Einige Details aus ihrer Vermögensverwertungsakte des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg in Potsdam sind bekannt: Sie erhielt 101 Reichsmark Kriegerwitwenrente und sie musste Zwangsarbeit verrichten. 1941 war sie 56 Jahre alt. Sie wurde zur Firma „Nordland-Schneeketten“ in der Kürfürstenstraße 14 im Bezirk Tiergarten vermittelt. Die Entfernung zwischen ihrer Wohnung und der Firma betrug 5,6 Kilometer und wahrscheinlich musste sie die Wege zu Fuß zurücklegen. Vielleicht hatte sie Kontakt zu ihren ausgewanderten Kindern durch die berühmten Briefe des Roten Kreuzes, auf denen 25 Wörter erlaubt waren. Es ist aber nicht überliefert. Ebenso wenig ist gewiss, wie die Qualität des Kontaktes zwischen ihr und der Familie einer ihrer Schwäger, der Familie Josef Chotzen in der Johannisberger Straße 3 war. Ihr Neffe Joseph Chotzen, genannt Eppi, hat darüber nichts hinterlassen. Fest steht aber, dass sie sich kannten und in Kontakt waren.
Aus ihrer Vermögensverwertungsakte ist ein letztes interessantes Detail über sie zu erfahren: Sie wurde nicht während der „Fabrik-Aktion“ am 27. Februar 1943 festgenommen, sondern schon früher. Ihre Unterschrift stand unter den 16 Seiten, auf denen sie all ihr Vermögen auflisten musste, datiert vom 22. Januar 1943. Sie musste also mehr als 5 Wochen im Sammellager Große Hamburger Straße zubringen. Den Grund dafür ist ebenfalls ungewiss. Nur, dass sie ihre Wohnung in der Roscherstraße 7 um den 20. Januar 1943 verließ und nie wiederkam, ist bestätigt. Alice Chotzen wurde am 2. März 1943 nach Auschwitz deportiert und vermutlich sofort in der Gaskammer umgebracht. Ihr Todesdatum ist nicht dokumentiert. Erst im Oktober 1943 wurde ihre Wohnung geräumt, und bis dahin wurde die Miete vom Oberfinanzpräsidenten an den „arischen“ Vermieter gezahlt.
Zur Verlegung des Stolpersteins sind ihr Enkel, ihre Urenkelin und ihre Ururenkeltochter nach Berlin gekommen – sie kommen aus Israel und zeigen, wie wichtig es ihnen ist, ihrer Großmutter und Urgroßmutter zu gedenken, die sie nie persönlich kennengelernt haben.
Das zentrale Ziel der Nationalsozialisten, die Juden auszulöschen, wurde in dieser Familie aber nicht verwirklicht! Diese Familie – Inbar Chotzen, ihr Vater, der Werners Sohn ist und drei weitere Familienangehörige – steht heute hier und zeigt, dass Alices Familie weiterlebt!
“Diese Biografie folgt der sehr anschaulichen und ergreifenden Rede, die Frau Barbara Schieb bei der Stolpersteinverlegung am 24.Februar 2020 vor der Roscherstraße 7 gehalten hat. Die Historikerin Barbara Schieb hat für die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz die Dokumentation „Nachricht von Chotzen“ verfasst über das Leiden der mit Alice und Hugo Chotzen verwandten Familie Chotzen, die in Wilmersdorf, Johannisberger Straße 3 gelebt hatte.”
Barbara Schieb, Nachricht von Chotzen, Edition Hentrich Berlin 2000
Text: Barbara Schieb