HIER WOHNTE
HEDWIG BROH
GEB. BRICK
JG. 1879
DEPORTIERT 14.11.1941
MINSK
ERMORDET
Hedwig Broh geb. Brick, am 05. Dezember 1879 in Berlin, und Edith Broh geb. Goldlust, am 03.Dezember 1906 in Berlin, wurden am 14. November 1941 nach Minsk, deportiert und ermordet.
Seit 2009 erinnern vor dem Haus am Kaiserdamm 22 zwei Stolpersteine an Hedwig und Edith Broh. Ein Hausbewohner informierte sich über ehemalige jüdische Mieter und initiierte daraufhin die Verlegung der Stolpersteine zum Gedenken an die beiden Berlinerinnen. Hedwig Broh wurde im Alter von 62 Jahren und Edith Broh im Alter von 35 Jahren nach Minsk deportiert.
Hedwig Broh war in der Textilbranche tätig und führte ein Etagengeschäft – die Verkaufsfläche war oberhalb des Erdgeschosses – für Damenkleidung am Kaiserdamm 22 in Charlottenburg. Die breite Prachtstraße war auf Wunsch von Kaiser Wilhelm II. angelegt und erst 1906 für den Verkehr freigegeben worden. Der Kaiserdamm war für die Erschließung des südwestlichen Teils von Charlottenburg von Bedeutung, und es entwickelte sich dort eine Mischung aus Wohn- und Geschäftshäusern. Die Geschäftsinhaberin war mit dem fünf Jahre älteren Kaufmann Siegfried Broh verheiratet, der allerdings schon 1938 eines natürlichen Todes starb. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn, Julius Broh, der am 20. August 1902 in Berlin-Moabit zur Welt kam. Er absolvierte seine Schulzeit auf dem Kaiserin Augusta Gymnasium in Charlottenburg (heute Ludwig-Cauer-Grundschule) bis zur Reifeprüfung. Julius Brohs Schule lag nicht weit vom Schlosspark entfernt und damit mitten im »Neuen Westen«, einem der
modernsten und kulturell vielfältigsten Stadtteile Berlins. Danach nahm Julius Broh eine Lehre in einer Damenbekleidungsfirma namens Siedner & Gutermann auf und arbeitete nach deren Abschluss bei verschiedenen Firmen als Lagerverkäufer und Stadtvertreter. Mit 23 Jahren trat Julius Broh als stiller Teilhaber in das Damenkonfektionsgeschäft seiner Mutter ein und war hier bis Ende der 1930er-Jahre als Verkäufer tätig. Laut einer Bekannten der Familie florierte der Laden, wodurch sich die Familie Broh vermutlich einen höheren Lebensstandard leisten konnte. In der Zeit, in der Julius Broh im Familiengeschäft tätig war, muss er Edith Goldlust kennengelernt haben. Sie heirateten am 10. Juli 1929 in Berlin. Nach der Hochzeit wohnte das junge Paar zusammen mit Hedwig Broh in einer Drei-Zimmer-Wohnung im zweiten Stockwerk am Kaiserdamm 22 – im Haus des Damenkleidungsgeschäfts.
Edith war die jüngste Tochter von Arnold Goldlust und Jenni Goldlust, geb. Lehmann. Sie hatte zwei Geschwister, Walter Goldlust (* 31. 1. 1901) und Susi Goldlust (* 3. 7. 1903). Während Edith mit ihrem Ehemann und ihrer Schwiegermutter am Kaiserdamm wohnte, lebte Susi Goldlust in der elterlichen Wohnung in der Seesener Straße 69 in Berlin-Halensee, wo sie ein Modesalon für Kindermaßkleidung besaß. Mit der Zuspitzung der antisemitischen Verfolgung im Deutschen Reich wurde auch für die Familie Broh die Auswanderung dringend. Ohne größere finanzielle Mittel war die Einreise in ein anderes Land in den meisten Fällen aber nicht möglich. Nachdem Jüdinnen und Juden jeglichen Besitzes beraubt worden waren, sahen sie sich mit immer mehr Einschränkungen und Schwierigkeiten konfrontiert. Emigranten durften das Land nur mit einer geringen Geldsumme verlassen. So erging es auch Julius Broh – nur unter großen Schwierigkeiten und gegen hohe Geldzahlungen erhielt er ein
Touristenvisum für Brasilien. Er wanderte allein aus und kam im Februar 1939 in Rio de Janeiro an. Brasilien allein nahm zwischen 1933 und 1945 schätzungsweise 16 000 jüdische Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich auf und war ab Ende der 1930er-Jahre eines der wichtigsten Fluchtziele in Lateinamerika geworden. Nach seiner Ankunft in Brasilien versuchte Julius Broh – leider erfolglos – eine Aufenthaltsbewilligung für seine Mutter Hedwig und seine Ehefrau Edith zu erwirken. Da er selbst völlig mittellos aus dem Deutschen Reich hatte fliehen müssen, konnte er nicht genügend Geld aufbringen, um für die beiden Frauen Einreisegenehmigungen zu besorgen. Es war ihm selbst kaum möglich, eine neue Existenz in Brasilien aufzubauen.
Spätestens seit den Novemberpogromen 1938 war es für Hedwig Broh nicht mehr möglich, ihren Laden weiterzuführen. Das privat geführte Geschäft war zwar nicht im Handelsregister eingetragen, kam aber schon 1935 auf die von der NSDAP-Ortstruppe Westend erstellte »Liste jüdischer Geschäfte« und wurde boykottiert. Nach den Pogromen 1938 half sie ehrenamtlich in der Armenküche der Synagoge in der Pestalozzistraße 14/15 aus, nur wenige Hundert Meter von ihrer Wohnung am Kaiserdamm entfernt. Die Synagoge war im November 1938 zwar schwer demoliert worden, aber um ein Übergreifen auf die benachbarten Häuser zu verhindern, hatte die Feuerwehr den Brand gelöscht. Mit Kriegsbeginn im September 1939 wurden immer mehr Jüdinnen und Juden zur Zwangsarbeit verpflichtet. Da Berlin ein wichtiger Standpunkt der Rüstungsindustrie war, mussten im Laufe des Krieges über eine halbe Million jüdische Deutsche und Verschleppte aus den besetzten Gebieten in der Hauptstadt Zwangsarbeit
leisten. Siemens, der größte deutsche Elektrokonzern während des Zweiten Weltkrieges, setzte in seinen Werken einen Großteil jüdischer Zwangsarbeiter ein. Edith Broh musste ab 1940 bei Siemens als Wicklerin arbeiten. Diese Montagearbeit an der Maschine verlangte viel Fingerfertigkeit, weshalb überwiegend Frauen dafür eingesetzt wurden. Auch Ediths Schwester Susi Goldlust war bis 1942 bei Siemens Zwangsarbeiterin.
Dem Bruder von Edith Broh, Walter Goldlust, gelang 1933 die Emigration in die Niederlande. In Amsterdam überlebte er den Krieg und siedelte später ebenfalls nach Rio de Janeiro über. Näheres über die Umstände seiner Emigration und ob sich Julius Broh und Walter Goldlust in Brasilien getroffen haben, ist nicht bekannt. Erst nach dem Krieg gelang es Walter Goldlust, mit einer alten Bekannten aus Berlin – Friedel Jahn – Kontakt aufzunehmen.
Über sie erfuhr er vom Schicksal seiner jüngeren Schwester Susi Goldlust: Nach dem Boykott ihres Geschäfts war es ihr nicht mehr möglich gewesen, die Kosten für die elterliche Wohnung aufzubringen, und so suchte sie ab 1942 Unterschlupf bei der Familie Jahn, mit der sie eng befreundet war. Friedel Jahn war eine entschiedene Gegnerin des NS-Regimes und ließ keine Gelegenheit aus, Flüchtlingen und Verfolgten in ihrem Hause Unterkunft zu gewähren.
Noch heute erinnern sich Überlebende, die im Hause Jahn untergekommen waren und ihre Familienangehörigen daran. Auch Susi Goldlust bot die Familie Schutz, und Friedel Jahn schrieb später: »Sie war mir lieb wie ein eigenes Kind.« Um die Jahreswende 1943/44 wurde das Haus der Familie Jahn bei Luftangriffen der Alliierten stark beschädigt. Susi Goldlust fand für einige Zeit Aufnahme bei einer Bekannten namens Hertha Stern in Neuenhagen, 30 km östlich von Berlin. Nur ab und zu kam sie für ein paar Stunden in das Haus der Familie Jahn in die Boelckestraße 121 in Berlin-Tempelhof zurück. Am 14. August 1944 wurden sie bei einem ihrer kurzen Aufenthalte in der Wohnung von der Gestapo abgepasst und verhaftet. Auch Hertha Stern und ihr Mann wurden im August 1944, in Neuenhagen, verhaftet. Alle drei wurden am 6. September 1944 nach Auschwitz deportiert. Hertha Stern überlebte das Konzentrationslager; Susi Goldlust wurde noch am Tag ihrer Ankunft im Alter von 41 Jahren in der
Gaskammer ermordet.
Hedwig und Edith Broh erlitten vermutlich ein ähnliches Schicksal – sie wurden am 14. November 1941 nach Minsk deportiert. Ob die beiden Frauen ihre Geburtstage im Dezember noch erlebten, ist ungewiss – in Minsk verliert sich ihre Spur. Julius Broh blieb bis zu seinem Lebensende in Brasilien, heiratete 1948 erneut und gründete eine neue Familie. Walter Goldlust, der Bruder von Edith Broh, kehrte in den 1960er-Jahren nach Deutschland zurück. Ab den 1950er-Jahren ehrte der Berliner Senat Mitbürger, die in der Zeit des NS-Regimes Verfolgten uneigennützig und selbstlos Schutz und Hilfe gewährt hatten. Darunter war auch Friedel Jahn: Ihr wurde am 9. November 1966 als Dank und Anerkennung für ihre Hilfeleistungen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft die Ehrenurkunde des Berliner Senats verliehen.
Siehe auch: Anja Reuss, Kirstin Schneider (Hrsg.): Berlin – Minsk. Unvergessene Lebensgeschichten. Ein Gedenkbuch für die nach Minsk deportierten Berliner Jüdinnen und Juden, Berlin 2013.
Biografische Zusammenstellung: Lisa Kjer