Stolpersteine Niebuhrstraße 67

Hauseingang Niebuhrstr. 67

Hauseingang Niebuhrstr. 67

Diese Stolpersteine wurden am 11.12.2006 verlegt.

Stolperstein Ernst Goldstein

Stolperstein Ernst Goldstein

HIER WOHNTE
ERNST GOLDSTEIN
JG. 1915
TOT 11.7.1941
IN BERLIN

Stolperstein Julius Goldstein

Stolperstein Julius Goldstein

HIER WOHNTE
JULIUS GOLDSTEIN
JG. 1879
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Stolperstein Elly Goldstein

Stolperstein Elly Goldstein

HIER WOHNTE
ELLY GOLDSTEIN
GEB. JONAS
JG. 1888
TOT 29.5.1941
IN BERLIN

Julius Goldstein kam am 22. Dezember 1879 in Görlitz auf die Welt. Sein Vater, Nathan Goldstein, war Kaufmann und wohnte mit Julius‘ Mutter, Helene, geb. Praschkauer, in der Elisabethstraße 17. Sie hatten bereits zwei Söhne, Benno (*1874) und Harry (*1878). Später folgten noch Regina Auguste (*1884) und Isidor (*1887). Von Georg, einem weiteren Bruder Julius’, ist das Geburtsdatum nicht bekannt.

Wenige Jahre nach Julius’ Geburt pachtete Nathan Goldstein das vornehme Hotel Victoria, das den Mittelteil des imposanten Gebäudes Postplatz 19-20 einnahm, welches der Kaufmann Eduard Schultze 1863-68 auf dem Gelände des ehemaligen Frauenspitals hatte erbauen lassen. Das Gebäude steht heute noch. Um 1885 zog die Familie Goldstein selbst von der Elisabethstraße in die Poststraße 20. Einige Jahre später kam zu dem Hotelbetrieb noch eine Weinhandlung.

Diese Art der Geschäfte lassen vermuten, dass Nathan Goldstein wohlhabend genug war, seinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Julius wurde wie sein Vater Kaufmann, sollte sich später auf Getreide- und Futtermittelhandel spezialisieren.

Etwa seit der Jahrhundertwende unterhielt Nathan Goldstein eine Agentur in Berlin, in der Magazinstraße 2, vielleicht um seine Weine zu vertreiben. Dies ist auch die Adresse, mit der Julius Goldstein erstmalig 1912 im Adressbuch genannt ist, mit einer im Handelsregister eingetragenen Firma “Julius Goldstein jr. Getreide- und Futterartikel”. Er wohnte auch in der Magazinstraße 2. Sein Vater setze sich um 1912 zur Ruhe, zuletzt betrieb er nur noch den Weinhandel. Er siedelte nach Berlin um und lebte als Privatier ebenfalls in der Magazinstraße 2.

Am 19. Juni 1914 heiratete Julius Goldstein Elly Jonas in Berlin-Schöneberg. Elly war am 15. Januar 1888 in Eberswalde auf die Welt gekommen. Sie war eine Tochter des Kaufmannes Hermann Jonas und seiner Frau Minna, geb. Dobrin. Die Familie wohnte in der Steinstraße 14 und hatte vier weitere Kinder: Lotte Laura war ein Jahr älter als Elly, Fritz ein Jahr jünger. Der 1890 geborene Ernst wurde nur 8 Monate alt, und schließlich kam noch 1897 Margarete als Nachkömmling. 1900 wurde Hermann Jonas Teilhaber der in Berlin neu gegründeten chemischen Fabrik seines Schwagers Carl Dobrin “Dr. Dobrin & Co” und 1904 siedelte er mit seiner Familie nach Berlin um, in die Uferstraße 13 (Wedding). Um 1910 starb Hermann Jonas, und seine Witwe bezog eine Wohnung in Schöneberg, Rosenheimer Straße 28. Dort wohnte Elly, bevor sie 1914 Julius heiratete.

Werner und Ernst Goldstein

Werner und Ernst Goldstein

Das Paar zog in die Niebuhrstraße 57. Wenige Häuser weiter, in der Nr. 67, lebte Julius’ Bruder Harry, seines Zeichens Textilhändler. Elly und Julius bekamen zwei Söhne: Ernst wurde am 23. April 1915 geboren, Werner Nathan am 26. März 1920. Sie erzogen ihre Söhne im jüdisch-liberalen Geist. Ernst sollte das Sorgenkind der Familie werden, schon mit 11 Jahren war er verhaltensauffällig und wurde mehrere Wochen in der Nervenklinik der Charité behandelt. Sechs Jahre später führten Angstzustände und Wahnvorstellungen zum Aufenthalt in einem Sanatorium, von wo er nach einigen Wochen mit dem Verdacht auf Schizophrenie in die Heilanstalt Buch eingewiesen wurde. Von dort kam er schließlich, nach einem weiteren halben Jahr, in das St. Joseph-Krankenhaus in Weißensee. In diesem wurde er, nach einem Beschluss des „Erbgesundheitsgerichts“, 1935 sterilisiert. Angeblich habe er – nach „Aufklärung“ – den Antrag dazu selbst gestellt.

Inzwischen war Julius Goldstein, nach fast 20 Jahren in der Niebuhrstraße 57, 1932 in das Haus umgezogen, in dem sein Bruder Harry wohnte, Niebuhrstraße 67. Ob das eine Verbesserung oder eine Verschlechterung war, bleibt offen. Vielleicht hatte Julius bereits mit den Vorboten der NS-Judendiskriminierung zu kämpfen. Mit Sicherheit verschlechterte sich seine berufliche Lage mit der Übertragung der Macht an Hitler. Die Konsequenzen hatte auch Sohn Werner zu tragen. Bis 1935 konnte er noch das Charlottenburger Realgymnasium besuchen, fand dann jedoch in Berlin als Jude keine Lehrstelle. Er ging nach Luckenwalde, wo er in der Metallwarenfabrik des ungarisch-jüdischen Dr. Kellermann eine Ausbildung als Werkzeugmacher bis 1938 machen konnte. Die Firma war 1933 von Berlin nach Luckenwalde verlegt worden. Ernst, der 1935 aus der Klinik in Weißensee entlassen worden war, fand Arbeit in einer Matratzenfabrik als „Matratzenspanner“.

Wie alle Juden waren Goldsteins betroffen von den Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmaßnahmen der Nationalsozialisten. Nach den Pogromen vom 9./10. November 1938 vermehrten sich entsprechende Verordnungen sprunghaft. Noch im November wurden in Luckenwalde alle jüdischen Männer zwischen 16 und 60 verhaftet, darunter der 18jährige Werner Goldstein. In Berlin wurde auch Werners Onkel Harry Goldstein festgenommen, beide kamen in das KZ Sachsenhausen. Im Dezember wurden sowohl Werner als auch Harry entlassen – mit der Auflage, so schnell wie möglich Deutschland zu verlassen. Werner gelang es im Februar 1939 nach Großbritannien zu flüchten, Harry emigrierte mit seiner Frau Rosa nach Shanghai, nach dem Krieg konnten sie in die USA gelangen.

Am 29. Mai 1941, so musste es Julius zwei Tage später zu Protokoll geben, starb Elly Goldstein im Jüdischen Krankenhaus. Offizielle Todesursache: Blutarmut, innere Blutungen – sehr wahrscheinlich die Folgen der vielen Entbehrungen, denen Juden inzwischen ausgesetzt waren. Der Tod der Mutter verursachte bei Ernst einen akuten Krankheitsschub und er wurde in die Wittenauer Heilstätten (seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik) eingewiesen. Die Heilstätten waren während der NS-Zeit in Euthanasie-Morde und Patienten Sterilisierungen mit eingebunden. In dem Buch „Totgeschwiegen“ (2020) wird auf die immer gleichlautenden Eintragungen über ums Leben gekommene Patienten hingewiesen: „… Nach einem meist recht ausführlichen Aufnahmebefund wurde der weitere Verlauf nur spärlich dokumentiert. Wenige Tage vor dem Todesdatum findet man in der Regel die lapidare Diagnose „allgemeiner Kräfteverfall“. Danach, in den meisten Fällen mit derselben Handschrift eingetragen, die kurze Feststellung „Exitus letalis …“ „Bronchopneumonie“ gehörte neben „Herzschwäche“ zu den am häufigsten angeführten Todesursachen. Beide Diagnosen sprechen für den gewaltsamen Tod der Patienten.“ (Seiten 185/186)

All das trifft auf Ernst Goldstein zu. Er starb in den Wittenauer Heilstätten, völlig abgemagert, am 11. Juli 1941, wenige Wochen nach der Aufnahme. Als Todesursachen werden u.a. Lungenentzündung und Herz-Kreislaufschwäche genannt – man muss wohl davon ausgehen, dass auch er einen gewaltsamen Tod erlitt.

Julius Goldstein verlor also in kurzer Zeit seine Frau und seinen Sohn. Er wurde zur Zwangsarbeit bei der Spinnstoff AG in Zehlendorf für 28 RM in der Woche herangezogen. Mitte November 1942 wurde er auch gezwungen, seine Wohnung in der Niebuhrstraße aufzugeben und ein Leerzimmer bei Nelly Schwalbe in der Mommsenstraße 55 zu beziehen. Rund drei Monate später musste er die “Vermögenserklärung” ausfüllen, wie alle zur Deportation Bestimmten. Sein ganzes verbliebenes Vermögen war ein Sparbuch mit 25,56 RM, die die Reichsfinanzdirektion sich überweisen ließ. Julius unterschrieb die Erklärung am 12. Februar 1943, möglicherweise war er da schon in die Große Hamburger Straße 26 verbracht worden, ein von der Gestapo als “Sammelstelle” missbrauchtes jüdisches Altersheim. Eine Woche später, am 19. Februar, wurde Julius Goldstein mit knapp 1000 weiteren Menschen nach Auschwitz deportiert. Dort wurden 85 Frauen und 140 Männer zur Zwangsarbeit bestimmt – eher unwahrscheinlich, dass der 63jährige Julius dazu gehörte. Alle anderen wurden in den Gaskammern ermordet. Julius Goldsteins Todesdatum ist nicht bekannt.

Aus Julius Familie überlebten sein Sohn Werner, sein Bruder Harry und die Schwester Regina Auguste, verheiratete Levy, die mit Mann und zwei Kindern nach Südafrika fliehen konnte. Julius’ Bruder Isidor und seine Frau Alice wurden am 6. März 1943 auch nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Für sie liegen Stolpersteine vor dem Haus Goethepark 13. Benno kam in der jüdischen Blindenanstalt Süd-West am 24. Oktober 1941 ums Leben, unklar bleibt, ob er dort Patient oder Angestellter war. Georg war bereits 1936 gestorben.

Von Ellys Geschwistern überlebte nur Margarethe, verheiratete Lederer, sie emigrierte nach London. Fritz Jonas und seine Schwester Lotte betrieben ein Kaufhaus in Naumburg, das sie im Zuge der “Arisierung” verloren. Sie wurden am 21. Januar 1942 in das Ghetto Riga deportiert. Lotte starb dort bald darauf, Fritz wurde am 4. August 1944 weiter nach Stutthof verschleppt, wo er am 1. Januar 1945 ums Leben kam. Ellys Mutter Minna Jonas deportierte man am 14. August 1942 nach Theresienstadt, wo sie kurz darauf, am 5. September, verstarb. In Naumburg/Saale wurden vor dem Haus Herrenstraße 16/17 Stolpersteine für Lotte und Fritz Jonas verlegt.

Harry Goldstein starb 1955 in San Francisco, Margarethe Lederer 1980 in London und Regina Auguste Levy bereits 1948 in Johannesburg. Werner Nathan Goldstein wurde bei Kriegsbeginn in England interniert und nach Australien deportiert, 1941 kam er zurück nach London. 1947 siedelte er nach Ostberlin um, er war inzwischen KPD-Mitglied geworden. Er studierte Journalistik in Leipzig, um anschließend als Auslandskorrespondent und Wirtschaftsredakteur für die Zeitung “Neues Deutschland” zu arbeiten. Er starb 2006.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbuch Görlitz; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; Mapping the Lives (https://www.mappingthelives.org/) ; Christina Härtel, Marianne Hühn, Norbert Emmerich: Krankenmorde in den Wittenauer Heilstätten. In: Totgeschwiegen 1933–1945. Berlin 2002; https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Naumburg_(Saale); https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/stolpersteine/artikel.179359.php; www.nd-aktuell.de/artikel/180913.unter-jedem-grabstein-eine-weltgeschichte.html

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf