HIER WOHNTE
CARL STERN
JG. 1876
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 2.11.1942
Carl Stern stammte aus Geseke, einer Kleinstadt im (bis heute) streng katholischen Teil Westfalens. Hier wurde er am 3. Juni 1876 in die jüdische Familie Stern hineingeboren. Zu dieser Zeit waren ungefähr vier Prozent der Einwohner des Ortes Juden. Sie dominierten besonders den wichtigen Getreide- und Viehhandel, in dem auch viele Mitglieder der Familie Stern tätig waren und wohlhabend wurden. Die „Familie“ war eigentlich eine Sippe mit unzähligen Geschwistern in allen Zweigen und Generationen. Sie trugen oftmals dieselben Namen und heirateten wohl auch untereinander. Carl Stern war der Sohn des Getreide- und Pferdehändlers Samson Stern (1842–1898) und der Johanna Stern, geb. Leszynsky (1853–1895). Das erste Kind seiner Eltern, die 1875 geborene Laura, war nur vier Wochen alt geworden. 1878 kamen Carl Sterns Bruder Erich und 1881 seine Schwester Frieda, die sich „Frida“ nannte, auf die Welt.
1882 zogen die Eltern mit ihren kleinen Kindern von Geseke nach Hameln an der Weser. Hier wurde 1883 der jüngste Bruder Ludwig geboren. In Hameln wohnten der Großvater Josua Leszynsky und der Onkel Sally Leszynsky (1845–1917). Carls Vater Samson Stern übernahm die Getreidehandlung des Onkels Sally Leszynsky, der 1882 nach Berlin ging. 1893 starb der Großvater Leszynsky, 1895 die Mutter von Carl Stern und 1898 sein Vater.
Carls Bruder Erich war im Todesjahr der Mutter als Kaufmannslehrling nach Berlin gezogen. Nach dem Tod des Vaters folgten ihm seine Schwester Frida und der Bruder Ludwig ebenfalls in die Hauptstadt Berlin. Es ist unklar, ob Carl Stern bereits mit Erich nach Berlin gezogen war. Er fehlt in den vorhandenen Berichten. Die unverheirateten Geschwister Carl, Erich, Frida und Ludwig wohnten anfangs in der Brückenallee 17, Ecke Holsteiner Ufer nahe der Spree. Die nicht mehr existierende Straße und das durch einen Neubau ersetzte Haus lagen am östlichen Rand des Hansaviertels, heute teilweise die Bartningallee. An der gegenüberliegenden Ecke befand und befindet sich noch immer die in Berlin bekannte „Konditorei Buchwald“. Carl Stern, der sich manchmal mit „K“ schrieb, war der „Haushaltsvorstand“. Er war Bankangestellter geworden. – Der wohlhabende Onkel Sally Leszynsky wohnte zu dieser Zeit in der Bayreuther Straße. Später sollte er ein eigenes Haus in Berlin-Dahlem
besitzen. Das weitere Leben der Geschwister: Frida Stern heiratete 1901 in Berlin den Rechtsanwalt Fritz Levy (1874–1936) und zog mit ihm nach Essen. Erich Stern lebte als Kaufmann und Fabrikant in Berlin. Ludwig Stern studierte Jura in Bonn, promovierte und wurde Rechtsanwalt.
Im Berliner Adressbuch von 1910 ist Carl Stern als Mieter einer Wohnung im dritten Stock des Hauses Elberfelder Straße 15 verzeichnet. – Dies war ein Neubau im bürgerlichen Teil von Moabit und wird seine erste eigene Wohnung nach der Heirat gewesen sein. Carl Stern hatte die am 30. September 1887 in Berlin geborene Therese Stern, genannt Röschen, geheiratet. Sie war die Tochter von Adolf und Mathilde Stern, geb. Markstein. Zum Zeitpunkt der Geburt von Therese war ihr Vater noch Kellner, ein Jahr später war er bereits „Cafetier“ im bekannten Börsen-Hotel in der Burgstraße. Später war Mutter Mathilde Stern die Besitzerin des Hotel-Cafés, danach führte sie ein eigenes Café in der Friedrichstraße.
Das erste Kind von Carl und Röschen Stern, ein Junge, kam 1910 tot auf die Welt. Wenige Jahre später zog das Ehepaar in die Innsbrucker Straße 21. Am 24. Juni 1914 findet sich im Berliner Tageblatt unter den Familienanzeigen eine Annonce, in der Carl Stern und seine Ehefrau Röschen die Geburt von zwei Töchtern anzeigen: Hanna und Hilde, am 19. Juni 1914 geborene Zwillinge.
Während des Ersten Weltkriegs zog die Familie nach Wilmersdorf, in die Mainzer Straße 12, wo sie bis 1933 wohnte.
Carl Stern wurde „Bankvorsteher“ und Mitte der 1920er-Jahre „Bankier“. Dies konnte vieles sein, auch Börsenmakler. Vielleicht hatte er im Café an der Börse seine Ehefrau kennen gelernt? Am 22. Mai 1933 starb Röschen Stern in der Mainzer Straße an einer Lungenentzündung. Sie wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee begraben.
In den folgenden Jahren fehlt der Name von Carl Stern in den Berliner Adressbüchern, er scheint bereits zur Untermiete gewohnt zu haben. Vielleicht bei seiner Tochter Hildegard? Sie war Buchhalterin geworden und wohnte Mitte der 1930er-Jahre in der Rosenheimer Straße 18 in Schöneberg.
Carl Sterns Brüder Erich und Ludwig emigrierten, Erich Stern hatte zuletzt in Berlin, Ludwig Stern in Mannheim gelebt. Seine Schwester Frida und der Schwager Fritz Levy hatten weiterhin in Essen gewohnt und vier Kinder bekommen. Beide waren politisch aktiv, die Schwester in den Vereinen des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung, der Schwager in der SPD. 1933 wurde der Schwager verhaftet, das Ehepaar musste Essen verlassen, Fritz Levy starb 1936 nach langer Krankheit in Wuppertal. Carl Sterns Schwester Frida zog nach Berlin zu Tochter und Schwiegersohn und stand ihnen während einer Haftstrafe bei. Nach dem Ende der Haft 1939 konnte ihre Tochter emigrieren, der Schwiegersohn wurde im KZ ermordet. Frida Levy blieb in Berlin.
Carl Stern zog 1939 in die Güntzelstraße 49 zu Lucie Sarner, die dort schon seit 1935 wohnte. Lucie Sarner heiratete um 1941 Siegfried Zehden. Beide wurden später deportiert und ermordet. Carl Stern musste wieder umziehen. Seit Mitte Mai 1941 wohnte er als Untermieter in einem möblierten Zimmer bei Margarete Glogauer im 2. Stock des Gartenhauses der Kaiserallee 21, der heutigen Bundesallee. Auch das Ehepaar Glogauer wurde deportiert und ermordet.
Seine Schwester Frida wurde am 25. Januar 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet. Sie ist nicht vergessen: In Essen ist 2001 eine Schule nach Frida Levy benannt worden, und in Berlin erinnert seit 2012 ein Stolperstein vor dem Haus Xantener Straße 20 an die Schwester von Carl Stern.
Am 3. Oktober 1942 wurde Carl Stern mit dem „3. großen Alterstransport“ in das Ghettolager Theresienstadt deportiert. Bereits vier Wochen später, am 2. November 1942, ist er dort umgekommen.
Seine Tochter Hildegard, die zuletzt in der Nestorstraße 3 bei dem Kaufmann Samuel Gans wohnte, wurde am 1. März 1943 im Rahmen der „Fabrikaktion“ nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die Tochter Johanna konnte emigrieren. Sie lebte in den 1950er-Jahren, verheiratet mit Dr. Felix Salomon, in Israel.
Quellen:
Arbeitskreis „Jüdische Familien in Geseke“: Juden in Geseke, Beiträge zur Geschichte der Stadt Geseke 10, Geseke 1997
Berliner Adressbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Centrum Judaicum, Grabkartei Weißensee
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Ludger Hülskemper-Niemann: Für Frieden und Gerechtigkeit, Frida und Fritz Levy und ihre Kinder – zwei Essener Biographien, Alte Synagoge Essen (Hg.): Donnerstagshefte über Politik, Kultur und Gesellschaft, Band 12, Essen Dezember 2018
Ludger Hülskemper-Niemann, Frida-Levy-Gesamtschule Essen: Text zum Stolperstein Xantener Straße 20
Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin 1929/30, 1931
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen über ancestry
https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/e-g/718-geseke-nordrhein-westfalen/
https://www.geni.com/people/
Berliner Tageblatt v. 24.6.1914
Gespräche, Informationen und Hinweise:
Friedhelm Budde, Geseke
Ludger Hülskemper-Niemann, Essen
Reinhard Marx, Geseke
Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll