HIER WOHNTE
JULIE LILIENTHAL
GEB. WITTENBERG
JG. 1885
DEPORTIERT 19.4.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET
Julie (Julia) Lilienthal wurde am 31. Oktober 1885 als Tochter des jüdischen Kaufmanns Fredrik Wittenberg und seiner Ehefrau Rosa, geb. Isakowitz, in der ostpreußischen Landgemeinde Schmalleningken (heute Smalininkai/Litauen) geboren. Schmalleningken lag im Memelland, einer Grenzregion weit entfernt von der deutschen Hauptstadt Berlin und direkt an der Grenze zum zaristischen Russland. Nah waren die Städte Ragnit (heute Neman/Russland) und Tilsit (heute Sowetsk/Russland). Die Juden lebten auf beiden Seiten der Grenze und waren meist Kaufleute.
Julie Wittenberg hatte drei ältere Geschwister: die 1878 geborene Schwester Dorothea und die 1881 und 1882 geborenen Brüder Hermann und Moritz (wahrscheinlich ein Halbbruder). Die Verwandten ihrer Eltern lebten im Memelland und in Königsberg, der Hauptstadt der Provinz Ostpreußen (heute Kaliningrad/Russland). Auch Fredrik Wittenberg (oder seine Witwe mit ihren Kindern) zog nach Königsberg. Im Adressbuch der Stadt aus dem Jahre 1899 ist Julies Mutter bereits als Witwe eines Buchhalters verzeichnet. Sie wohnte mit ihren Kindern nahe der Synagoge in der Selkestraße im jüdischen Viertel der Stadt. Einen Beruf lernte ihre Tochter Julie nicht.
Am 14. Dezember 1908 heiratete Julie Wittenberg den 1879 in Klein-Jerutten (heute Jerutki/Polen) geborenen Kaufmann Samuel Lilienthal. Die Landgemeinde im Kreis Ortelsburg (heute Szczytno/Polen) lag ebenfalls in Ostpreußen, aber im Ermland, einer Landschaft im Westen der Provinz.
Ehemann Samuel Lilienthal hatte vier Geschwister. Ebenfalls in Klein-Jerutten wurden seine älteren Geschwister geboren: Johanna (*1876, vor 1933 ausgewandert) und Saul (*1877, aus den Niederlanden deportiert, 1944 in Auschwitz ermordet). In Danzig kamen seine jüngeren Geschwister auf die Welt: Abraham im Jahr 1885 (emigriert, USA) und 1888 Herbert (gest. 1938 in Berlin). Samuel Lilienthals Vater Heiman (Chaim), ein Kaufmann, starb wohl Anfang der 1890er-Jahre in Danzig. Die Mutter Cecilia Lilienthal wohnte zuletzt gemeinsam mit ihrem Sohn Herbert in Berlin. Sie starb im März 1917.
Julie und Samuel Lilienthal lebten zunächst in Danzig. Sie wohnten in der Altstadt, Samuel Lilienthal arbeitete als Vertreter. Dann zog das Ehepaar nach Berlin, wo bereits Verwandte lebten. In den Berliner Adressbüchern von 1912 bis 1915 ist Samuel Lilienthal als Kaufmann in der Essener Straße 23 notiert, mit einer Wohnung im 3. Stock. Die Straße im Westfälischen Viertel von Moabit (heute der Bezirk Mitte) hatte im Gegensatz zu den meisten Straßen des Arbeiterviertels einen bürgerlichen Charakter. Julie Lilienthal war Hausfrau. Ob sie sich ehrenamtlich engagierte, wie es üblich war, ist nicht bekannt.
Die folgenden 20 Jahre lebte Julie Lilienthal mit Ehemann und später auch mit Kind in der Burgherrenstraße 8 in Tempelhof. Ihr Ehemann war weiterhin als Kaufmann eingetragen. Die Straße liegt nicht weit vom Tempelhofer Feld, bis Ende 1918 ein Exerzierplatz der Berliner Garnison, aber auch ein Flughafen, auf dem seit 1923 Linienverkehr herrschte. In der Burgherrenstraße wurde am 27. August 1924 der Sohn Walter, ihr einziges Kind, geboren.
1936 starb Julie Lilienthals Schwester Dorothea. Sie hatte sehr jung den Kaufmann Hermann Isakowitz geheiratet (1879–1942 Riga) und mit ihrem Ehemann im westpreußischen Marienwerder (Kwidzyn/Polen) gelebt. Die Eheleute hatten vier Kinder und besaßen ein Geschäft für Herrenkonfektion. Hermann Isakowitz musste später sein Geschäft in Marienwerder aufgeben und zog mit seinen beiden Töchtern, die Söhne hatten bereits fliehen können, nach Berlin. Seine Töchter rettete er mit einem Kindertransport. Der Urenkel ihrer Schwester Dorothea, Danny Wattin, verarbeitete die Familiengeschichte in dem Roman „Der Schatz des Herrn Isakowitz“.
Ebenfalls 1936, nach 20 Jahren im Bezirk Tempelhof, zogen Julie und Samuel Lilienthal mit dem halbwüchsigen Sohn Walter in die Kaiserallee 172 (heute Bundesallee) in Wilmersdorf. Ihr Sohn, in Deutschland ohne Zukunft, bereitete sich in Gut Winkel in Spreenhagen/Mark Brandenburg auf die Auswanderung nach Palästina vor. Das große Gut war ein landwirtschaftlicher Lehrbetrieb für Jugendliche, die als „Pioniere“ im Kibbuz arbeiten wollten. Walter Lilienthal wanderte 1938 nach Palästina aus und nannte sich dort Zeev Tal. Er lebte als Landwirt, aber nicht im Kibbuz. 2015 ist er in Jerusalem gestorben.
1938 starb Julies Schwager Herbert Lilienthal, der Pianist und Musiklehrer geworden war, in Berlin. Julie und Samuel Lilienthal zogen in die Helmstedter Straße 24. Samuel Lilienthal war krank und starb am 17. Januar 1940 im Jüdischen Krankenhaus. – Sein Tod wurde von Schwager Hermann Isakowitz angezeigt, der am 19. Januar 1942 in Riga ermordet werden sollte. Am Kurfürstendamm 133 erinnert seit 2008 ein Stolperstein an ihn. In Riga starben ebenfalls 1942 Hermann Wittenberg, der Bruder von Julie Lilienthal, und seine Ehefrau Walli, geb. Joseph.
Julie Lilienthal war (fast) allein, aber ihr Sohn war in Sicherheit. Ihre letzte Anschrift war eine Wohnung im Parterre der Sybelstraße 58. Dort wohnte sie bei dem Ehepaar Wolfgang und Zerline Nathan. Beide wurden am 16. Dezember 1942 nach Theresienstadt deportiert, beide haben überlebt. Ihr Bruder (oder Halbbruder) Moritz Wittenberg lebte noch bis 1943, er wurde am 3. Februar 1943 aus Berlin nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.
Am 19. April 1943 wurde Julie Lilienthal mit dem „37. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert. Mit ihr wurde aus der Sybelstraße 58 die 1880 geborene Witwe Selma Ebstein, geb. Katzenstein, verschleppt, die in der Gneisstraße 8 im Grunewald ein Familienheim geführt hatte, und an die dort ein Stolperstein erinnert. Fast 700 Personen gehörten zu diesem Transport, darunter auch viele junge Menschen. Sie werden zu denjenigen gehört haben, die zur Arbeit in das Lager selektiert wurden. Die anderen wurden in Auschwitz-Birkenau getötet. Auch Julie Lilienthal wurde ermordet.
Quellen:
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Adressbuch Königsberg 1899, 1906
Adreß-Buch für die Provinzial-Hauptstadt Danzig und deren Vorstädte 1886
Arolsen Archives
BLHA Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
Danny Wattin. Der Schatz des Herrn Isakowitz, Roman, Köln 2015 (Stockholm 2014)
https://annaberger-annalen.de/jahrbuch/2004/AnnabergNr.12_Kap4.pdf
https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001935 (Herbert Lilienthal)
https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001935?wcmsID=0003
https://www.mappingthelives.org/
https://www.statistik-des-holocausts.de: Transportlisten
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de/
Vorrecherchen Nachlass Wolfgang Knoll