HIER WOHNTE
LILLI RIESS
GEB. LÖWENTHAL
JG. 1889
DEPORTIERT 12.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ
Lilli Löwenthal war am 11. Juni 1889 in Berlin geboren worden. Ihr Vater war der Kaufmann Louis Löwenthal und die Mutter Martha Klara geb. Auerbach. Als Kurt und Lilli heirateten, war Louis Löwenthal schon verstorben, die Mutter lebte mit Lilli und deren zwei Jahre jüngeren Schwester Emmi in der Mommsenstraße 56. Ein Jahr nach Lillis Hochzeit heiratete Emmi Kurts älteren Bruder Walter, die Familien Löwenthal und Riess waren also doppelt verbunden. Bald nach der Geburt von Lillis Sohn Werner zog ihr Mann Kurt in den Krieg. Als Grenadier in der 2. Garde-Grenadier-Division „im Felde“ konnte er sich nicht richtig um die Firma kümmern und 1917 wurde seine Schwester Rosa, die ebenfalls in der Brünhildestraße wohnte, Gesellschafterin, Lilli erhielt Prokura. 1920 trat Rosa, seit 1919 verheiratete Wolff, wieder aus der Firma aus – Kurt war ja wieder da. Er zog nun mit Frau und Kind in eine Wohnung am Wagnerplatz 7, ebenfalls Friedenau. Das Geschäft lief
wohl gut, Kurt beschäftigte an die 20 Menschen, privat führte die Familie ein gediegenes Leben mit Dienstpersonal, Sommerreisen und Auto. Ab 1930 ging der Umsatz zurück, wahrscheinlich aufgrund der Weltwirtschaftskrise, Kurt verkleinerte das Geschäft, verlagerte es in die Besselerstraße 14.
Die Schwierigkeiten fingen aber erst an: mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging das Geschäft weiter zurück, da jüdische Kaufleute zunehmend boykottiert wurden. 1934 taucht im Adressbuch eine weitere Firma in der gleichen Branche auf: Ludwig Riess jr. Friseurbedarfsartikel, mit Sitz in Neukölln, ein Neffe Kurts. Kurts eigenes Geschäft wird nun in der Augsburger Straße 69 angegeben, demselben Haus, in dem sein Bruder Walter seine Zahnarztpraxis hatte. Vermutlich wohnten Kurt und Lilli auch dort. 1938 sahen sie sich gezwungen, in eine 1 ½ Zimmerwohnung in der Augsburger Straße 44 zu ziehen und im Adressbuch ist nur noch die Firma von Ludwig Riess jr. zu finden. Kurts Sohn Werner interessierte sich nicht für Friseurbedarfsartikel, er hatte vor Kunstwissenschaft und Bühnenbildnerei zu studieren. Gleich nachdem er im März 1933 noch das Abitur am Mommsen-Gymnasium absolvieren konnte, fuhr er nach München, um dort das Studium aufzunehmen. Dazu kam es aber nicht.
In München wurde ihm bedeutet, dass er als Jude keine Chance habe, und noch im gleichen Monat flüchtete der 19-jährige nach Zürich und von da nach Frankreich, wo er sich zunächst als Straßenfotograf durchschlug.
Die Eltern in Berlin waren indessen den immer häufigeren antisemitischen Verordnungen der Regierung ausgesetzt. Beruflich ruiniert, im Alltag ausgegrenzt, räumlich eingeschränkt in der kleinen Wohnung, mussten sie 1939 die Pogromnacht vom 9. zum 10. November erleben und die darauffolgende drastische Verstärkung antijüdischer Bestimmungen, die sie von jeglicher Teilnahme am öffentlichen Leben ausschloss. Walter Riess, der Bruder, wurde in Sachsenhausen inhaftiert, nach seiner Freilassung gelang es, seinen 17-jährigen Sohn Hans mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Walter und seine Frau Emmi schafften es, nach Shanghai zu flüchten, die einzige Stadt, die noch jüdische Flüchtlinge aufnahm.
Wir können uns denken, dass auch Kurt und Lilli gerne Deutschland verlassen hätten, sie sahen jedoch keine Möglichkeit für sich. Weiterhin verfolgt und erniedrigt, mussten sie zusehen, wie am 31. Juli 1942 Kurts 86-jährige Mutter Margarethe nach Theresienstadt und Kurts Schwester Else, – die, mittlerweile auch verwitwet, bis zuletzt mit der Mutter zusammen lebte – am 9. Dezember des gleichen Jahres nach Auschwitz deportiert wurden. Kurt und Lilli waren zur Zwangsarbeit verpflichtet worden, Kurt bei Kranol in der Spandauer Straße 36 und Lilli bei Osram in der Seestraße. Ende Februar 1943 wurde auch in diesen Arbeitsstätten die sogenannte „Fabrikaktion“ durchgeführt: alle noch im Reich arbeitenden Juden sollten überraschend vom Arbeitsplatz weg verhaftet und deportiert werden. In Berlin betraf das über 8000 Menschen. Auch Kurt und Lilli entgingen diesem Schicksal nicht, sie wurden in eines der – wegen der hohen Zahl Festgenommener – improvisierten
Sammellager verfrachtet und am 12. März 1943 mit fast 1000 weiteren Menschen nach Auschwitz verschleppt. Dort wurden 218 Männer und 147 Frauen zur Zwangsarbeit ausgesucht, alle anderen in den Gaskammern ermordet. Wir wissen nicht, zu welcher dieser Gruppen Kurt und Lilli Riess gehörten, Auschwitz haben beide nicht überlebt.
Auch Else Grünfeld, geb. Riess kehrte nicht aus Auschwitz zurück, ihre Mutter Margarethe starb bereits einen Monat nach Ankunft in Theresienstadt am 30. August 1942, offiziell an Darmkatarrh und Herzschwäche, was angesichts der menschenunwürdigen Unterbringungs- und Hygieneverhältnisse nicht verwundert. Der älteste Bruder Max Riess wurde mit dem ersten Deportationszug aus Berlin am 18. Oktober 1941 in das Ghetto Lodz verschleppt. Dort starb er an den erbärmlich Lebensumständen am 13. März 1942. Walter und Emmi Riess konnten zusammen mit ihrem Sohn nach dem Krieg von Shanghai aus in die USA einwandern. Rosa, verheiratete Wolff, steht in keinem Gedenkbuch, so dass Hoffnung besteht, dass auch sie den Nazischergen entkommen konnte. Auch über Siegfrieds Schicksal wissen wir nichts Genaues, Bruno fiel wahrscheinlich bereits im Ersten Weltkrieg. Kurt und Lillis Sohn Werner gelangte 1936 von Frankreich nach Argentinien und 1938 in die USA. Nach sehr unterschiedlichen Jobs
gelang es ihm nach dem Krieg, sich als Fotograf in New York zu etablieren.
Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005
Recherchen/Text: Micaela Haas