HIER WOHNTE
LINA POTOLOWSKY
GEB. FRANK
JG. 1866
DEPORTIERT 27.7.1942
ERMORDET DEZ. 1943 IN
AUSCHWITZ
Karoline Lina Frank (auch Franck) war die Tochter von Max Frank und seiner Ehefrau Esther, geb. Dreifus. Sie kam in Pirmasens zur Welt. Max Frank betrieb eine der sehr zahlreichen Schuhfabriken in Pirmasens, registriert unter dem Namen „Marx Frank“. Er selbst wurde zuweilen auch „Marx“ statt Max genannt. Zu Linas Geburtsdatum gibt es unterschiedliche Angaben. Sie selbst gab als Erwachsene an, am 16. Dezember 1867 geboren worden zu sein. Laut Geburtsschein jedoch war es 1868. Im Jahr 1867 hatte Max Frank die Geburt einer Tochter Johanna am 10. Juni zu Protokoll gegeben. (Auf der Deportationsliste von 1942 wiederum ist der 16. November 1866 angegeben, dieses Datum hatte man zum Zeitpunkt der Stolpersteinverlegung übernommen). Außer Johanna hatte Lina noch zwei ältere Schwestern, Anna und Emma, 1863 bzw. 1864 geboren. Nach Lina kamen noch Noah 1870 und Siegmund 1872 zur Welt. 1880 – Lina war 11 Jahre alt – starb die Mutter. Anna heiratete später
Leopold Levy, Emma Arthur Itallie. Noah und Siegmund wurden Kaufleute, Siegmund ging später nach Berlin, Noah stieg in den väterlichen Betrieb ein.
Lina heiratete 1891 den einige Jahre jüngeren Kaufmann Julius Potolowsky, gebürtig aus Konin an der Warthe (heute in Polen gelegen). Die Hochzeit fand in England, vermutlich London, statt. Nach Angaben von Linas Nachkommen war Max Frank nicht einverstanden mit dieser Verbindung, das junge Paar sei deshalb zur Heirat ins Ausland gegangen. Lina und Julius zogen nach Bensheim. Laut Meldekarte von Max Frank zog auch Linas Schwester Johanna 1891 nach Bensheim. Weitere Daten zu Johanna waren nicht zu ermitteln. In Bensheim wurde am 19. Januar 1892 Linas Tochter Erna geboren. Als am 9. April des folgenden Jahres der Sohn Feodor auf die Welt kam, lebten Potolowskys in Weilburg an der Lahn. Auch Linas Tochter Louise (Elise) wurde am 11. März 1895 in Weilburg geboren. Doch sie starb drei Monate später am 21. Juni in Berlin, wohin die Familie inzwischen gezogen war. Hier wohnten sie zunächst Unter den Linden 58, ein Haus neben Julius‘ Vater Leopold Potolowsky. Dieser betrieb an der
Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden, in der Kaiserpassage, das damals bekannte Handschuhgeschäft F. Potolowsky (Spezialität: Hundeleder), das Filialen in Magdeburg, Halle und Stettin unterhielt.
Laut Adressbuch hatte zunächst auch Julius ein Geschäft in der Kaiserpassage, Laden Nr. 12. Ein Jahr später ist er mit einer „Fabrik für Beleuchtungsgegenstände“ in der Mauerstraße 23 eingetragen, Wohnadresse war nun die Mittelstraße 39, 3. Stock. Hergestellt wurden Gasglühlichter. Nach einem weiteren Jahr, 1898, ist die Fabrik in der Mohrenstraße 8, im gleichen Haus befindet sich die Firma Pardes & Potolowsky, Verlag für Fach-Adressbücher, an der Julius beteiligt ist. Außerdem betreibt er mit Gustav Potolowsky – vermutlich einem Bruder – einen Schuhgroßhandel, sehr wahrscheinlich mit Produkten aus Pirmasens. Die unterschiedlichen Geschäfte scheinen aber nicht so erfolgreich gewesen zu sein, denn bald darauf wird Julius nur als „Vertreter verschiedener Häuser“ bezeichnet und schließlich allgemein als Kaufmann. Auch die Wohnadresse wechselte sehr häufig, was sicherlich für Lina recht anstrengend war. Als sie im Juli 1899 den Sohn Werner zur Welt
brachte, wohnte die Familie kurzfristig an der Hasenheide. Erst 1904 konnten sie für längere Zeit eine Wohnung in der Blücherstraße 61, dritter Stock, beziehen, ein Haus in dem sie schon einige Jahre zuvor im Parterre gelebt hatten. Möglicherweise verbesserte sich die finanzielle Lage der Familie, nachdem Leopold Potolowsky verstarb und die Erbengemeinschaft über die Handschuhfabrik verfügte.
1908 gründete Julius eine neue Firma mit Lina als Gesellschafterin: Potolowsky & Comp., Agentur und Kommissionen. Lina hatte auch einen eigenen Eintrag als Kauffrau im Adressbuch – allerdings nur für 2 Jahre, dann ist auch die Potolowsky & Comp aus dem Adressbuch verschwunden.
Obwohl Julius Potolowsky nicht immer wirtschaftlich erfolgreich war, konnten alle drei Kinder weiterführende Schulen besuchen. Die Tochter Erna wurde Buchhalterin, sie heiratete 1911 ihren Nachhilfelehrer, den (nicht-jüdischen) Medizinstudenten Hermann Gysi, und brachte 1912 den Sohn Klaus zur Welt. Feodor Potolowsky wurde Bankkaufmann und heiratete 1916 die gleichaltrige Irma Simon aus Berlin, die die vierjährige Tochter Lieselotte mit in die Ehe brachte. 1921 wurde ihre gemeinsame Tochter Ellen-Juliane geboren. Auch Linas Tochter Erna wurde 1917 zum zweiten Mal Mutter eines Sohnes, Gert.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren Julius und Lina noch einmal umgezogen, vermutlich, weil inzwischen alle drei Kinder geheiratet hatten und aus dem Haus waren. Die neue Adresse war die Katzbachstraße 16. Julius widmete sich nun dem Holzschraubenhandel en gros – aber nicht für lange Zeit. Im September 1921 wurde er im mondänen Kurort Bad Nauheim im Park tot aufgefunden, eine genaue Todesursache ist in der Sterbeurkunde nicht vermerkt.
Bis 1933 lebte Lina noch in der Katzbachstraße 16, zuletzt wieder mit ihrem jüngsten Sohn Werner, der nach der Scheidung von seiner ersten Frau wieder zu seiner Mutter zog. Werner hatte aus dieser Beziehung einen Sohn, Frank. Unklar bleibt, wo Lina danach wohnte. Wahrscheinlich zog sie gleich in die Niebuhrstraße 66 zu Meta Simon, die verwitwete Mutter ihrer Schwiegertochter Irma. Dort wurde sie 1939 bei der Volkszählung vom 17. Mai in der für Juden separaten Ergänzungskartei registriert.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte für die gesamte Familie eine schwere Zeit begonnen. Lina wurde zur Staatenlosen und bekam einen Fremdenpass, vermutlich, weil ihr verstorbener Ehemann aus Konin in Polen stammte. Bereits 1933 emigrierte ihr Sohn Werner nach Paris. Der Sohn Feodor verlor 1934 seine Anstellung, als das Bankhaus Fromberg „arisiert“ wurde, er arbeitete später für die Reichsvereinigung der Juden. Die Tochter Erna, seit 1929 geschieden, floh 1938 ebenfalls nach Paris, nachdem die Gestapo sie wegen angeblicher Devisenvergehen ihres neuen Lebensgefährten massiv unter Druck gesetzt hatte. Und Feodors Tochter Ellen-Juliane, Linas Enkelin, verließ mit 16 Jahren Deutschland und gelangte über Frankreich zu Verwandten in die USA.
Lina Potolowsky war, ebenso wie ihr Sohn Feodor und ihre Schwiegertochter, in Berlin geblieben. Nachdem 1940 Meta Simon gestorben war, konnte sie in der Niebuhrstraße nicht weiter wohnen. Unter den vielen Diskriminierungen und Schikanen, die Juden seit der Machtübernahme der Nazis und verstärkt seit den Pogromen vom November 1938 erdulden mussten, gehörte die Zwangseinweisung bei wildfremden Leuten. Im Rahmen von Albert Speers megalomaner „Neugestaltung“ der Hauptstadt „Germania“ war schon 1938 beschlossen worden, durch „zwangsweise Ausmietung“ und Zusammenlegen der Juden in „Judenwohnungen“ Wohnraum für Nichtjuden frei zu machen. Speers Plan sah nämlich vor, für die Neugestaltung zahlreiche Häuser abzureißen, und davon betroffenen „Ariern“ ehemals jüdisch bewohnte Wohnungen als Ersatz zu bieten. Oft mussten Juden noch mehrmals umziehen. Lina fand nach der Niebuhrstraße Unterschlupf bei den Schwestern Gertrud und Klara Silbermann in der
Hortensienstraße 9 in der Nähe des Botanischen Gartens. Der Kontakt war über eine Schwester ihrer Schwiegertochter Irma zustande gekommen, die bei einer Verwandten der Silbermann Schwestern untergetaucht war. Die Schwestern wurden jedoch im Januar 1942 nach Riga deportiert und Lina bekam nun ein möbliertes Zimmer bei Max Jordan in der Fasanenstraße 49 zugewiesen. Dort erhielt sie im Juli desselben Jahres die Nachricht, dass sie zur „Evakuierung“ – ein Euphemismus der Nazis für die Deportation – in das sogenannte „Altersghetto“ Theresienstadt vorgesehen sei. Dafür sollte sie die obligatorische 16-seitige „Vermögenserklärung“ ausfüllen, ein Formular, das der Finanzdirektion die Ausraubung der Juden erleichtern sollte. Lina Potolowsky hatte jedoch nicht mehr viel anzugeben: „Kein Konto, kein Guthaben, keine Wertpapiere“ trug sie ein. „Keine Möbel, keine Wertgegenstände.“ Die Frage nach dem Gesamtvermögen beantwortete sie mit „RM 22.-“.
Die spätere Schätzung zur Beschlagnahmung eventueller Gegenstände in der Fasanenstraße wurde von Obergerichtsvollzieher Lesnik lakonisch mit „Keine Sachen vorgefunden!“ quittiert.
Lina musste sich in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 begeben, ein von der Gestapo umfunktioniertes jüdisches Altersheim, und wurde am 27. Juli 1942 mit dem „30. Alterstransport“ nach Theresienstadt deportiert. Eineinhalb Jahre lang überstand sie dort Hunger, Seuchen und andere Entbehrungen. Sie wurde von dort am 18. Dezember 1943, kurz nach ihrem 75. Geburtstag, ins Vernichtungslager Auschwitz weiterdeportiert. Dort wurden die 2004 Insassen dieses „Transports“ ohne die übliche Selektion in das sog. „Theresienstädter Familienlager“ eingewiesen. Für sie war aus nicht ganz geklärten Gründen vorgesehen, dass sie erst nach 6 Monaten „sonderbehandelt“, d.h., ermordet werden sollten. Falls Lina Potolowsky die Fahrt in dem überfüllten Zug und die menschenunwürdigen Lebensumstände im „Familienlager“ überlebte, wurde sie spätestens im Juni 1944 in eine der Gaskammern geschickt.
Linas Sohn Feodor und die Schwiegertochter Irma waren zum Zeitpunkt von Linas Verschleppung nach Auschwitz schon tot, auch sie starben in den dortigen Gaskammern. Sie waren am 17. Mai 1943 dorthin deportiert worden. Für sie liegen Stolpersteine vor der Taunusstraße 11 in Schöneberg. Linas Bruder Siegmund Frank entzog sich am 16. Mai 1942 der Deportation durch den Freitod. Seine Frau Ernestine Frank geborene Zyskind wurde am 26. Februar 1943 ebenfalls nach Auschwitz verschleppt. Linas Bruder Noah ist in keinem Gedenkbuch genannt, man kann hoffen, dass er den Nazischergen entkommen konnte.
Linas Sohn Werner und ihre Tochter Erna Gysi überlebten den Krieg in verschiedenen Verstecken in Südfrankreich. Nach dem Krieg lebte Werner in Frankfurt am Main, wo er 1965 starb. Sein Sohn, Linas jüngster Enkel, konnte mit seiner Mutter 1938 nach Australien emigrieren. Erna blieb in Frankreich und starb 1966 in Paris, wurde aber in Berlin Dahlem auf dem Waldfriedhof neben ihrem schon 1934 an Leukämie verstorbenen jüngeren Sohn Gert beerdigt. Lieselotte, Feodors Stieftochter, war in Berlin untergetaucht und hielt sich bis Kriegsende versteckt. Sie starb 1975. Die in die USA emigrierte Enkelin von Lina, Ellen-Juliane, lebt bis zu ihrem Tod 1984 in Los Angeles. Ernas 1912 geborener Sohn, Klaus Gysi, machte in der DDR Karriere, er wurde 1966 Kulturminister und später Beauftragter des Ministerrates der DDR für Kirchenfragen. Sein Sohn und Urenkel Linas ist wiederum der 1948 geborene Gregor Gysi, langjähriger Partei- und Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke.
Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbuch Pirmasens 1899; Stadtarchiv Pirmasens; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Stolpersteine Feodor und Irma Potolowsky: https://www.stolpersteine-berlin.de/de/taunusstr/11/feodor-potolowsky
Recherchen/Text: Micaela Haas (Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf) und Matthias Bollmann