Heinz Rudi Seidel kam am 17. Januar 1929 in der „Israelischen Kranken-Verpflegungsanstalt“ in Breslau auf die Welt. Seine Mutter war Margot Alice Seidel, geb. Arndt. Sie wurde am 20. Dezember 1907 geboren. Sein Vater war der Kaufmann Martin Seidel, geboren am 1. Juni 1904 in Schildberg. Margot Arndt war in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Ihr Onkel Max Lewin und seine Frau Paula, eine Christin, hatten außer Margot noch mindestens ein weiteres Pflegekind namens Klara Hübner. Margot Arndt lebte bis zu ihrer Eheschließung am 29. Dezember 1927 bei ihren Pflegeeltern in Breslau.
Zwei Jahre nach seiner Geburt wurde Rudi ebenfalls in diese Pflegefamilie gegeben. Er wuchs bei den Lewins auf und besuchte die jüdische Volksschule „Am Anger“. Was seine leiblichen Eltern während dieser Zeit machten, ist nicht bekannt. Jedenfalls wurde die Ehe 1937 geschieden. Rudis Bruder Horst wurde am 6. März 1930 in Breslau geboren. Er lebte bei seinen Eltern.
Die Pflegefamilie Lewin zog 1935 nach Berlin in die Fasanenstraße 55. Rudi besuchte zunächst eine Privatschule in der Pariser Straße und später die Schule der Jüdischen Gemeinde in der Synagoge Fasanenstraße. Nach den November-Progromen 1938 war für Rudi kein Schulbesuch mehr möglich. Er hat bis zu seiner Deportation 1943 keinen Unterricht und keine Ausbildung mehr erhalten.
Seine Mutter Margot heiratete im März 1939 in Breslau in zweiter Ehe den Frisör Kurt Loewy und emigrierte mit ihm nach Shanghai.
Im April 1939 verließ auch Martin Seidel zusammen mit seinem jüngsten Sohn Horst und seiner zweiten Frau Mali von Breslau aus nach Shanghai das Land.
In der Datenbank von Yad Vashem befindet sich ein Gedenkblatt, das von Rudis Bruder Horst Seidel, später Harry Sydel, von Puerto Rico aus bestellt wurde. Dieser gab darin an, von Mai 1939 bis Dezember 1947 in Shanghai gewesen zu sein. Martin und Mali Seidel kehrten in den 1950er Jahren noch einmal nach Berlin zurück, wo sie zunächst im Wedding, danach in Charlottenburg wohnten. 1966 lebten sie in New York.
Es war vorgesehen, Rudi 1939 nach Venezuela zu schicken und dort bei seinem Onkel leben zu lassen. Es war alles für die Ausreise vorbereitet, zwei Wochen bevor sein Schiff ablegen sollte, erklärte Deutschland der Welt den Krieg. Damit waren alle Tore geschlossen und Rudis Schicksal besiegelt.
Die Familie Lewin musste mit ihren Pflegekindern 1939 die Wohnung in der Fasanenstraße verlassen und in die Walter-Fischer-Straße 4 (heute Fechnerstraße) ziehen. Von dort aus wurde der 14-jährige Rudi von der Gestapo abgeholt und trat, isoliert von allen vertrauten Personen, den Weg in den Tod an.
Mit dem sogenannten 36. Osttransport am 12. März 1943 wurden 947 Juden nach Auschwitz deportiert, viele arbeitsfähige Männer und Frauen mussten dort anschließend in den Buna-Werken Zwangsarbeit leisten.
Rudi Seidels genaues Todesdatum ist nicht bekannt.
Horst Seidel sah seinen Bruder am 18. April 1939 ein letztes Mal, als er für nur fünf Stunden in Berlin weilte.
Rudi und Horsts Großeltern (Paul und Rosa Seidel) und zwei Onkel (Herbert und Helmut Seidel) verloren im Holocaust ihr Leben. Sie wurden von Breslau aus in das Durchgangslager Ghetto Izbica deportiert und vermutlich in Treblinka ermordet.
Max Lewin wurde am letzten Tag des Krieges auf der Straße getötet. Seine Frau Paula starb im Januar 1952. Sie wohnte zuletzt in der Barstraße 12.
Recherche und Text: Karin Sievert
Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945,
Opferdatenbank Yad Vashem,
Entschädigungsamt Berlin,
Berliner Adressbücher 1936 – 1940,
Ergänzende Angaben und Foto von Harry Sydel, Puerto Rico.