Stolpersteine Kaiserdamm 10

Kaiserdamm 10, 26.1.2012

Heutiger Hauseingang: Kaiserdamm 10

Die Stolpersteine für Walter Jesaias und Evelyn Greve wurden am 22.10.2004 verlegt und von Cornelia und Bernd Greve gespendet.

Der Stolperstein für Martha Mathias wurde am 6.10.2021 verlegt.

Stolperstein für Walter Jesaias Greve, 26.1.2012

Stolperstein für Walter Jesaias Greve

HIER WOHNTE
WALTER JESAIAS
GREVE
JG. 1886
DEPORTIERT 1944
ERMORDET

Stolperstein für Evelyn Greve, 26.1.2012

Stolperstein für Evelyn Greve

HIER WOHNTE
EVELYN GREVE
JG. 1928
DEPORTIERT 1944
ERMORDET

Evelyn Greve 1935 Einschulung in Privatschule

Walter Jesaias Greve und seine Frau Johanna Greve, geb. Danziger, lebten mit ihren beiden Kinder Evelyn, geboren am 1.7.1928, und Ludwig, geboren am 23.9.1924, nach einem Umzug aus der Reichsstraße 2 ab 1935 in einer großbürgerlichen Wohnung am Kaiserdamm 10. Walter Greve war Textilkaufmann und als Ein- und Verkäufer in der Hemdenfabrik Wimpel G.m.b.H. beschäftigt, an der er Geschäftsanteile besaß. 1936 wurde die Firma „arisiert“, sodass er gezwungen wurde, die Beteiligung an der Firma abzugeben. Er konnte aber bis 1938 weiterhin für die Firma arbeiten. Ohne Vorankündigung wurde Walter Greve entlassen und während des Novemberpogroms bis Ende Dezember 1938 im Konzentrationslager Sachsenhausen festgehalten. Nachdem ein großer Teil der Verwandtschaft seiner Frau bereits Deutschland verlassen hatte, bemühte sich ab 1939 auch Walter Greve um eine Ausreise in die USA oder nach Bolivien.

Familie Greve 1935 auf dem Balkon Kaiserdamm 10

Im Mai 1939 gelang es schließlich, ein Einreisevisum für Kuba zu erlangen und die Familie konnte nach dem Verkauf ihres Hab und Guts auf der MS „St. Louis“ in Hamburg einschiffen. Am 27. Mai 1939 wurde Havanna erreicht, aber den 937 Flüchtlingen wurde die Einreise verweigert. Nach erfolglosen Verhandlungen mit den kubanischen Behörden musste der HAPAG-Dampfer am 2. Juni die Reede in Havanna verlassen und versuchte eine Landung an der Küste vor Miami in Florida. Nach erfolglosen Verhandlungen jüdischer Organisationen mit den USA und anderen Staaten zwang ein Patrouillenboot der US-Küstenwache die St. Louis zur Rückkehr nach Antwerpen. Die Familie Greve konnte sich durch die Weiterreise in das (noch) sichere Frankreich retten, wo sie am 20. Juni in Boulogne-sur-Mer ankam. Die Irrfahrt der St. Louis ist vielfach dokumentiert und wurde von Bernt Engelmann auch literarisch verarbeitet („Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum“).

Während Evelyns älterer Bruder Ludwig in einem Kinderheim der OSE (Organisation pour la Santé et Éducation) unterkam, lebte sie selbst mit ihren Eltern zunächst in einem Hotel, dann in einer Wohnung in Paris. Nach dem Kriegsbeginn mit Frankreich wurden die Flüchtlinge zu „feindlichen Ausländern“ erklärt. Walter Greve wurde zusammen mit seinem aus dem Konzentrationslager Buchenwald entlassenen und nach Frankreich geflüchteten Bruder Ernst in einem Arbeitslager in Bordeaux und später Grenoble inhaftiert. Evelyn und ihre Mutter konnten sich, zusammen mit der inzwischen auch nach Frankreich geflüchteten Großmutter, weiterhin in Paris vor den französischen Behörden verbergen. Im Juni 1940 gelang es der Familie, nach der Entlassung von Walter Greve aus dem Arbeitslager, sich in das noch nicht besetzte Südfrankreich durchzuschlagen. Im Juni 1941 ist die Familie Greve formell aus Deutschland ausgebürgert worden.

Evelyns Bruder Ludwig konnte in dem noch unbesetzten Südfrankreich vor einer Razzia der französischen Behörden aus dem Kinderheim Montinin flüchten und schloss sich 1942 unter dem Namen Louis Gabier der jüdischen Widerstandsbewegung um Jean-Jaques Rein an.
Evelyn lebte währenddessen mit ihren Eltern und weiterer Verwandtschaft in einem kleinen Bergdorf in der Nähe von Marseille. Nachdem der Bruder von Walter Greve mit Familie verhaftet und in den Osten deportiert wurde, flüchteten die Eltern mit Evelyn, unterstützt von einem italienischen Kohleminenarbeiter, in eine Berghütte in der Nähe von Forcalquier, wo Ludwig Greve seine Familie wiederfand. Er konnte im Februar 1942 seine Eltern und die Schwester nach St.-Martin-Vésubie, einem kleinen von Italien besetzten Dorf an der Grenze zum Piemont, bringen. Hier stand Familie Greve zunächst unter dem Schutz der italienischen Besatzungsmacht, musste aber am 9. September 1943, nach der Besetzung der von den Italienern okkupierten Gebiete durch die deutschen Faschisten, über die Seealpen nach Italien flüchten. Sie kamen in San Michele (Provinz Cuneo) in einem Stall des italienischen Bauern Lorenzo Oliviero unter, der sie verbarg und über den Winter brachte. Die Mutter wurde durch Granatsplitter schwer, Walter Greve leicht verletzt, als im Januar 1944 deutsche Truppen nach Partisanenaktionen der Italiener die Bergdörfer unter Beschuss nahmen.

Evelyn Greve 1938 am Lietzensee

Nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 wurde Nord- und Mittelitalien von deutschen Truppen besetzt und die Verfolgung und Deportation von Juden auf die besetzten Gebiete ausgedehnt. Den Verhaftungen, die italienische Carabibieri im Auftrag der deutschen Besatzungsmacht vornehmen, konnte sich die Familie Greve nur knapp entziehen. Im Januar wurde die Familie von der italienischen Polizei aufgefordert, sich zur Ausgabe italienischer Papiere in Borgo San Dalmazzo (Piemont) zu melden. Als sich Walter Greve gemeinsam mit seiner 15-jährigen Tochter in der Polizeistation einfand, wurden er und das Kind verhaftet. Beide wurden mit einer Vielzahl weiterer Juden in das Lager Fossoli bei Modena und von hier weiter in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht.
Primo Levi, der mit demselben Transport deportiert wurde, beschreibt die Reise in dem Buch „Ist das ein Mensch?“.
Walter Greve und seine Tochter Evelyn wurden nach einer sechsjährigen Odyssee durch den Atlantik und Europa, 14 Monate vor dem Ende der Barbarei, am 26. Februar 1944 von der Rampe in Auschwitz-Birkenau in das Gas geschickt.

Der Sohn Ludwig konnte mit Hilfe katholischer Geistlicher seine schwer verletzte Mutter auf einer dramatischen Flucht über die Berge des Piemont vor der Verhaftung retten. Er verhalf seiner Mutter zu der lebensnotwendigen Operation und brachte sie in Lucca im Kloster St. Zita unter. Ludwig überlebte ebenfalls in Lucca in einem Priesterseminar, wo er als „Sekretär“ des Erzbischofs im Bischöflichen Ordinariat besonderen Schutz genoss.

Walter und Evelyn Greve vermutlich um 1940 in Frankreich

Ludwig Greve ist nach kurzem Aufenthalt in Palästina 1950 nach Deutschland zurückgekehrt. Er hat mit seiner Familie in Stuttgart gelebt, war Leiter der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar und bedeutender Lyriker und Prosaist. Unter anderem war er Stipendiat der Villa Massimo (1958), erhielt den Stuttgarter Literaturpreis (1988) und posthum den Peter-Huchel-Preis (1992). Ludwig Greve ist 1991 vor Amrum ertrunken.

Johanna Greve (zum zweiten Mal verheiratet mit Mosche Efraim Berger) ist nach langer Emigration in Israel 1972 nach Deutschland zurückgekehrt und am 12.10.1974 in einem jüdischen Seniorenheim in Köln verstorben.

Text: Cornelia und Bernd Greve, Berlin
Quellen:
Ludwig Greve: Wo gehörte ich hin? Geschichte einer Jugend. Reinhard Tgahrt (Hrsg.), S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-10-027806-2
Ludwig Greve: Die Gedichte. Reinhard Tgahrt und Waltraud Pfäfflin (Hrsg.). Mit einem Nachwort von Harald Hartung, Mainzer Reihe Neue Folge (Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz) Band 3. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. ISBN 3-89244-931-7

Ludwig Greve: Autobiographische Schriften und Briefe. Friedrich Pfäfflin und Eva Dambacher (Hrsg.). Mit einem Essay von Ingo Schulze 3 Bde. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. ISBN 978-3-8353-1216-6

Jutta Salchow: Ludwig Greve Bibliographie 1952 bis 1993. Eigenverlag, Marbach am Neckar 1994
Uwe Pörksen: Ein Januartag im Gebirge. Ludwig Greve antwortet Paul Celan. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2006. ISBN 3-515-08833-4

Gordon Thomas und Max Morgan-Witts: Das Schiff der Verdammten. Die Irrfahrt der St. Louis (Originaltitel: Voyage of the Damned). Deutsch von Helmut Kossodo. Edition Bergh und WMP-Verlagsauslieferungsdienst, Tübingen und Zug (Schweiz) 1976. ISBN 3-88065-044-6

Bernt Engelmann: Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 1988. ISBN 3-499 122 12

J.M.G. Le Clézio: Fliehender Stern, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. ISBN 978-3-462-04118-7
Primo Levi: Ist das ein Mensch?/Die Atempause, Hanser, München 2011. ISBN 978-3-446-23744-5

Stolperstein für Martha Mathias

HIER WOHNTE
MARTHA MATHIAS
JG. 1887
DEPORTIERT 25.1.1942
RIGA
ERMORDET

Martha Mathias wird am 30. September 1887 in Pasewalk als viertes von insgesamt sechs Geschwistern geboren. Ihre Eltern sind der Pasewalker Kaufmann Julius Mathias und seine Frau Karoline (geb. Asch), die aus der Stadt Posen (Poznań) stammt.

Als sich der Vater nach dem wirtschaftlichen Niedergangs seines Geschäfts und der zunehmenden Verschlechterung seines Gesundheitszustands im Jahre 1901 das Leben nimmt, ist Martha 14 Jahre alt. Ihre beiden älteren Schwestern Klara und Betty finden in Berlin eine Anstellung bei Tietz bzw. Wertheim, und so zieht die ganze Familie nach Berlin. Im ersten Jahr wohnen sie vorübergehend bei dem bekannten Sozialdemokraten Eduard Bernstein, der mit einer Cousine von Marthas Mutter verheiratet ist. Martha erhält eine erste Ausbildung in einem Mädchenheim für hochgestellte Familien, verarmten Adel und begabte jüdische Mädchen. Die Familie bezieht – nach weiteren Zwischenstationen – im Jahre 1913 eine geräumige Fünf-Zimmer-Wohnung in der Kreuzberger Müllenhoffstr. 18, wo ein enger Zusammenhalt untereinander gepflegt wird. Die Mutter braucht nie einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen und nachdem vier Geschwister verheiratet sind, bleiben Martha und ihr Bruder Georg ledig, um ihre Mutter – nicht nur finanziell – unterstützen zu können. Martha ist in der Berliner Handelsagentur einer englischen Firma angestellt und dort ab circa 1918 als Prokuristin tätig.

Im Jahre 1917 bezieht Martha die Wohnung am Kaiserdamm 10 in Berlin-Charlottenburg. Die Wohnung lag im Parterre des Quergebäudes und hatte drei Zimmer.
Ende der dreißiger Jahre verbringt sie eine kurze Zeit bei ihrem nach Südafrika ausgewanderten Bruder Sigmund. Aller Warnungen zum Trotz kehrt sie jedoch zurück, um die Mutter, die seit 1932 im Altersheim wohnt, nicht alleine zu lassen. Bruder Georg ist mittlerweile ins Exil nach Shanghai geflüchtet.

Spätestens seit 1939 war Martha gezwungen, einen Untermieter bei sich aufzunehmen. Nachdem 1939 die Firma, in der sie jahrelang als Prokuristin tätig war, liquidiert worden war, arbeitete sie zuletzt bei der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums in Berlin-Schöneberg. Einen Monat vor ihrer Deportation, Ende Dezember 1941, war sie aufgefordert worden, eine Vermögensaufstellung anzufertigen. Die verbliebenen Bankguthaben und ermittelten Rückkaufswerte der angegebenen Versicherungen wurden später durch die Oberfinanzkasse Berlin-Brandenburg beschlagnahmt.

Am 25. Januar 1942 befindet sich Martha Mathias unter den 1.000 ausschließlich Berliner Juden, die mit dem 10. Osttransport nach Riga deportiert werden. Auf den Transportlisten wird sie, zu diesem Zeitpunkt 54-jährig, unter der laufenden Nummer 256 mit ihrer langjährigen Anschrift, Kaiserdamm 10, geführt.

Am Ende der fünftägigen Fahrt im Deportationszug, dessen Waggons fast gänzlich ungeheizt sind, gibt es bereits viele Erfrorene. Zum Teil steif gewordene, geistig verwirrte und vor allem angsterfüllte Menschen müssen die Waggons verlassen und kilometerweit bis ins Ghetto laufen, wo teils katastrophale Zustände auf sie warten.

Fünf Tage nach der Ankunft des Transports, am 5. Februar 1942, wurde die erste so genannte Dünamünde-Aktion durchgeführt. Hierbei wurde Juden aus den Berliner und den Wiener Transporten, die im Ghetto (noch) keine Arbeit hatten und deren bisheriger Beruf im Ghetto nicht gebraucht wurde, die Verlegung in eine Konservenfabrik vorgetäuscht. Ziel war, jede Form von Panik zu vermeiden. Tatsächlich wurden die Betroffenen jedoch mit Lastwagen in den Biķernieki-Wald gefahren, um dort ermordet zu werden. Eine weitere solche Aktion erfolgte am 15. März. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Martha einer dieser beiden Massenliquidationen (insgesamt 3.400 Juden, darunter 1.700 aus Berlin) zum Opfer gefallen.

Marthas Mutter Karoline Mathias geb. Asch wurde am 17. August 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort zehn Tage darauf am 27. August. Georg Mathias, Marthas Bruder, konnte zwar nach Shanghai flüchten, kam aber dort im Ghetto am 12. Januar 1945 ums Leben. Auch Marthas Schwester Blanka, ihr Mann Kurt Rosenthal und die Töchter Eva und Ursel wurden Opfer der Shoa. Für sie liegen Stolpersteine in Friedrichshagen vor dem Haus Josef-Nawrocki-Straße 12.

Autor: Shenja Leiser

Quellen: Berliner Adressbuch für das Jahr 1917, S. 1854.
Thomas Freier: Statistik des Holocaust. URL: http://statistik-des-holocaust.de/list_ger_ber_ot10.html. Letzter Zugriff: 12.08.2017.
Wolfgang Scheffler und Diana Schulle: Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden. Sauer, München 2003
Gertrude Schneider: Reise in den Tod. Deutsche Juden in Riga 1941 – 1944. Laumann, Dülmen 22008, S. 89f., 103f.
Gerhard Mursinsky: Warum ich nicht Ingenieur geworden bin. Berliner Erinnerungen. Hrsg.: Wolfgang Mursinsky und Werner Türk. Hentrich & Hentrich, Berlin 2011.