WALTER HURWITZ
JG. 1892
FLUCHT 1936 BELGIEN
DEPORTIERT 1940 FRANKREICH
INTERNIERT DRANCY
DEPORTIERT 10.8.1942
AUSCHWITZ
ERMORDET
Walter Hurwitz kam am 18. Dezember 1897 in Tegel, damals ein Vorort von Berlin im Kreis Niederbarnim, als jüngster von drei Söhnen des jüdischen Kaufmanns Hermann (Hirsch) Hurwitz (1855–1916) und seiner Ehefrau Rosalie (Rosa) geb. Löwenstein (1857–1939) auf die Welt.
Sein Vater stammte aus Grimmen, einer Kleinstadt in Pommern (heute Mecklenburg-Vorpommern), in der es nur sehr wenige Juden gab. Die Brüder von Walter Hurwitz waren dort geboren worden: Richard im Jahr 1888, Ludwig 1890.
Der Vater ließ 1898 in Tegel auf dem Grundstück Berliner Straße 13 ein Wohn- und Geschäftshaus bauen. Im Erdgeschoss befand sich sein „Warenhaus“ – dies war kein Warenhauspalast wie Wertheim in Berlin, aber es gab mehr zu kaufen und anzusehen als im üblichen Einzelhandel. Walter Hurwitz verbrachte hier seine ersten Lebensjahre. Das Geschäft des Vaters muss floriert haben, 1905 übergab er es einem anderen Kaufmann, behielt aber das Haus. Die Familie zog nach Berlin-Tiergarten, wo der Vater das Mietshaus Krefelder Straße 8 gekauft hatte.
Walter Hurwitz nahm am Ersten Weltkrieg teil, studierte Jura und wurde Rechtsanwalt. Er wohnte weiter im Haus Krefelder Straße 8, das seine Mutter nach dem Tod des Vaters 1916 geerbt hatte. 1927 heiratete er die 1900 in Chemnitz geborene Frieda Boas, eine von vier Töchtern einer orthodoxen jüdischen Familie. Sie lebte noch bei ihren Eltern, dem Kaufmann Bernhard Boas (1872–1932) und seiner Ehefrau Johanna (1873–1990), in Berlin-Mitte. Ihr Vater besaß einen Kunstverlag.
Das Ehepaar wohnte anfangs im Bezirk Schöneberg. Die Kanzlei befand sich im Haus Nr. 20 der Berliner Flaniermeile „Unter den Linden“. Walter Hurwitz war als Anwalt an den drei Berliner Landgerichten zugelassen. 1933 zogen er und seine Ehefrau zum Kurfürstendamm 201, an die andere Flaniermeile der Hauptstadt. In dem heute unter Denkmalschutz stehenden Haus waren ihre große Wohnung und auch die Kanzlei. Am 28. März 1934 kam der Sohn Heinz Dieter (Henri) auf die Welt, er blieb ihr einziges Kind.
Walter Hurwitz arbeitete bis April 1936 als Anwalt. 1937 emigrierte er mit seiner Familie nach Belgien und lebte dort in Uccle/Ukkel, einer Gemeinde in der zweisprachigen Region Brüssel, eigentlich ein Teil der Hauptstadt. Verwandte seines Vaters in Südafrika unterstützten die Familie. Sohn Henri besuchte die Schule.
Auch die nahen Verwandten mussten Deutschland verlassen: Ebenfalls nach Belgien flohen 1939 sein Bruder Ludwig Hurwitz und seine Schwägerin Meta Westheimer mit ihrer Familie (Ehemann Julius, Tochter Beatrix und Schwiegermutter Johanna Boas). Die Schwägerinnen Margot verh. Lewy und Hella verh. Tausk emigrierten (aus Belgien oder direkt) mit ihren Familien in die USA. Allein die Ehefrau und die Tochter seines Bruders Ludwig Hurwitz und sein Bruder Richard mit Familie blieben in Berlin.
Am 10. Mai 1940 begann der deutsche Angriff auf Belgien. An demselben Tag mussten sich die über 16-jährigen deutschen und österreichischen Staatsbürger bei der Polizei melden. Als „Spione“ und „unerwünschte Ausländer“ wurden die Männer von den belgischen Behörden festgenommen und nach Frankreich in die dortigen Internierungslager transportiert. Walter Hurwitz, sein Bruder Ludwig und sein Schwager Julius Westheimer kamen nach langer Fahrt und einigen Zwischenstationen nach Saint-Cyprien, ein Internierungslager an der Mittelmeerküste. Nach der Auflösung des Lagers Ende Oktober 1940 wurde Walter Hurwitz nach Gurs, dem größten Internierungslager im unbesetzten Süden Frankreichs, verschleppt. Sein Schwager Julius, der im Lager Rivesaltes war, floh im Februar 1941 und ging nach Brüssel zurück.
Walter Hurwitz blieb bis 1942 in Gurs: Er hatte mehrere Malariaanfälle, die Bemühungen um ein Affidavit (das er schließlich bekam, aber nicht nutzen konnte) zogen sich hin. Er litt unter der erzwungenen Untätigkeit und vermisste seine Ehefrau und seinen Sohn, die er nicht wiedersehen sollte, die aber überlebten: Seine Ehefrau Frieda und seine Schwiegermutter Johanna Boas wurden von ihrer Vermieterin versteckt. Henri (Heinz Dieter) und seine Cousine Beatrix Westheimer wurden im Juli 1942 in Ottignies in der Nähe von Brüssel bei zwei älteren Schwestern untergebracht, die sie als Neffen und Nichte ausgaben. Zu ihrem Schutz taufte ein Priester mit Wissen ihrer Eltern die Kinder.
Walter Hurwitz wurde aus Gurs in das Sammellager Drancy nordöstlich von Paris transportiert und von dort am 10. August 1942 nach Auschwitz verschleppt und ermordet.
Das Schicksal der anderen: Der ebenfalls internierter Bruder Ludwig Hurwitz wurde am 17. August 1942 von Drancy nach Auschwitz deportiert und ermordet. Der aus dem Lager Rivesaltes geflohene Schwager Julius Westheimer gehörte am 19. April 1943 mit seiner Ehefrau Meta zu den Gefangenen, die von einer Gruppe belgischer Widerstandskämpfer aus dem 20. Transport von Brüssel nach Auschwitz befreit wurden. Beide wurden angeschossen, Julius starb, Meta wurde mit dem nächsten Transport in das Vernichtungslager gebracht und ermordet. Dort starben 1943 auch der in Berlin gebliebene Bruder Richard Hurwitz, seine Ehefrau Hertha und seine Tochter Rita Marga. (Ein Stolperstein erinnert vor dem Haus Turmstraße 40 in Berlin-Moabit/Tiergarten an die Familie.)
Frieda Hurwitz blieb in Belgien und heiratete wieder. Sohn Henri Hurwitz studierte Chemie, gründete eine Familie und arbeitete als Professor an der französischsprachigen Université libre de Bruxelles ULB. 2004 initiierte er den Stolperstein für seinen Vater. Seine Cousine Meta ging in die USA, heiratete und arbeitete als Lehrerin. Sie schrieb als Beatrice Muchman ein Buch über ihre Erlebnisse und gab eine große Anzahl von Dokumenten, Briefen und Fotografien an das „United States Holocaust Memorial Museum“ in Washington DC. Beide gaben als Überlebende lange Interviews.
Quellen:
Berliner Adressbücher
BLHA Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Marcel Bervoets: La liste de Saint-Cyprien, Brüssel 2006
Christian Eggers: Unerwünschte Ausländer. Juden aus Deutschland und Mitteleuropa in französischen Internierungslagern 1940-1942, Berlin 2002
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
Claudia Leonhard: Das Unaussprechliche in Worte fassen. Eine vergleichende Analyse schriftlicher und mündlicher Selbstzeugnisse von weiblichen Überlebenden des Holcaust, Kassel 2013, darin eine Einzelfallanalyse von Beatrice Muchmans Buch, digitalisiert
Beatrice Muchman: Never to be Forgotten: a Young Girl’s Holocaust Memoir, New York 1997 (2012), in der digitalisierten Leseprobe Briefe von Walter Hurwitz
Beatrice Muchman: Stiftung USC Shoah Interviews mit Überlebenden
Beatrice Muchman: The Beatrice Muchman Papers im USHMM
Henri Hurwitz: Oral History Interview; https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn90096
www.geni.com/people/
www.mappingthelives.org/
www.statistik-des-holocausts.de
www.tegelportal.de/tegelarchiv/berliner-strasse/berliner-str-13/
https://www.ushmm.org/media/dc/HSV/source_media/all_cataloging/general/pdf/source_33334_prepablog.pdf
Dr. Dietlinde Peters, Vorrecherchen Nachlass von Wolfgang Knoll
Von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin