Als Martha Marie Salomon mit ihrem Mann, dem Unternehmer Alfred Michaelis Salomon, den beiden Kindern Irmgard und Horst Dietrich und dem Familienhund Blacky im November 1937 in die Niederlande floh, sollte dies nur eine Zwischenstation sein. Zunächst hatte man die Absicht, nach Argentinien auszuwandern, wie es der Geschäftspartner ihres Mannes und kurzzeitige Nachbar, der in der Aßmannshauser Straße 11 a wohnende Walter Kaminsky, bereits getan hatte.
Alfred Michaelis Salomon konnte sich nicht vorstellen, so fern von der Heimat zu sein. Die Familie blieb in Amsterdam, wohnte in der Amstelkade 127/I und vertraute auf die Neutralität der Niederlande. „Nach der Invasion im Mai 1940 wurde es der Familie Salomon klar, was zu erwarten war. Jedoch, weil Alfred Salomon ein Kriegsveteran war […], hoffte er darauf, dass ihn und seine Familie ein milderes Schicksal treffen würde.“ So erinnert sich Adriaan van Ginkel heute.
Die Salomons wohnten im ersten Stock in der Amstelkade 127/I, im Erdgeschoss lebte die Familie van Ginkel. Evert Johannes van Ginkel (1890–1965), seine Frau Marijtje van Ginkel, geb. Kraaier (1893–1978), und ihr Sohn Charles N.O.H. van Ginkel (1923–2012). Keiner wird damals beim Einzug der Salomons geahnt haben, wie eng die beiden Familien miteinander verbunden sein würden. Charles van Ginkel begleitete Alfred Michaelis Salomon oft bei Spaziergängen: „Herr Salomon mit Judenstern und mein Vater fünf Schritte hinter ihm“, wie Adriaan van Ginkel, der Enkel von Evert Johannes und Marijtje van Ginkel, erzählt.
„In der Nacht der Deportation der Kinder Salomon, die im Monat Juli 1942 stattgefunden haben muss und die nach der Sperrzeit stattfand, erzählte mein Vater mir, dass das Geschrei und das Heulen der Mutter Salomon ohrenbetäubend gewesen war und dass mein Vater sich im Bett das Kissen über den Kopf zog, um sich das nicht anhören zu müssen.“
Weiter berichtet Adriaan van Ginkel: „Es wird Anfang 1943 gewesen sein, die Razzien und Deportationen waren in vollem Gange. Das Ehepaar Salomon war nach der Sperrzeit zu Besuch bei meinen Großeltern. Es wurde an der Tür geklingelt, und es standen zwei niederländische Hilfspolizisten (wegen der Uniform die ,Schwarze Polizei‘ genannt) vor der Tür und erklärten, dass sie das Ehepaar Salomon mitnehmen wollten. Mein Großvater ließ die Polizei ins Wohnzimmer, rannte in die Wohnung der Salomons und kam mit der Schatulle, die alle Kriegsmedaillen von Alfred Salomon enthielt, wieder zurück und schmiss den ganzen Inhalt auf den Tisch. Inmitten der vielen Orden waren das Eiserne Kreuz Erster und Zweiter Klasse mit dabei. Die Polizisten erkannten das Eiserne Kreuz und zogen den Schluss, dass hier etwas nicht stimmte. Die zwei überlegten und erklärten dann, in ihrer Liste den Vermerk zu machen, dass sie die Familie Salomon nicht in der Wohnung angetroffen hätten. Die beiden
Hilfspolizisten verließen die Wohnung meiner Großeltern und nahmen die Salomons nicht mit. Kurz darauf hat Martha Salomon beschlossen, da deutlich geworden war, dass weder sie noch ihr Mann gesucht werden, den Judenstern von ihrem Mantel zu trennen, und begab sich so auf die Straße. Es dauerte nicht lange, bis sie von jemandem erkannt wurde. Martha Salomon wurde verhaftet. Weil Alfred Salomon seiner Frau nah sein wollte, begab er sich zur örtlichen Dienststelle und stellte sich. Mein Vater begleitete Alfred Salomon dorthin und wurde Zeuge des Kommentars eines SD Mannes, der meinte: Sie sind aber ein guter Jude.“
Vom 11. März 1943 bis zum 1. Februar 1944 waren die Eheleute Salomon gemeinsam im Sammellager Westerbork interniert, bevor beide nach Bergen-Belsen gebracht wurden.
Am 10. April 1945, ein paar Tage nachdem ihr Ehemann gestorben war, wurde Martha Marie Salomon von Bergen-Belsen aus mit Ziel Theresienstadt deportiert. Sie erinnerte sich: „Auch ich gehörte zu den Lagerinsassen, die im April 1945 in Bergen-Belsen auf Transport gestellt wurden. Der Zug [später bekannt geworden als der „Verlorene Zug“, Anm. der Verfasserin], in dem ich mich befand, wurde am 24. April von den Russen in Troebitz befreit.“
Im Herbst 1945 war sie wieder in Amsterdam. Evert Johannes van Ginkel bat die Polizei, dafür zu sorgen, dass Martha Salomon wieder in ihre Wohnung ziehen konnte, die bis dato noch „von einer Gruppe Wehrmachtssoldatinnen und einer NSB-Familie“ bewohnt war, wie Adriaan von Ginkel schreibt. Seine Großeltern hatten einigen Hausrat und letzte Besitztümer der Familie Salomon retten können und halfen „der kleinen, mageren Frau mit einem Pappkoffer“ dabei, sich wieder einzurichten und anzukommen.
In den folgenden Jahren bemühte sich Martha Marie Salomon um Wiedergutmachung. Sie musste Beweise antreten, Zeugen benennen, Dokumente und Atteste von Ärzten vorlegen und sich immer wieder erinnern. Trotz der geringen Geldmittel, die ihr zum Leben zur Verfügung standen, unterstützte sie ihre Schwester Käthe Nastri, verw. Bernhardt, geb. Abrahamowsky.
Adriaan van Ginkel erinnert sich „an Frau Salomon als eine fröhliche, aufgeräumte Dame, die immer mit einem breiten Lächeln und mit Schokoladenriegeln am oberen Ende der Treppe bereitstand, wenn ich vorbeikam. Die letzten sieben Gulden, die sie mir kurz vor ihrem Tod gab, bewahre ich in einer Dose auf, die bis heute auf meinem Nachttisch steht.“
Mit 85 Jahren starb Martha Marie Salomon, geb. Abrahamowsky, in den Abendstunden des 12. September 1971 in Amsterdam.
Biografie erstellt von Elke Beibler, Stolpersteinintiative Tempelhof-Schöneberg
Quellen: ancestry, Bundesarchiv, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Entschädigungsamt (Labo) Berlin, Adriaan van Ginkel (Venezuela), ITS Arolsen, Jewish Cultural Quarter (Niederlande), Landesarchiv Berlin