MEYERHARDT
JG. 1875
DEPORTIERT 25.1.1942
RIGA
ERMORDET 5.2.1942

Helene Lina Meyerhardt wurde am 30. November 1875 in Krojanke/Westpreußen (heute Krajenka) als Tochter von Michaelis Meyerhardt und Mathilde, geb. Goldstein, geboren. Sie hatte mindestens zwei Geschwister, Julie und Jakob. Über ihre Kindheit und Jugend haben wir keine weiteren Daten. Sie heiratete am 2. August 1898 in Krojanke den Kaufmann Richard Wolff aus Stallupönen/Ostpreußen (heute Nesterow in der russischen Exklave Kaliningrad), und zog dorthin. In Stallupönen kamen ihre fünf Kinder zur Welt: Leo 1899, Charlotte 1903, Martin 1905, Alfred 1910 und Gerhard 1912.

Helenes Mann Richard Wolff war am 6. August 1871 in Stallupönen geboren worden, machte dort Abitur und trat dann in die Getreidegroßhandlung seines Vaters Eduard Asher Wolff ein, die er ab 1906 zusammen mit seinem Bruder Sally führte. Möglicherweise war er mit Helene, meist Lina gerufen, verwandt, da seine Mutter Caroline auch eine geborene Goldstein war. Nach dem Ersten Weltkrieg zog Richard mit Lina und seiner Familie nach Berlin. 1922 überführte er die Getreidefirma nach Charlottenburg, nannte sie nun „Richard Wolff Landesproduktengroßhandlung“ mit Büro in seiner Wohnung in Charlottenburg, Karolingerplatz 3. 1925 wurde Richard an der Börse als Getreidemakler zugelassen. Über seine Kontakte in Ostpreußen wurde ihm waggonweise Getreide zum Weiterverkauf angeboten. Die Geschäfte liefen offensichtlich gut, schon 1922 hatte er das bebaute Grundstück am Sachsendamm 51 gekauft, drei Jahre später das Haus Niebuhrstraße 66. Dort bezog die Familie – wahrscheinlich Anfang der 30er-Jahre – eine komfortable 5-Zimmer Wohnung. Die Kinder wurden nach und nach selbstständig. Leo, der vermutlich nicht nach Berlin mitgekommen war, wurde Städtischer Arzt in Tilsit. Charlotte war Krankenschwester, sie heiratete 1932 den Papiergroßhändler Kurt Blaschkauer. Martin betrieb ein Zigarrengeschäft, Alfred eine Eisdiele und Gerhard hatte wie sein Schwager einen Papier- und Tütengroßhandel.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich Richards und Linas Leben, zunächst allmählich, dann rasant. Richard verlor die Börsenzulassung, 1936 musste er seine Firma auflösen. Martin wanderte schon 1935 nach Brasilien aus. 1937 emigrierten auch Charlotte und Kurt Blaschkauer nach Brasilien. Arthur und Leo konnten in Palästina einwandern. Martin drängte die Eltern auch nach Brasilien zu kommen, aber Richard fühlte sich durch den Besitz der Häuser abgesichert, „mir tut keiner was“ beschied er seinem Sohn. Dann versuchte er doch, einen Teil seines Vermögens ins Ausland zu verbringen, was misslang und ihm 1937 und 1938 Verhaftungen einbrachte und eine Strafzahlung von 40 000 RM. Er musste dafür eine Hypothek auf ein Grundstück in Stallupönen aufnehmen, das er noch hatte. Nach den Pogromen vom November 1938 sah er sich auch genötigt, die Häuser in der Niebuhrstraße und am Sachsendamm zu verkaufen. Von dem Erlös wurden noch etliche diskriminierende Abgaben abgezogen, aber auch über den Überschuss konnte er nicht verfügen, das Geld kam auf ein Sperrkonto. Nun änderte Richard seine Meinung – „Ein böses Erwachen zeigte mir meinen Irrtum“ schrieb er an Martin – und wollte mit Lina auch nach Brasilien. Am 3. März 1939 – das Haus in der Niebuhrstraße war gerade verkauft – schrieb er „Heute wurden bei uns die Sachen in Kisten gepackt, die vorläufig beim Spediteur bis zur Ausreise auf Lager bleiben … noch einige Gegenstände nehmen wir in die gemieteten möbl. Räume am 30. mit.“ Doch es scheint mit dem Umzug nicht gleich zu klappen, da sie am 17. Mai, zum Zeitpunkt der Volkszählung, noch in der Niebuhrstraße gemeldet waren. Ende April schreibt Richard „Wir möchten schon gern fort und ist dafür nicht bald Aussicht vorhanden, dann nehmen wir uns 2 möbl. Zimmer, da wir hier nicht weiter wohnen wollen“. Der Plan mit Brasilien scheint nicht mehr aktuell, jetzt hofft Richard auf eine Anforderung durch Leo aus Palästina. Allerdings „ob Leos Anforderung für uns oder Gerhard gelingt, ist zweifelhaft“, und Lina im gleichen Brief „Wie glücklich wären wir, wenn wir erst aufs [sic] Schiff säßen, wir können Beide nicht mehr die Zeit abwarten. Es kommt so vieles dazwischen und nichts geht glatt.“

Richard und Lina mussten noch mehrmals umziehen. Einige Möbel aus der einst gediegenen Wohnung in der Niebuhrstraße konnte Richard noch verkaufen, das meiste – wohl auch die Kisten bei der Spedition – musste er „im Stich lassen“, wie seine Söhne später berichteten. Er sei durch die Verhaftungen und Strafgelder gesundheitlich so gebrochen gewesen, dass er sich nicht mehr um den Möbelverkauf kümmern konnte. In einem weiteren Brief vom Juli des Jahres kommt die Verzweiflung des alten Ehepaares zum Ausdruck: „Ich muss fort, da ich nach dem Verkauf und Übergabe der Häuser nicht mehr genügend zum Leben habe … Das Geld bekomme ich nicht und wenig davon bleibt nach allen Zahlungen überhaupt übrig, trotzdem ich mich an Wohnung und Essen ganz umstellen würde. Auch eine Wohnung würde ich nicht erhalten. In welcher Verfassung wir sind, könnt ihr euch vorstellen.“

Nachdem sie kurzfristig in der Rosenheimer Straße und am Innsbrucker Platz unterkamen, konnten sie schließlich zwei möblierte Zimmer zur Untermiete bei Samter in der Kufsteiner Straße 18 beziehen. Auch die Ausreise nach Palästina scheiterte, unter anderem wohl, weil noch das Verfahren wegen Devisenvergehens anhängig war. Am 3. Juli 1941 starb Richard Wolff in der Bavaria Klinik, Münchener Straße 49, offiziell an Aderverkalkung. Das Verfahren wurde daraufhin eingestellt.

Noch ein halbes Jahr lebte Lina in der Kufsteiner Straße. Sie musste erleben, wie ihr Sohn Gerhard, ihre Schwiegertochter Paula und der kleine Joachim, ihr Enkel, die mittlerweile bei Paulas Vater in der Tilsiter Straße (heute Richard-Sorge-Straße) wohnten, Anfang November 1941 deportiert wurden. Dass sie bei Ankunft in Riga sofort erschossen wurden, hat Lina vermutlich nicht mehr erfahren. Denn einige Wochen später, am 25. Januar 1942, wurde sie selbst mit 1043 weiteren Personen vom Bahnhof Grunewald aus nach Riga deportiert. Die Menschen wurden in gedeckte Güterwagen gepfercht und waren auf der fünf Tage andauernden Fahrt der klirrenden Kälte ausgesetzt. Viele erfroren schon auf der Fahrt, andere waren bei Ankunft sehr geschwächt und wurden gleich erschossen. Helene Lina Wolff scheint ins Ghetto gelangt zu sein, überlebte aber nur wenige Tage oder Wochen. Eine 1950 nachträglich ausgestellte Sterbeurkunde datiert ihren Tod auf Ende Februar 1942, „Tag und Stunde unbekannt“. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs ist der 5. Februar 1942 als Todestag genannt. Sie wurde 66 Jahre alt. Eine Großnichte, Mathilde Hain aus Baltimore, hat in der Gedenkstätte Yad Vashem ein Gedenkblatt für Lina Wolff hinterlegt.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer;

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Salomon Cohen

Stolperstein für Salomon Cohen

HIER WOHNTE
SALOMON COHEN
JG. 1866
VOR DEPORTATION
FLUCHT IN DEN TOD
23.9.1942

Salomon Cohen wurde am 26. Januar 1866 in Zutphen, Provinz Gelderland, in den Niederlanden geboren als Sohn des Kaufmanns Zele Cohen (auch Cohn) und seiner Ehefrau Doris Levi (auch Levie). Salomon hatte drei ältere Schwestern, Jultje (in späteren deutschen Dokumenten Julchen), Mietje und Jetje (Henriette oder Jettchen), und eine jüngere Schwester, Johanna. Der Bruder Simon war 1864 wenige Wochen nach der Geburt gestorben. Als Johanna 1869 geboren wurde, war die Familie bereits nach Emmerich in Deutschland gezogen. Dort starb die Mutter 1873, Salomon war erst sieben Jahre alt. Zele (in deutschen Dokumenten Selig genannt) heiratete noch im gleichen Jahr Caroline Sander, die gemeinsame Tochter Rosalie, Salomons Halbschwester, starb wenige Tage nach der Geburt. Selig lebte bis zu seinem Tod 1905 in Emmerich. In den Unterlagen aus Emmerich wird zwar die Familie erwähnt, nicht aber Salomon. Vielleicht wuchs das Kind bei anderen Verwandten auf.

Salomon (genannt Sally) wurde wie sein Vater Kaufmann, er spezialisierte sich auf Finanzgeschäfte. Er lebte zeitweise im von Emmerich nicht allzu entfernten Siegburg (Rhein-Sieg-Kreis). Im Februar 1895 wurde seine Tochter Doris in Berlin geboren, benannt nach Salomons Mutter. Sally und Doris‘ Mutter Wilhelmine (genannt Minna) Kersting heirateten im Dezember darauf in Rosbach (Rhein-Sieg-Kreis). Beide lebten damals in Schladern, wie Rosbach ein Ortsteil von Windeck. Minna war evangelisch, Tochter eines Bahnmeisters, sie war von Beruf Modistin und hatte vor der Heirat in Freiberg/Hessen gewohnt. Warum die Tochter in Berlin geboren wurde, muss ungeklärt bleiben. Auf der Heiratsurkunde ist vermerkt, dass die frisch Vermählten das Kind Doris Kersting „als von ihnen miteinander erzeugt anerkennten“. Auch ist nicht klar, warum sie erst nach der Geburt heirateten, vielleicht hatte sich Sallys Vater der Verbindung mit einer Christin widersetzt.

Wann die kleine Familie nach Berlin zog, kann nicht genau festgestellt werden. Da der Name Cohen häufig vorkommt, ist Sally im Adressbuch Berlin erst 1910 eindeutig zu identifizieren, er ist mit der Adresse Hubertusallee 21, Grunewald, eingetragen.

Sallys Finanzgeschäfte scheinen erfolgreich gewesen zu sein. Zeitweise war seine Finanzmaklerfirma im Handelsregister registriert. Die Familie zog mehrmals um und man darf annehmen, dass sich ihre Wohnsituation kontinuierlich verbesserte. Zweimal wechselte Sally mit Frau und Kind die Wohnung in Dahlem, Ende der 20er Jahre bewohnten sie eine 6-Zimmer-Wohnung im Charlottenburger Westend in einem gerade erst neu erbauten Haus in der Reichstraße 48.

Möglicherweise machte Sally die Weltwirtschaftskrise zu schaffen, denn noch vor 1933 führt ihn das Adressbuch nicht mehr in der Reichstraße. Mit der Machtübernahme Hitlers verschlechterten sich die Bedingungen für ihn weiter. 1933 bekam er laut seiner Tochter Berufsverbot, das sich vermutlich auf seine selbstständige Arbeit bezog. Denn noch konnte er zusammen mit einem anderen Bankier seinen Geschäften nachgehen. Seine Frau Minna starb im November 1933, zu der Zeit wohnte das Ehepaar in der Niebuhrstraße 10. Doris war Opernsängerin geworden, sie sang im Rundfunk und auf Provinzbühnen und war viel unterwegs, sie lebte vielleicht gar nicht mehr bei den Eltern bzw. beim Vater. Um 1936 musste Sally auch diese Wohnung aufgeben und kam in der gleichen Straße in der Nr. 66 zur Untermiete unter. Dort wurde er bei der Volkszählung vom 17. Mai 1939 erfasst. Schon seit 1938 hatte er keine Einkünfte mehr, sein Kompagnon war inzwischen emigriert. Um sich über Wasser zu halten, verkaufte Sally zu Schleuderpreisen große Teile seiner ehemals gediegenen Wohnungseinrichtung.

In der Niebuhrstraße 66 konnte Sally auch nicht lange bleiben, ihm wurden zwei Zimmer in der Grolmanstraße 36 bei den Schwestern Albertine und Ernestine Seidemann zugewiesen. Dort erhielt er im September 1942 die Nachricht, dass er am 3. Oktober nach Theresienstadt deportiert würde. Er solle sein Gepäck in der Pestalozzistraße abgeben und sich am nächsten Tag ab acht Uhr bereithalten, er werde abgeholt.

Salomon Cohen traf andere Vorkehrungen. Er packte Wertgegenstände und vor allem Sachen seiner Tochter und stellte die Koffer im Zimmer eines Mitbewohners unter, denn sein Zimmer würde am nächsten Tag versiegelt werden. Dies und allerlei praktische Hinweise schrieb er in einem Brief an seine Tochter, die zwar an der Grolmannstraße gemeldet war, aber ein Zimmer zur Untermiete an der Kantstraße bewohnte. Zuletzt heißt es in dem Brief: „Ich habe mich entschlossen, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, denn wenn ich die Abwanderung mitmache, dann gehe ich auch in den Tod.“ Und er schließt: „In heißem Schmerz, Dein Dich liebender Vater.“

Doris sollte ihren Vater nicht mehr wiedersehen. Auch die von ihm zur Seite gebrachten Koffer und Gegenstände bekam sie nicht. Laut ihrer Aussage seien alle Zimmer versiegelt worden und die Gestapo habe alles mitgenommen, darunter Bargeld und Schmuck im Wert von mindestens 5000 Reichsmark. Ihr wurde beschieden, „die Sachen gehören dem Staat, da der Vater Jude war“. Als Mitte November der Gerichtsvollzieher zur Schätzung kam, konnte er nur „Gegenstände wurden nicht vorgefunden“ auf dem entsprechenden Formular vermerken.

Doris Cohen-Kersting war als Tochter einer nichtjüdischen Mutter zunächst vor der Deportation geschützt, ihren Beruf konnte sie aber nicht mehr ausüben, sie bekam keine Engagements mehr. Ab 1938 arbeitete sie in der Gastwirtschaft eines Bekannten oder Freundes ihres Vaters, möglicherweise ein früherer Kunde. Doris überlebte in Berlin.

Sallys Schwestern Julchen, Jettchen und Johanna hatten in Emmerich in der Ölstraße 27 zunächst einen Altwarenhandel betrieben, später ein Kurzwarengeschäft. Spätestens 1941 mussten sie das Geschäft aufgeben. Am 25. Juli 1942 wurden sie von Düsseldorf aus nach Theresienstadt deportiert. Dort starben Jettchen und Johanna aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen im Lager, Julchen wurde am 26. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka weiterdeportiert und dort ermordet. Das Schicksal von Mietje konnte nicht geklärt werden, auch sie wird in den Unterlagen aus Emmerich nicht erwähnt.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Register Zutphen https://www.openarchieven.nl; Archiv Gemeinde Windeck; Stadtarchiv Emmerich; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; Mapping the Lives; Brocke, Pelzer, Schürmann, Juden in Emmerich, 1993

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Lina Potolowsky

Stolperstein für Lina Potolowsky

HIER WOHNTE
LINA POTOLOWSKY
GEB. FRANK
JG. 1866
DEPORTIERT 27.7.1942
ERMORDET DEZ. 1943 IN
AUSCHWITZ

Karoline Lina Frank (auch Franck) war die Tochter von Max Frank und seiner Ehefrau Esther, geb. Dreifus. Sie kam in Pirmasens zur Welt. Max Frank betrieb eine der sehr zahlreichen Schuhfabriken in Pirmasens, registriert unter dem Namen „Marx Frank“. Er selbst wurde zuweilen auch „Marx“ statt Max genannt. Zu Linas Geburtsdatum gibt es unterschiedliche Angaben. Sie selbst gab als Erwachsene an, am 16. Dezember 1867 geboren worden zu sein. Laut Geburtsschein jedoch war es 1868. Im Jahr 1867 hatte Max Frank die Geburt einer Tochter Johanna am 10. Juni zu Protokoll gegeben. (Auf der Deportationsliste von 1942 wiederum ist der 16. November 1866 angegeben, dieses Datum hatte man zum Zeitpunkt der Stolpersteinverlegung übernommen). Außer Johanna hatte Lina noch zwei ältere Schwestern, Anna und Emma, 1863 bzw. 1864 geboren. Nach Lina kamen noch Noah 1870 und Siegmund 1872 zur Welt. 1880 – Lina war 11 Jahre alt – starb die Mutter. Anna heiratete später Leopold Levy, Emma Arthur Itallie. Noah und Siegmund wurden Kaufleute, Siegmund ging später nach Berlin, Noah stieg in den väterlichen Betrieb ein.

Lina heiratete 1891 den einige Jahre jüngeren Kaufmann Julius Potolowsky, gebürtig aus Konin an der Warthe (heute in Polen gelegen). Die Hochzeit fand in England, vermutlich London, statt. Nach Angaben von Linas Nachkommen war Max Frank nicht einverstanden mit dieser Verbindung, das junge Paar sei deshalb zur Heirat ins Ausland gegangen. Lina und Julius zogen nach Bensheim. Laut Meldekarte von Max Frank zog auch Linas Schwester Johanna 1891 nach Bensheim. Weitere Daten zu Johanna waren nicht zu ermitteln. In Bensheim wurde am 19. Januar 1892 Linas Tochter Erna geboren. Als am 9. April des folgenden Jahres der Sohn Feodor auf die Welt kam, lebten Potolowskys in Weilburg an der Lahn. Auch Linas Tochter Louise (Elise) wurde am 11. März 1895 in Weilburg geboren. Doch sie starb drei Monate später am 21. Juni in Berlin, wohin die Familie inzwischen gezogen war. Hier wohnten sie zunächst Unter den Linden 58, ein Haus neben Julius‘ Vater Leopold Potolowsky. Dieser betrieb an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden, in der Kaiserpassage, das damals bekannte Handschuhgeschäft F. Potolowsky (Spezialität: Hundeleder), das Filialen in Magdeburg, Halle und Stettin unterhielt.

Laut Adressbuch hatte zunächst auch Julius ein Geschäft in der Kaiserpassage, Laden Nr. 12. Ein Jahr später ist er mit einer „Fabrik für Beleuchtungsgegenstände“ in der Mauerstraße 23 eingetragen, Wohnadresse war nun die Mittelstraße 39, 3. Stock. Hergestellt wurden Gasglühlichter. Nach einem weiteren Jahr, 1898, ist die Fabrik in der Mohrenstraße 8, im gleichen Haus befindet sich die Firma Pardes & Potolowsky, Verlag für Fach-Adressbücher, an der Julius beteiligt ist. Außerdem betreibt er mit Gustav Potolowsky – vermutlich einem Bruder – einen Schuhgroßhandel, sehr wahrscheinlich mit Produkten aus Pirmasens. Die unterschiedlichen Geschäfte scheinen aber nicht so erfolgreich gewesen zu sein, denn bald darauf wird Julius nur als „Vertreter verschiedener Häuser“ bezeichnet und schließlich allgemein als Kaufmann. Auch die Wohnadresse wechselte sehr häufig, was sicherlich für Lina recht anstrengend war. Als sie im Juli 1899 den Sohn Werner zur Welt brachte, wohnte die Familie kurzfristig an der Hasenheide. Erst 1904 konnten sie für längere Zeit eine Wohnung in der Blücherstraße 61, dritter Stock, beziehen, ein Haus in dem sie schon einige Jahre zuvor im Parterre gelebt hatten. Möglicherweise verbesserte sich die finanzielle Lage der Familie, nachdem Leopold Potolowsky verstarb und die Erbengemeinschaft über die Handschuhfabrik verfügte.

1908 gründete Julius eine neue Firma mit Lina als Gesellschafterin: Potolowsky & Comp., Agentur und Kommissionen. Lina hatte auch einen eigenen Eintrag als Kauffrau im Adressbuch – allerdings nur für 2 Jahre, dann ist auch die Potolowsky & Comp aus dem Adressbuch verschwunden.

Obwohl Julius Potolowsky nicht immer wirtschaftlich erfolgreich war, konnten alle drei Kinder weiterführende Schulen besuchen. Die Tochter Erna wurde Buchhalterin, sie heiratete 1911 ihren Nachhilfelehrer, den (nicht-jüdischen) Medizinstudenten Hermann Gysi, und brachte 1912 den Sohn Klaus zur Welt. Feodor Potolowsky wurde Bankkaufmann und heiratete 1916 die gleichaltrige Irma Simon aus Berlin, die die vierjährige Tochter Lieselotte mit in die Ehe brachte. 1921 wurde ihre gemeinsame Tochter Ellen-Juliane geboren. Auch Linas Tochter Erna wurde 1917 zum zweiten Mal Mutter eines Sohnes, Gert.

Nach dem Ersten Weltkrieg waren Julius und Lina noch einmal umgezogen, vermutlich, weil inzwischen alle drei Kinder geheiratet hatten und aus dem Haus waren. Die neue Adresse war die Katzbachstraße 16. Julius widmete sich nun dem Holzschraubenhandel en gros – aber nicht für lange Zeit. Im September 1921 wurde er im mondänen Kurort Bad Nauheim im Park tot aufgefunden, eine genaue Todesursache ist in der Sterbeurkunde nicht vermerkt.

Bis 1933 lebte Lina noch in der Katzbachstraße 16, zuletzt wieder mit ihrem jüngsten Sohn Werner, der nach der Scheidung von seiner ersten Frau wieder zu seiner Mutter zog. Werner hatte aus dieser Beziehung einen Sohn, Frank. Unklar bleibt, wo Lina danach wohnte. Wahrscheinlich zog sie gleich in die Niebuhrstraße 66 zu Meta Simon, die verwitwete Mutter ihrer Schwiegertochter Irma. Dort wurde sie 1939 bei der Volkszählung vom 17. Mai in der für Juden separaten Ergänzungskartei registriert.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte für die gesamte Familie eine schwere Zeit begonnen. Lina wurde zur Staatenlosen und bekam einen Fremdenpass, vermutlich, weil ihr verstorbener Ehemann aus Konin in Polen stammte. Bereits 1933 emigrierte ihr Sohn Werner nach Paris. Der Sohn Feodor verlor 1934 seine Anstellung, als das Bankhaus Fromberg „arisiert“ wurde, er arbeitete später für die Reichsvereinigung der Juden. Die Tochter Erna, seit 1929 geschieden, floh 1938 ebenfalls nach Paris, nachdem die Gestapo sie wegen angeblicher Devisenvergehen ihres neuen Lebensgefährten massiv unter Druck gesetzt hatte. Und Feodors Tochter Ellen-Juliane, Linas Enkelin, verließ mit 16 Jahren Deutschland und gelangte über Frankreich zu Verwandten in die USA.

Lina Potolowsky war, ebenso wie ihr Sohn Feodor und ihre Schwiegertochter, in Berlin geblieben. Nachdem 1940 Meta Simon gestorben war, konnte sie in der Niebuhrstraße nicht weiter wohnen. Unter den vielen Diskriminierungen und Schikanen, die Juden seit der Machtübernahme der Nazis und verstärkt seit den Pogromen vom November 1938 erdulden mussten, gehörte die Zwangseinweisung bei wildfremden Leuten. Im Rahmen von Albert Speers megalomaner „Neugestaltung“ der Hauptstadt „Germania“ war schon 1938 beschlossen worden, durch „zwangsweise Ausmietung“ und Zusammenlegen der Juden in „Judenwohnungen“ Wohnraum für Nichtjuden frei zu machen. Speers Plan sah nämlich vor, für die Neugestaltung zahlreiche Häuser abzureißen, und davon betroffenen „Ariern“ ehemals jüdisch bewohnte Wohnungen als Ersatz zu bieten. Oft mussten Juden noch mehrmals umziehen. Lina fand nach der Niebuhrstraße Unterschlupf bei den Schwestern Gertrud und Klara Silbermann in der Hortensienstraße 9 in der Nähe des Botanischen Gartens. Der Kontakt war über eine Schwester ihrer Schwiegertochter Irma zustande gekommen, die bei einer Verwandten der Silbermann Schwestern untergetaucht war. Die Schwestern wurden jedoch im Januar 1942 nach Riga deportiert und Lina bekam nun ein möbliertes Zimmer bei Max Jordan in der Fasanenstraße 49 zugewiesen. Dort erhielt sie im Juli desselben Jahres die Nachricht, dass sie zur „Evakuierung“ – ein Euphemismus der Nazis für die Deportation – in das sogenannte „Altersghetto“ Theresienstadt vorgesehen sei. Dafür sollte sie die obligatorische 16-seitige „Vermögenserklärung“ ausfüllen, ein Formular, das der Finanzdirektion die Ausraubung der Juden erleichtern sollte. Lina Potolowsky hatte jedoch nicht mehr viel anzugeben: „Kein Konto, kein Guthaben, keine Wertpapiere“ trug sie ein. „Keine Möbel, keine Wertgegenstände.“ Die Frage nach dem Gesamtvermögen beantwortete sie mit „RM 22.-“. Die spätere Schätzung zur Beschlagnahmung eventueller Gegenstände in der Fasanenstraße wurde von Obergerichtsvollzieher Lesnik lakonisch mit „Keine Sachen vorgefunden!“ quittiert.

Lina musste sich in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 begeben, ein von der Gestapo umfunktioniertes jüdisches Altersheim, und wurde am 27. Juli 1942 mit dem „30. Alterstransport“ nach Theresienstadt deportiert. Eineinhalb Jahre lang überstand sie dort Hunger, Seuchen und andere Entbehrungen. Sie wurde von dort am 18. Dezember 1943, kurz nach ihrem 75. Geburtstag, ins Vernichtungslager Auschwitz weiterdeportiert. Dort wurden die 2004 Insassen dieses „Transports“ ohne die übliche Selektion in das sog. „Theresienstädter Familienlager“ eingewiesen. Für sie war aus nicht ganz geklärten Gründen vorgesehen, dass sie erst nach 6 Monaten „sonderbehandelt“, d.h., ermordet werden sollten. Falls Lina Potolowsky die Fahrt in dem überfüllten Zug und die menschenunwürdigen Lebensumstände im „Familienlager“ überlebte, wurde sie spätestens im Juni 1944 in eine der Gaskammern geschickt.

Linas Sohn Feodor und die Schwiegertochter Irma waren zum Zeitpunkt von Linas Verschleppung nach Auschwitz schon tot, auch sie starben in den dortigen Gaskammern. Sie waren am 17. Mai 1943 dorthin deportiert worden. Für sie liegen Stolpersteine vor der Taunusstraße 11 in Schöneberg. Linas Bruder Siegmund Frank entzog sich am 16. Mai 1942 der Deportation durch den Freitod. Seine Frau Ernestine Frank geborene Zyskind wurde am 26. Februar 1943 ebenfalls nach Auschwitz verschleppt. Linas Bruder Noah ist in keinem Gedenkbuch genannt, man kann hoffen, dass er den Nazischergen entkommen konnte.

Linas Sohn Werner und ihre Tochter Erna Gysi überlebten den Krieg in verschiedenen Verstecken in Südfrankreich. Nach dem Krieg lebte Werner in Frankfurt am Main, wo er 1965 starb. Sein Sohn, Linas jüngster Enkel, konnte mit seiner Mutter 1938 nach Australien emigrieren. Erna blieb in Frankreich und starb 1966 in Paris, wurde aber in Berlin Dahlem auf dem Waldfriedhof neben ihrem schon 1934 an Leukämie verstorbenen jüngeren Sohn Gert beerdigt. Lieselotte, Feodors Stieftochter, war in Berlin untergetaucht und hielt sich bis Kriegsende versteckt. Sie starb 1975. Die in die USA emigrierte Enkelin von Lina, Ellen-Juliane, lebt bis zu ihrem Tod 1984 in Los Angeles. Ernas 1912 geborener Sohn, Klaus Gysi, machte in der DDR Karriere, er wurde 1966 Kulturminister und später Beauftragter des Ministerrates der DDR für Kirchenfragen. Sein Sohn und Urenkel Linas ist wiederum der 1948 geborene Gregor Gysi, langjähriger Partei- und Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbuch Pirmasens 1899; Stadtarchiv Pirmasens; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Stolpersteine Feodor und Irma Potolowsky: https://www.stolpersteine-berlin.de/de/taunusstr/11/feodor-potolowsky

Recherchen/Text: Micaela Haas (Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf) und Matthias Bollmann

Stolperstein für Selma Schlesinger

Stolperstein für Selma Schlesinger

HIER WOHNTE
SELMA SCHLESINGER
JG. 1883
DEPORTIERT 13.6.1942
SOBIBOR
ERMORDET

Am 10. Februar 1883 kam Selma Schlesinger in Eintrachthütte/Schlesien (poln. Zgoda) zur Welt. Der Vater war der Kaufmann Salo Schlesinger, die Mutter Bertha, geb. Perl. 1888 wurde Selmas Schwester Minna geboren, da lebte die Familie bereits im nahen Gleiwitz. Ob es weitere Geschwister gab, konnte nicht ermittelt werden. 1905 betreibt Salo laut Adressbuch einen Kolonialwarenhandel und ist Besitzer des Hauses Mathiasstraße 12, mit nicht weniger als 28 Mietern. Beide Töchter bekommen eine Berufsausbildung, Minna wird Schneiderin, Selma Buchhalterin und Beamtin bei der Dresdner Bank in Gleiwitz. 1906, Selma ist 22 Jahre alt, stirbt die Mutter. Ihr Grabstein ist auf dem Gleiwitzer 1902/3 angelegten neuen jüdischen Friedhof im heutigen Stadtteil Zatorze erhalten.

1924 ist auch Selma im Adressbuch als Bankbeamtin vermerkt, weiterhin wohnhaft in der Mathiasstraße 12. Auch Salo wohnt noch dort, inzwischen Privatier, Besitzer des Hauses ist er nicht mehr. 1931 ist er in der Ebertstraße 12 aufgeführt, in diesem Jahr stirbt er am 15. März. Sein Grabmal ist ebenfalls noch vorhanden. Selma und Minna, beide ledig geblieben, lebten sehr wahrscheinlich auch in der Ebertstraße, denn 1936 führt das Adressbuch beide in der Markgrafenstraße 12 – wie die Ebertstraße bezeichnenderweise nach dem Machtwechsel umbenannt wurde. Selma ist inzwischen Bankbuchhalterin i. R., sie wurde als Jüdin wegen „Nichtüberführung in die Arbeitsfront“ unter dem nationalsozialistischen Regime in den Ruhestand versetzt.

Noch zwei Jahre bleibt sie in Gleiwitz, im März 1938 siedelt die 55-Jährige über nach Berlin. Vielleicht dachte sie, in der Großstadt unauffälliger leben zu können und weniger von den inzwischen immer massiveren Diskriminierungen von Juden betroffen zu sein. Unterkunft zur Untermiete fand sie in der Niebuhrstraße 66, hier wurde sie bei der Volkszählung vom 17. Mai 1939 registriert. Auch Minna ist nach Berlin gezogen, im Mai 1939 wohnte sie in der Droysenstraße 18, bei Walter und Irma Meyer zur Untermiete.

Ein Jahr später, im April 1940, zieht Selma in die Friedenauer Wielandstraße 5, Parterre, als Untermieterin von Max Schächter. Sie bewohnt dort 3 ½ Zimmer und kann eigene Möbel mitbringen. Allerdings wohnt sie dort nicht allein. Vermutlich zieht Minna ebenfalls bald ein und ab August auch Selmas Nichte, Ruth Perl, Tochter ihres Cousins Selmar Perl, die ein Jahr zuvor noch in Beuthen lebte. Deren Schwester Ilse kam 1937 nach Berlin, wo im Januar 1938 ihr Sohn Klaus Perl geboren wurde. Ilse war nach dem frühen Tod ihrer Mutter von Selmas Vater Salo aufgezogen worden. Sie arbeitete nun als Krankenschwester im jüdischen Altersheim in der Iranischen Straße und war dort untergebracht, aber ihr Sohn war 1942 auch in Selmas Wohnung in der Wielandstraße 5 als „Pflegekind der jüdischen Gemeinde“ angemeldet. Am 28. März 1942 wurde Minna, die auf der Straße aufgegriffen worden war, nach Piaski deportiert. Im gleichen Deportationszug waren auch Leopold und Johanna Lewin, die zusammen mit ihrem Sohn Dagobert im Sammellager in der Levetzowstraße Minna kennenlernten. Dagobert wurde nicht mitverschleppt, sondern zur Zwangsarbeit in einer Waffenfabrik herangezogen. Auch er zog Mitte April bei Selma ein. So gibt es Selma im Mai 1942 in der Vermögenserklärung an, die nun auch sie vor der Deportation auszufüllen hat.

In der Vermögenserklärung bezeichnet sich Selma als „Bankbuchhalterin und Bevollmächtigte i.R.“. Von ihrer Schwester Minna, bereits „ausgewandert“, gibt sie „Berliner Transport“, ihre Transportnummer und das Ziel „Piasky“ an. Selma hatte sich offenbar gut informiert und war sich vermutlich im Klaren, was diese Art von „Auswanderung“ zu bedeuten hatte. Als ihren Besitz gibt sie u.a. etliche Stühle, zwei Kleiderschränke, drei Bettstellen an, der Haushalt umfasste ja drei Erwachsene und ein Kind. In Selmas Besitz sind auch noch ein Klavier, eine Nähmaschine, ein Staubsauger. Ihre Rente (die wahrscheinlich gekürzt worden war) beträgt 145 RM netto, sie hat noch einige Hundert RM auf einem Sparbuch und ein paar Wertpapiere, die, laut einer nachträglichen Notiz, ihr und ihrer Schwester gemeinsam gehören. Nachdem sie penibel die ersten 10 des 16-seitigen Formulars ausgefüllt hat, macht sie kaum noch Angaben, keine einzige bei der Rubrik „Damenbekleidung“. Unterschrieben ist das Dokument in Friedenau am 4. Mai 1942.

Erst mehrere Wochen darauf, am 2. Juni, hatte Selma sich zur Levetzowstraße 7/8 – die als Sammellager missbrauchte Synagoge – zu begeben, am 13. Juni wurde sie dann deportiert. Der Zug mit 748 Berliner Juden und ca. 280 Menschen aus dem Bezirk Potsdam, kam zwei Tage später direkt im Vernichtungslager Sobibor, Distrikt Lublin, an. Einige Männer wurden zur Zwangsarbeit „selektiert“, alle anderen, auch Selma Schlesinger, wurden erschossen oder vergast.

Selmas Wohnungseinrichtung, die sich nun die Oberfinanzdirektion angeeignet hatte, wurde erst Wochen später (am 22. Juli) inventarisiert, auf 652 RM geschätzt und einem Möbelhändler verkauft. Davor gab es noch einige Verwirrung, ausgelöst durch Dagobert Lewin. Dieser erschien am 19. Juni bei der Vermögensverwertungsstelle und gab an, dass drei Tage zuvor zwei Beamte in seiner Abwesenheit alles abgeholt hätten, auch einen Spirituskocher, 3 Koffer und Lebensmittel, die ihm gehörten. Er bat um Rückgabe. „Dem Erschienenen wurde erklärt, daß die Räumung der Wohnung nicht durch das Oberfinanzpräsidium durchgeführt worden ist. Ermittlungen werden angestellt.“ Auch die Gestapo wusste von nichts. Der Oberfinanzdirektor erstattete Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Diebstahls. Die Kriminalpolizei ermittelte daraufhin, dass die vermeintlichen „Diebe“ sehr wohl Beamte der Oberfinanzdirektion waren. Ende August zieht letztere dann die Anzeige zurück mit der Erklärung, es hätte sich um eine Räumung bezüglich Minna Schlesinger gehandelt, sie hätten nicht gewusst, dass diese mit Selma Schlesinger zusammenhänge. Noch im Januar 1945 waren die Nazis damit beschäftigt, Selmas Wertpapiere und ihre Beamtenversicherung zu enteignen.

Ob Dagobert je seinen Spirituskocher und seine Koffer zurückbekam, darf bezweifelt werden, die Akten geben dazu keine Auskunft. Zunächst wurde am 26. September 1942 auch Ruth Perl deportiert, diesmal nach Raasiku (Estland) – und dort ermordet. Ende des Jahres heirateten Dagobert und Selmas Nichte Ilse und zogen mit dem kleinen Klaus in ein Zimmer in der Grabbestraße 27. 1943 drohte dann auch ihnen die Deportation und sie beschlossen mit dem 5-jährigen Kind in den Untergrund zu gehen. Sie fanden etliche Helfer, aber Ende 1944 wurden sie denunziert und festgenommen. Dagobert gelang die Flucht, die hochschwangere Ilse und Klaus wurden am 5. Januar 1945 nach Bergen-Belsen verschleppt. Sie konnten die Befreiung am 15. April erleben – kurz danach, noch im Lager, brachte Ilse ihren Sohn Gad zur Welt, der jedoch wenige Monate später verstarb. Ilse emigrierte später nach England, trennte sich von Dagobert und heiratete erneut.

Dagobert lebte ab 1949 in den USA. Für seine Eltern und auch für ihn liegen Stolpersteine vor der Köpenicker Straße 70, für Ruth Perl vor der Wielandstraße 5 in Friedenau.

Dagobert, der sich in den USA in Bert Lewyn umbenannte, hat mit seiner Schwiegertochter Bev Lewyn seine Erlebnisse in der Illegalität in „On the Run in Nazi Berlin“ 2001 veröffentlicht, deutsch: „Versteckt in Berlin – Eine Geschichte von Flucht und Verfolgung 1942-1945“. Er starb 2016 in Atlanta.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbuch Gleiwitz; https://sztetl.org.pl/de/node/135142; https://sztetl.org.pl/en/node/135260; Berliner Adressbücher; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; Mapping the Lives; zu Ilse Murray: https://portal.ehri-project.eu/units/gb-003348-wl2171; zu Dagobert Lewin: Bert Lewyn, Bev Saltzman-Lewyn, On the Run in Nazi Berlin, 2001, deutsch: Versteckt in Berlin – Eine Geschichte von Flucht und Verfolgung 1942-1945, 2009

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Martha Grohnem

Stolperstein für Martha Grohnem

HIER WOHNTE
MARTHA GROHNEM
GEB. DEUTSCHMANN
JG. 1898
DEPORTIERT 19.10.1942
RIGA
ERMORDET 22.10.1942

Martha Deutschmann wurde am 9. März 1898 in Pakosch (poln. Pakosc)/Posen als Tochter von Josef Deutschmann und seiner Frau Helene, geb. Jacobsohn, geboren. Sie hatte einen zwei Jahre älteren Bruder, Siegfried. Ob sie noch mehr Geschwister hatte, ist nicht genauer bekannt. Möglicherweise war Hildegard Liebermann geb. Deutschmann eine Schwester, da sie in den 30er- Jahren die gleiche Adresse wie Siegfried hatte. Hildegard wurde 1909 in Hohensalza geboren – 15 km von Pakosch entfernt. Im Adressbuch für Hohensalza für 1903 findet sich ein Josef Deutschmann, Glaser, in der Synagogenstraße 29. Wenn es sich um Marthas Vater handelt, so zog die Familie vor 1903 nach Hohensalza um, wo dann Marthas Schwester Hildegard zur Welt kam.

Wir wissen nicht, wann Martha nach Berlin kam, ob die ganze Familie in die Hauptstadt zog oder nur Martha. Als sie 1929 heiratete, hatte sie eine Ausbildung zur Schneiderin absolviert und bezeichnete sich als Modistin. Sie heiratete am 24. Oktober 1929 den Kaufmann Walter Grohnem, der zu diesem Zeitpunkt bei seinen Eltern in der Kaiser-Wilhelm-Straße 1 lebte. Martha wohnte zur Untermiete in der Leibnizstraße 70 und betrieb einen Modesalon in der Knesebeckstraße 91. Nach Aussage ihres Mannes beschäftigte sie dort zwei Helferinnen. Walter Grohnem war Vertreter bei der Firma Wilhelm Bursch, Betten- und Möbelstoffe. Mitte 1931 musste er allerdings die Firma verlassen, vermutlich eine Folge der Weltwirtschaftskrise, und fand aus dem gleichen Grund keine neue Anstellung. Das Paar, das bis dahin nahe des Modesalons in der Knesebeckstraße 94 wohnte, zog einige Häuser entfernt in die Nr. 80/81, und führte dort den Modesalon weiter. Marthas Ehemann, immer noch arbeitslos, half im Außendienst des Geschäftes und bei der Buchführung.

Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 begann die offizielle Judendiskriminierung. Schon im April des Jahres gab es die ersten Judenboykotte. Man kann vermuten, dass auch Marthas Modesalon Kundinnen verlor. Offenbar hatte sie aber eine Stammkundschaft, denn 1938 betrieb sie ihr Geschäft noch. Walter war allerdings schon 1935 vom Charlottenburger Garten- und Straßenbauamt zur Zwangsarbeit herangezogen worden, er musste beim Straßenbau und zu der Olympiade im Stadion arbeiten.

Ob Martha nach den Pogromen vom November 1938 noch in ihrem Beruf arbeiten konnte scheint unwahrscheinlich. Kurz nach diesem Auftakt zur verschärften Diskriminierung von Juden, im Dezember des Jahres, bemühte sich Walter um die Auswanderung. Als dies nicht gelang, oder sich zu lang hinzog, ging er illegal nach Holland, sicherlich wollte er auch die Flucht Marthas vorbereiten. Er wurde jedoch nach zwei Tagen aufgegriffen und an die deutsche Polizei ausgeliefert. Neun Polizeigefängnisse in verschiedenen Städten musste er passieren, bevor er am 25. Januar 1939 in das KZ Dachau eingeliefert wurde.

Martha musste die Wohnung in der Knesebeckstraße aufgeben und zog in die Niebuhrstraße 66, wo auch ihre Schwiegereltern Salomon und Hulda Grohnem wohnten. Walter wurde am 1. März 1939 aus Dachau entlassen, wohl mit der Auflage, Deutschland schnellstmöglich zu verlassen. Bei der Volkszählung am 17. Juni wurde er auch in der Niebuhrstraße erfasst. Möglicherweise hatte Walter schon in Dachau einen Antrag für sich und Martha bei der Reichsvereinigung der Deutschen Juden auf Aufnahme im kürzlich eröffneten Flüchtlingslager in der englischen Grafschaft Kent, das Kitchener Camp, gestellt.
Wahrscheinlich aufgrund der großen Anzahl der Anträge bekam nur Walter die Bewilligung. Am 13. Juli 1939 kam er in England an und am 14. im Kitchener Camp, wo er in der Folgezeit als Bauarbeiter und Gärtner tätig war.

Martha konnte nicht nachkommen. Sie konnte auch nicht lange in der Niebuhrstraße bleiben, noch im Jahr 1939 wurden die Grohnems genötigt, die Wohnung zu räumen. Martha konnte in der Saarbrücker Straße 26 unterkommen, wo ihr Bruder Siegfried und auch Hildegard Liebermann, geb. Deutschmann, gemeldet waren, Marthas Schwiegereltern kamen in das jüdische Altersheim in der Iranischen Straße 3.

Siegfried Deutschmann war Opfer der sog. „Juni-Aktion“ im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ gewesen. Hierbei sollten (angebliche) Arbeitsscheue verhaftet und zu Zwangsarbeiten in Konzentrationslagern gezwungen werden. Zunächst ging es um Menschen, die Arbeitsangebote der Arbeitsämter abgelehnt hatten oder um sog. „Asoziale“, wie etwa Bettler oder Landstreicher. Auf Hitlers Anweisung wurden im Juni 1938 auch vorbestrafte Juden einbezogen, wobei die Vorstrafen oft auf „Devisenvergehen“ oder auch geringe Verkehrsdelikte zurückgingen. 2300 jüdische Männer wurden im Mai/Juni festgenommen, 1256 davon in Buchenwald eingeliefert. Siegfried Deutschmann kam am 14. Juni 1938 in das KZ Buchenwald. Nach 6 Monaten, am 13. Dezember, wurde er entlassen. Im Mai 1939 lebte er in der Saarbrücker Straße, am 15. Juni 1939 emigrierte er nach Shanghai. Möglicherweise konnte Martha daraufhin seine Unterkunft übernehmen.

Zu einem uns nicht bekannten Zeitpunkt musste Martha dann abermals umziehen, zur Untermiete in die Treskowstraße 43 in Prenzlauer Berg. Von dort wurde sie im Oktober 1942 in das Sammellager Levetzowstraße verbracht, eine von der Gestapo missbrauchte Synagoge, um am 19. Oktober mit über 950 weiteren Menschen vom Güterbahnhof Moabit aus nach Riga deportiert zu werden. 81 Männer wurden in Riga zur Zwangsarbeit ausgesucht, alle anderen, auch Martha Grohnem, wurden in den umliegenden Wäldern an vorbereiteten Gruben ermordet.

Marthas Schwiegermutter Hulda Grohnem starb im jüdischen Krankenhaus Anfang Dezember 1940, ihr Schwiegervater Salomon Grohnem wurde am 23. Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er nach rund sechs Wochen infolge der unsäglichen Lebensbedingungen starb.
Hildegard Liebermann geb. Deutschmann, Marthas mutmaßliche Schwester, wurde am 1. März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Marthas Bruder Siegfried Deutschmann kehrte im November 1950 nach Deutschland zurück, um von dort die Emigration in die USA zu betreiben. Er lebte zunächst in Wildflecken und Föhrenwald, beides Lager für „Displaced Persons“. Dank der Vermittlung des American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC) konnte er am 21. August 1951 in Bremerhaven ein Schiff nach New York besteigen.

Walter Grohnem blieb nach dem Krieg in England und nannte sich in Walter Grant um. 1947, nachdem Martha offiziell für tot erklärt worden war, heiratete er erneut. Er starb 1960 in Liverpool.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbuch Hohensalza 1903; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; zum Kitchener Camp: https://kitchenercamp.co.uk/list-of-names/#G; zur Juni-Aktion: https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_%E2%80%9EArbeitsscheu_Reich%E2%80%9C

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Stolperstein für Salomon Grohnem

Stolperstein für Salomon Grohnem

HIER WOHNTE
SALOMON GROHNEM
JG. 1867
DEPORTIERT 23.6.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 1.8.1942

Salomon Grohnem wurde am 3. Dezember 1867 in Argenau (heute Gniewkowo)/Inowrazlaw (Hohensalza) in Posen geboren. Sein Vater Abraham Grohnem wird in Dokumenten als „Synagogen Kastellan“ bezeichnet. Die Mutter Rebecka war eine geborene Salomon.
Salomon, genannt Sally, hatte einen vier Jahre jüngeren Bruder, Hermann. Sally ging als junger Mann – ohne seine Eltern – nach Berlin und fand dort Anstellung als Handlungsgehilfe in einem Manufakturwarengeschäft. In Berlin heiratete er am 29. Juni 1894 die Verkäuferin Hulda Sachs. Hulda war gebürtig aus Lissa (Leszno), wo sie am 11. Juli 1863 als Tochter des Kaufmannes Victor Sachs und seiner Frau Caroline, geb. Babusch, zur Welt kam. Zum Zeitpunkt der Heirat lebte Hulda mit ihrer Mutter in der Brunnenstraße 30. Vermutlich war die verwitwete Caroline nach dem Tod ihres Mannes nach Berlin gezogen.

Sally Grohnem hatte laut Adressbücher erst nach der Heirat eine eigene Wohnung, zunächst in der Brunnenstraße 153, dann schräg gegenüber in der Nr. 43, wo er auch seine eigene Posamentwarenhandlung gründete. Posamente waren Zierbänder, Borten, Litzen, Spitzen und Ähnliches. Am 2. Juli 1895 brachte Hulda die Tochter Gertrud zur Welt, am 5. Januar 1897 den Sohn Walter. Im folgenden Jahr wurde das dritte Kind, Lucie, am 6. Oktober geboren.

Die Familie, die fortan in den Adressbüchern durchweg „Gronem“ geschrieben wird – obwohl alle zeitgenössischen Dokumente „Grohnem“ aufweisen – zog häufig um. Von der Brunnenstraße ging es in die Gormanstraße, von da an die Lichtenberger und dann an die Landsberger. 1906 ziehen sie in die Grenadierstraße 17, zu Kriegsbeginn wohnen sie in der Münzstraße 22. Sally schreibt sich inzwischen „Salli“, seine Handelsware wird mal als „Partie- und Resterwaren“ oder allgemeiner als „Manufakturwaren en gros“ bezeichnet. 1914 wird er Geschäftsführer bei der Firma „Moritz Dessauer, Baumwollwaren“ in der Spandauer Straße 8. Sein eigenes Geschäft verkleinert er, es wird nun von Hulda geführt. Während des Krieges übernimmt Salli Dessauers Firma und nimmt eine Wohnung um die Ecke in der Kaiser-Wilhelm-Straße 1 (heute Karl-Liebknecht-Straße), eine repräsentative Adresse. Das Geschäft scheint zu blühen, denn nach dem Krieg kauft Salli das ganze Haus Spandauer Straße 8, wohnt aber weiterhin in der Kaiser-Wilhelm-Straße.

Mit der Inflation kommt Sallis Geschäft allerdings in Schwierigkeiten, muss schließlich Konkurs anmelden. Die Firma an der Spandauer Straße wird aufgegeben, Salli und Hulda betreiben nun an verschiedenen Standorten kleinere Detailläden, registriert auf Huldas Namen. Um 1932 ziehen die Grohnems nach Hohenschönhausen, in die Große-Leege-Straße 93. Die Kinder sind mittlerweile verheiratet, Gertrud hat schon 1920 den Kaufmann Semy Leipziger geheiratet, Lucie 1924 einen Herrn Joelsohn, Walter 1929 die Modistin Martha Deutschmann.

Die Judenboykotte, die bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begannen, dürften Sallis kaufmännischen Tätigkeiten weiter zugesetzt haben. Ab 1934 ist er nicht mehr in den Adressbüchern aufgeführt. Laut seinem Sohn Walter ließen sich Salli und Hulda in der Leibnizstraße 63 nieder, offenbar zur Untermiete. Einige Jahre später sieht sich Salli auch gezwungen, das Haus in der Spandauer Straße 8 an einen Herr Mayer zu verkaufen – ob er einen fairen Preis erzielte, darf bezweifelt werden.

Zusätzlich zu all den Einschränkungen und Diskriminierungen, die sie als Juden zu erdulden hatten, mussten Salli und Hulda erleben, dass ihr Sohn Walter am 25. Januar 1939 in das KZ Dachau eingeliefert wurde. Er hatte Ende Dezember 1938, nach den Novemberpogromen versucht, illegal nach Holland zu flüchten, war aufgegriffen und der deutschen Polizei übergeben worden. Nachdem er in mehreren Städten im Polizeigefängnis saß, wurde er schließlich nach Dachau verbracht. Am 1. März wurde er wieder entlassen, wahrscheinlich – wie so viele Juden – mit der Auflage, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Inzwischen waren Sally (jetzt wieder mit „y“) und Hulda und auch Walters Frau Martha in eine Hinterhauswohnung in der Niebuhrstraße 66 gezogen, denn dort wurden sie am 17. Mai 1939 in der sog. „Ergänzungskartei“ für Juden bei der Volkszählung erfasst. Auch Walter wohnte zunächst dort, im Juli des gleichen Jahres emigrierte er nach England, notgedrungen ohne Martha.

Lange konnten die Grohnems nicht an der Niebuhrstraße verbleiben. Um Wohnraum für Nichtjuden frei zu machen, mussten sie ihre Wohnung räumen und wurden woanders eingewiesen. Martha konnte bei ihrem Bruder Siegfried in der Saarbrücker Straße 26 unterkommen, Salomon und Hulda kamen in das jüdische Altersheim in der Iranischen Straße 3. Dort, bzw. im Jüdischen Krankenhaus, Iranische Straße 2, starb Hulda am 5. Dezember 1940. Als offizielle Todesursachen wurden Zuckerharnruhr und Herzmuskelschwäche angegeben. Sie wurde vier Tage später im Jüdischen Friedhof Weißensee beigesetzt.

Im Juni 1942 hatte sich Salomon Grohnem in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 zu begeben, ein anderes, von der Gestapo als Lager missbrauchtes jüdisches Altersheim. Am 23. Juni musste er dann in aller Frühe am Anhalter Bahnhof auf Gleis 1 einen Waggon 3. Klasse besteigen, der später verplombt an den fahrplanmäßigen Zug nach Prag um 6.07 Uhr angehängt wurde. Mit 49 weiteren Leidensgenossen wurde Salomon Grohnem mit diesem Zug nach Theresienstadt deportiert. Dort erwarteten ihn Unterbringung in hoffnungslos überfüllten Räumen, äußerst mangelhafte Ernährung, Kälte und Krankheiten infolge schrecklicher hygienischer Zustände. Diese Lebensbedingungen überlebte er nur kurz. Am 1. August 1942 kam Salomon Grohnem in Theresienstadt ums Leben.

Sein Sohn Walter hat dies wohl nicht erfahren. Bei seiner Flucht kam er in England in das Durchgangslager Kitchener Camp, arbeitete dort als Gärtner und auf dem Bau. Nach dem Krieg blieb er in England und nannte sich in Walter Grant um.

Salomons Schwiegertochter Martha wurde am 19. Oktober 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet. Die Tochter Gertrud und ihr Mann Semy Leipziger wurden am 28. Mai 1943 nach Theresienstadt verschleppt, sie überlebten nicht. Ihr Sohn Werner konnte mit einem Kindertransport nach England in Sicherheit gebracht werden. Salomons Tochter Lucie, in zweiter Ehe mit Walter Zucker verheiratet, wurde mit ihrem Mann und dem 1926 geborenen Sohn aus erster Ehe, Edmund Joelsohn, am 17. Mai 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005;

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf