Stolpersteine Schlüterstr. 31

Hausansicht Schlüterstr 31

Diese Stolpersteine wurden am 6. Mai 2024 verlegt.

Stolperstein Emanuel Emil Jacobsohn - Schlüterstr. 31

HIER WOHNTE
EMANUEL EMIL
JACOBSOHN
JG. 1877
DEPORTIERT 9.9.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 5.10.1942

Stolperstein Käthe Else Jacobsohn - Schlüterstr. 31

HIER WOHNTE
KÄTHE ELSE
JACOBSOHN
GEB. BLUMENFELD
JG. 1886
DEPORTIERT 9.9.1942
THERESIENSTADT
´FREIHEITSTRANSPORT`
5.2.1945 SCHWEIZ

Emanuel (Emil) Jacobsohn kam am 30. März 1877 in Berlin als Sohn des Fabrikanten Eduard Jacobsohn und seiner Frau Emilie, geb. Lisser, zur Welt. Eduard Jacobsohn betrieb eine 1872 gegründete Fabrik für Karton und Musterkarten in der Schillingstraße 12-14, die Familie wohnte in der Blumenstraße 24. Hier kam auch 1879 Emils Bruder Siegfried zur Welt. Als 1884 der zweite Bruder, Paul, geboren wurde, lebten Jacobsohns in der Prenzlauer Straße 46. Drei Mädchen gehörten ebenfalls zur Familie: Rosa, geboren am 8. November 1881, Elsbeth (Else) im Jahr davor, und Johanna, ihr Geburtsdatum ist nicht bekannt.

Eduards Fabrik florierte, er konnte das Gebäude Landwehrstraße 11 erwerben und 1886 dort seine Fabrik unterbringen. Rund zehn Jahre später war er in der Lage, auch das Haus Siegmundshof 14 (später in Nr. 13 umnummeriert) kaufen zu können. In ihm sollte er fortan wohnen, auch Emil wohnte dort – nun mit einem eigenen Eintrag im Adressbuch. Ebenfalls in dem Haus registriert sind die Tochter Johanna sowie ihr Ehemann Gustav Mayer. Außer diesen beiden Grundstücken besaß Eduard einer Ziegelei bei Zehdenick, registriert unter dem Firmennamen „Eduard Jacobsohn sen.“

Emanuel, der sich später immer Emil nannte, hatte das Gymnasium in Neuruppin mit dem Realschulabschluss verlassen, danach für ein Jahr ein fremdsprachliches Pensionat in Genf besucht, und anschließend eine 3-jährige technische und kaufmännische Lehre in der Kartonfabrik des Vaters in Berlin absolviert. Mit dieser Ausbildung konnte er 1902 in den väterlichen Betrieb als Gesellschafter eintreten. Am 5. Januar 1905 heiratete er die neun Jahre jüngere Käthe Blumenfeld.

Käthe Else Blumenfeld war am 17. Januar 1886 in Neuruppin als Tochter des Kaufmanns Hermann Blumenfeld und seiner Frau Cäcilie geb. Meyer geboren worden. Käthe hatte zwei ältere Brüder, Walter, der ein renommierter Psychologe in Dresden und Peru wurde, und Fritz, später Anwalt und Notar in Berlin. Hermann Blumenfeld zog um die Jahrhundertwende in die Hauptstadt. Auch er war Ziegeleibesitzer und außerdem Mitinhaber der um 1875 gegründeten Firma „H. Herzberg, Stein- und Kohlenhandlung en gros“ mit Sitz in der Joachimsthaler Straße 7/8. Dies war auch die Wohnadresse der Familie Blumenfeld. Deren Ziegelei befand sich in Marienthal, an ihr war auch Blumenfelds Kompagnon Hermann Herzberg bzw. dessen Witwe beteiligt. Ein weiterer Gesellschafter der Firma “H. Herzberg” war Gustav Mayer, Ehemann von Johanna Jacobsohn und daher späterer Schwager von Käthe, der seit 1901 auch seine eigene Firma „Mayer & Co, Mauersteine“ hatte – an der wiederum Hermann Blumenfeld beteiligt war. Die Ziegeleien “Jacobsohn sen.”, “Herzberg”, “Blumenfeld & Herzberg” lagen alle im Umfeld von Zehdenick. Für alle drei galt als Büroadresse die Joachimsthaler Straße 7/8 in Berlin. Die Firmen “H. Herzberg” und “Gustav Mayer & Co” waren offenbar für den Vertrieb der Ziegeleierzeugnisse zuständig. Gut möglich, dass Käthe und Emil sich über Geschäftsbeziehungen ihrer Eltern oder Emils Schwager kennen lernten.

Das junge Paar bezog gleich nach der Heirat eine Wohnung in der Schlüterstraße 31 (vor der Umnummerierung 1911 noch Nr. 28). Am 10. Mai 1906 brachte Käthe eine Tochter zur Welt, die sie Margarete Charlotte nannten. Sie starb jedoch in ihrem 4. Lebensjahr. Ilse, die zweite Tochter, wurde im Dezember 1910 geboren. Schließlich bekamen sie im Januar 1913 noch eine Tochter, Anni.

Emils Bruder Siegfried war bereits 1906 gestorben, der Vater Eduard Jacobsohn folgte ihm 1910. In seinem Testament hatte Eduard festgelegt, dass die Firma mit seinem Namen in Familienbesitz bleiben sollte. Emil führte sie weiter, 1915 wurde auch sein Bruder Paul Gesellschafter. Käthe erhielt Prokura. Das Geschäft lief gut, Emil und Paul kauften andere Firmen auf – z.B. die “Alfred Preussen Nachf.” – die sie ihrer Firma einverleibten. Sie beschäftigten bis zu 300 Arbeiter. Das Grundstück in der Landwehrstraße, auf dem in den Hinterhöfen die Fabrik stand, umfasste drei Wohnhäuser, Landwehrstraße 11-13, was einige Mieteinnahmen brachte. Mit zunehmender Mechanisierung der zunächst hauptsächlich von Hand hergestellten Produkte wurden nach und nach Räume im Fabrikgebäude frei, die ebenfalls an andere Firmen vermietet wurden (heute existiert die Landwehrstraße nicht mehr, sie fiel 1967 der Bebauung zwischen Katharinen- und Mollstraße zum Opfer).

Emil genoss innerhalb der Branche einiges Ansehen. Er war Vorsitzender des Deutschen Kartonfabrikanten Vereins, Mitglied dessen Tarifkommission, Vereidigter Sachverständiger der Kartonagenbranche, und er war Mitglied der Loge Berthold Auerbach – B’nai B’rith. B’nai B’rith ist eine 1843 gegründete und auch heute wieder existierende jüdische Organisation zur Förderung von Toleranz, Humanität und Wohlfahrt und zur Aufklärung über das Judentum und Erziehung innerhalb des Judentums.

Käthe ihrerseits erbte nach dem Tode ihres Vaters 1912 mit ihren Brüdern Walter und Fritz Hermann Blumenfelds Beteiligung an der Firma “H. Herzberg”, die die Ziegeleien “Herzberg” und “Blumenfeld & Herzberg” miteinschloss. Käthes Anteil betrug 15% dieses Betriebs. Um die Geschäfte kümmerten sich die Brüder und Gustav Mayer mit seinem Sohn Herbert. Zu dem guten Einkommen Emils kamen also noch beträchtliche Einnahmen aus Käthes Erbe. Sie führte ein großes Haus mit viel Personal und jährlich konnte die Familie Vergnügungsreisen unternehmen. Sorgen bereitete aber die Tochter Anni, die seit dem 8. Lebensjahr an einer schweren Blutkrankheit litt.

Mit Beginn der offiziellen Diskriminierung von Juden unter den Nationalsozialisten fielen zwar einige Kunden der Firma “Eduard Jacobsohn” fort, der Betrieb hatte aber weiterhin noch gut zu tun, vermutlich dank seines guten Rufes. Auch die Ziegeleien und der Mauersteinvertrieb der Firma “H. Herzog” hatten nur geringe Einbußen zu verzeichnen, da gerade in dieser Zeit viel Baumaterial benötigt wurde. 1938 jedoch bekamen die Besitzer beider Firmen die Auflage, ihre Betriebe an Nichtjuden zu verkaufen. Dies gestaltete sich in beiden Fällen als kompliziert und langwierig, da Betriebsteile getrennt verkauft werden mussten. So wurde z. B. die Firma „Eduard Jacobsohn“ an einen Herrn Bleymüller, das Grundstück Landwehrstraße 11-13 aber an einen Herrn Haase verkauft. Auch wurden bereits geschlossene Verträge mitunter von den NS-Behörden nicht genehmigt und man musste einen neuen Käufer suchen. Die Verkaufssummen waren, wie nach dem Krieg festgestellt wurde, weit unter Wert festgelegt und teilweise auch nicht vollständig bezahlt worden. Zudem mussten die Überweisungen auf ein Sperrkonto erfolgen und das Geld gelangte – wie so oft – nie in die Hände der jüdischen Verkäufer. Außerdem klagten die Mieter der Landwehrstraße auf Schadenersatz wegen einer defekten Heizung, eine Klage, die der neue Besitzer an Emil und Paul Jacobsohn weiterreichte und die sich über Jahre hinzog.

Die Beträge, die die Jacobsohns unter den Nationalsozialisten für ihren Lebensunterhalt abheben durften, waren gering bemessen, und sie mussten daher Einrichtungsgegenstände verkaufen. Dazu kamen die Kosten für Annis Behandlung, eine Milzoperation hatte auch keine Besserung gebracht. Es gelang Emil und Käthe, Anni im Juli 1939 nach Lima zu ihrem Onkel Walter Blumenfeld zu schicken, in der Hoffnung, dass sie dort besser versorgt wäre. Walter Blumenfeld hatte seit 1913 an der Technischen Hochschule Dresden gelehrt, war aber 1934 als Jude entlassen worden und bereits 1935 nach Peru emigriert. Auch Emils und Käthes Tochter Ilse hatte früh, schon 1933, Deutschland verlassen und sich in Frankreich niedergelassen. Nach dem Einmarsch der Deutschen war sie dort in den Untergrund gegangen.

Am 1. September 1942 – der Schadensersatzprozess lief noch – erhielt Emil ein Schreiben der Jüdischen Kultusvereinigung mit der Ankündigung seiner für den 9. September „behördlich angeordneten Abwanderung“ nach Theresienstadt. Am 7. September werde seine Wohnung versiegelt, er und Käthe hätten sich bereit zu halten, sie würden in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 gebracht. Vorher sollten sie ihr Gepäck (1 Koffer, 1 Rucksack) bei der Kleiderkammer Pestalozzistraße 14/15 abgeben.

Im Sammellager, gleich am 7. September, mussten sie eine 16-seitige „Vermögenserklärung“ ausfüllen, tags darauf erhielten sie die Verfügung, dass ihr gesamter Besitz „eingezogen“ sei. Da hatte es nur noch symbolischen Charakter, dass sie am 9. September, dem Tag der Deportation, zu einem „Heimeinkaufsvertrag“ gezwungen wurden. Solche Verträge mussten auf Geheiß der Gestapo deutsche Juden, die in das „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert werden sollten, mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland schließen. Darin verpflichtete man sie auf hohe Vorauszahlungen und Abgaben, in Emil und Käthe Jacobsohns Fall fast 170.000 Reichsmark. Das Geld sollte auf ein „Sonderkonto H“ auf den Namen der Kultusvereinigung überwiesen werden. Verfügen konnte die Vereinigung über diese Vermögenswerte allerdings nicht, sie fielen später dem Reichssicherheitshauptamt zu. Im Gegenzug wurde den Menschen lebenslange kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und Krankenversorgung zugesagt – blanker Hohn in Anbetracht der tatsächlichen elenden Bedingungen, die sie erwarteten. Denn im angeblichen „Altersghetto“ Theresienstadt herrschten Hunger, Kälte, hoffnungslose Überfüllung, schreckliche Hygieneverhältnisse, Krankheit und Seuchen.

Emil Jacobsohn ging bald an diesen Lebensumständen zugrunde. Er starb am 5. Oktober 1942 um 20 Uhr 15, offiziell an einer Lungenentzündung. Käthe wurde zur Zwangsarbeit herangezogen, 10 Stunden am Tag musste sie Patronenschachteln am Laufband herstellen. Da diese Arbeit als kriegswichtig galt, gelang es ihr mehrmals, in letzter Minute, aus einem Transport nach Auschwitz zurück reklamiert zu werden. So war sie noch am Leben, als im Februar 1945 ein Transport von 1200 Juden in die Schweiz – in die Freiheit – zusammengestellt wurde. Sie hatte das Glück dazuzugehören. Die Befreiung hatte, im Auftrag der jüdisch-orthodoxen Familie Sternbuch, der Schweizer Alt-Bundesrat Jean-Marie Musy verhandelt, der Kontakte zu Himmler unterhielt. Himmler sollte dafür eine Million Dollar bekommen, die er allerdings laut Neue Zürcher Zeitung nicht mehr erhielt. Eigentlich sollten noch weitere Transporte folgen, doch legte Hitler persönlich sein Veto ein.

So kam Käthe in das Auffanglager Engelberg in der Schweiz, wo sie bis Ende Januar 1946 blieb. Dann gelang es ihr, zu ihrem Bruder und ihrer Tochter Anni nach Peru auszuwandern. Anni starb jedoch nach mehreren Operationen Ende Dezember desselben Jahres. Später zog auch Ilse von Paris nach Lima. Käthe starb dort 1974.
Von Emils Geschwistern überlebte nur Rosa, die 1939 mit ihrem Mann Isidor Goldschmidt nach Palästina flüchten konnte. Johanna war schon vor 1910 verstorben, Else 1942, offenbar nicht in der Deportation, da sie in keinem Gedenkbuch verzeichnet ist. Paul Jacobsohn war schon 1938 für kurze Zeit in Sachsenhausen in „Schutzhaft“ genommen worden und wurde schließlich mit seiner Frau Hilde – wenige Wochen nach Emil und zwei Tage vor dessen Tod am 3. Oktober 1942 – ebenfalls nach Theresienstadt deportiert. Paul starb dort am 29. Mai 1943, Hilde wurde am 18. Dezember 1943 weiter nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Käthes Bruder Fritz Blumenfeld kam ebenfalls in der Shoa um. Er flüchtete nach Frankreich, wurde aber nach Kriegsausbruch als „feindlicher Ausländer“ interniert und schließlich den Nazis ausgeliefert. Von Drancy aus wurde er am 9. September 1942 nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht. Auch seine erste Ehefrau Edith, geb. Lewy, war nach Frankreich geflohen. Nach der Besetzung durch die Deutschen versuchte sie, in die Schweiz zu gelangen, wurde aber aufgegriffen und ebenfalls ausgeliefert. Sie wurde am 4. November 1942 ebenfalls von Drancy aus nach Auschwitz deportiert. Ihr Todesdatum wie auch das von Fritz Blumenfeld ist nicht bekannt.
Für Paul und Hilde Jacobsohn liegen Stolpersteine vor der Duisburger Straße 15, für Fritz und Edith Blumenfeld vor dem Haus Bundesplatz (früher Kaiserplatz) 2. Auch für Walter und Margarete Blumenfeld, die rechtzeitig flüchten konnten, liegen Stolpersteine in Dresden, vor der Bayreuther Straße 4.
Nach dem Krieg meldeten Käthe Jacobsohn und die Töchter von Paul Jacobsohn und Fritz Blumenfeld etliche Entschädigungs- und Wiedergutmachungsansprüche an. Besonders bezüglich der beiden Firmen “Eduard Jacobsohn” und “H. Herzberg” gestaltete sich das umständlich. Es fanden langwierige Auseinandersetzungen mit den einstigen „Arisierern“ statt, die letztlich jeweils mit einem eher niedrigen Vergleich endeten.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Arolsen Archives; https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/; Mapping the Lives (https://www.mappingthelives.org/); Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; Vorrecherchen Robert Schäfer.
Stolpersteine für die Geschwister: https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/stolpersteine/denksteine/artikel.1223766.php und artikel 179700.php; https://tu-dresden.de/mn/psychologie/die-fakultaet/news/stolpersteine-for-dresden-psychology-professor-walter-blumenfeld-and-his-wife-margarete-blumenfeld

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf

  • Käthe Jacobsohn 1945.

    Käthe Jacobsohn 1945.

  • Emil Jacobsohn

    Emil Jacobsohn

  • Briefkopf Firma Eduard Jacobsohn

    Briefkopf Firma Eduard Jacobsohn

  • Emanuel Emil Jacobsohn - Heimeinkaufsvertrag

    Heimeinkaufsvertrag

Stolperstein Hans Pinner - Schlüterstr 31

HIER WOHNTE
DR. HANS
PINNER
JG. 1887
DEPORTIERT 6.3.1943
AUSCHWITZ
ERMORDET 8.3.1943

Hans Pinner wurde am 20. März 1887 in Stargard in Pommern als ältester Sohn des Kaufmanns Max Pinner und seiner Ehefrau Margarethe, geb. Ascher, geboren. Sie wohnten in der Pyritzer Straße 7. Sein Vater Max arbeitete vermutlich in der Firma seines Vaters „Joseph Pinner, Häute und Felle“, die er später übernahm, nachdem der Vater sich zur Ruhe gesetzt hatte. Die Firma hatte ihren Sitz in der Holzmarktstraße 40. Dort wohnte auch die Familie, als 1896 der neun Jahre jüngere Bruder Ernst zur Welt kam. Hans machte das Abitur in Stargard und studierte anschließend Medizin. Sein Staatsexamen legte er 1911 an der Universität Heidelberg ab. Im gleichen Jahr setzte sich sein Vater zur Ruhe und zog mit Margarethe und vermutlich auch Ernst nach Berlin, eine 7-Zimmer-Wohnung im Parterre der Schlüterstraße 31. Dort wohnte dann auch Hans, nach seinem Staatsexamen. Bis 1916 arbeitete er an der Charité Berlin, während des Krieges war er als Arzt in einem Feldlazarett tätig. Nach dem Krieg ging er zurück an die Charité und absolvierte dort eine Facharztausbildung in Urologie. Sein Bruder Ernst war bereits 1914, nach einer dreijährigen kaufmännischen Lehre, nach Stargard zurückgegangen, um den Familienbetrieb „Joseph Pinner“ zu übernehmen.

Ab 1921 finden wir für Hans Pinner einen eigenen Eintrag im Adressbuch, ebenfalls in der Schlüterstraße 31, wo er 1924 schließlich seine Praxis einrichtete, während er weiterhin bei seinen Eltern wohnte. Die Familie hatte seit 1912 zwei Angestellte, die Köchin Anna Wolffermann und die junge „Hausdame“ Emma Naffin. Mit Emma verlobte sich Hans 1916, bevor er als Arzt zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Nach dem Krieg wollten Emma und Hans ihre Beziehung weiterführen, jedoch konnte Hans, laut Emma sein Eheversprechen nicht einlösen, da die Eltern sich einer Heirat mit einer Christin widersetzten. Emma blieb aber im Haus. 1934 starb Max Pinner, auch soll Hans‘ Mutter Margarethe allmählich den Widerstand gegen die Ehe ihres Sohnes aufgegeben haben, doch inzwischen machten die Nürnberger Gesetze der nationalsozialistischen Regierung die Ehe zwischen einem Juden und einer Christin unmöglich. Emma wurde ein Verfahren wegen „Rassenschande“ angedroht, wenn sie weiter mit Hans zusammenlebe. Daraufhin nahm sie sich ein Zimmer zur Untermiete bei einer Zahnärztin im gleichen Haus. Später wurde sie zur Arbeit bei der Akkumulatorenfabrik Pfalzgraf dienstverpflichtet.

Schon kurz nach der Machtübernahme Hitlers 1933 wurde Dr. Hans Pinner, wie auch anderen jüdischen Ärzten, die kassenärztliche Zulassung entzogen. Privatpatienten durfte er vorerst weiterbehandeln, aber im Juli 1938 wurde jüdischen Ärzten dann die Approbation gänzlich aberkannt. Mit einer besonderen Erlaubnis durften sie – ausschließlich jüdische – Patienten weiter behandeln, mussten sich aber „Judenbehandler“ oder „Krankenbehandler“ statt Arzt nennen und hatten dies auch „deutlich sichtbar“ auf allen Rezepten etc. und auf einem Schild zu vermerken, das, wie alle Schriftstücke, „auf blauem Grund einen gelben Kreis mit blauem Davidstern zeigt“, so die Verordnung.

1939 starb auch Margarethe Pinner. Der jüngere Sohn Ernst zog von Stargard wieder nach Berlin in die Schlüterstraße 31, nachdem er gezwungen worden war, die Firma zu liquidieren. Er wohnte mit Hans zusammen, bis er im April 1940 nach Argentinien auswanderte, Hans blieb allein zurück. Daraufhin, im Mai 1940, setze Hans ein handschriftliches Testament auf, in dem er Emma Naffin als Alleinerbin einsetzte und bestimmte, dass sein Bruder Ernst Pinner in Argentinien nichts erben sollte. Vielleicht hatten die Brüder vor Ernsts Auswanderung Streit, vielleicht aber auch wollte Hans so verhindern, dass ein möglicher Erbteil seines Bruders in die Hände der Nazis gelangte. Denn obwohl Hans mittlerweile nur monatlich 800 Reichsmark von einem Sperrkonto abheben durfte, so hatte er doch einiges Vermögen und mehrere Grundstücke in Stargard und Stettin von seinem Vater geerbt. Die 7-Zimmer-Wohnung hatte Hans allerdings inzwischen aufgeben müssen, er wohnte im gleichen Haus zur Untermiete bei dem Ehepaar Jacobsohn.

Das Testament half Emma Naffin zunächst nichts. Als sie am 5. März 1943 von der Arbeit kam, war Hans von der Gestapo abgeholt worden, seine Zimmer und die Praxis waren versiegelt – mit etlichen Emma gehörenden Sachen darin. Sie selbst durfte die Räume nicht mehr betreten. In ihrer Verzweiflung kehrte Emma in ihren Heimatort Wulfflatzke in Pommern zurück; sie gelangte erst nach dem Krieg als Flüchtling wieder nach Berlin.

Einen Tag, nachdem er verhaftet worden war, am 6. März 1943, wurde Hans Pinner nach Auschwitz deportiert und dort sofort nach seiner Ankunft am 8. März ermordet, „zu unbekannter Stunde“, wie die 1950 ausgestellte Sterbeurkunde vermerkt. Vielleicht aber gehörte er auch zu den 153 zum Arbeitseinsatz „selektierten“ Männern, denn ein Randvermerk von 1988 auf der genannten Sterbeurkunde besagt berichtigend, der Sterbetag sei der 26. April 1943 gewesen. Diese Korrektur wurde jedoch bisher nicht in den offiziellen Gedenkbüchern aufgenommen. Ohnehin hätte die „Tötung durch Arbeit“ nur einen kurzen Aufschub für ihn bewirkt.

Die Oberfinanzdirektion „verwertete“ die Einrichtung von Dr. Pinners Wohnung und Praxis in der Schlüterstraße 31 und beschlagnahmte alle seine Konten und Wertpapierdepots. Nach dem Krieg hatte Emma Naffin große Schwierigkeiten, dem Entschädigungsamt nachzuweisen, dass sie seine legitime Erbin war. Auch Ernst erhob Ansprüche auf das Erbe seines Bruders. Schließlich wurde Emma aber doch als Lebensgefährtin von Hans Pinner anerkannt, erhielt aber trotz des eindeutigen Testaments eine nur geringe Entschädigung und eine kleine Rente. Ernst zog seine Ansprüche zurück aufgrund des ihm offenbar vorher nicht bekannten letzten Willens seines Bruders. Er erstritt eine Entschädigung für seine eigenen Verluste, die er im Deutschen Reich erlitten hatte, also für die Firma und diverse Grundstücke.

In seinem Testament hatte Hans Pinner für seinen Onkel Martin Ascher und für seine Tante Bertha Ascher, Geschwister von Hans‘ Mutter Margarethe, ein Vermächtnis von jeweils 1000 Reichsmark monatlich verfügt, das Emma Naffin ihnen hätte auszahlen sollen. Martin Ascher, Jahrgang 1871, wurde am 6. August 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort im Mai 1944 an den elenden Lebensbedingungen im Ghetto. Bertha Ascher, 1875 geboren, war zuvor am 2. April 1942 in das Ghetto Warschau verschleppt worden, wo sie ums Leben kam, wir kennen ihr Todesdatum nicht. Ernst Pinner überlebte zunächst in Argentinien und kehrte später nach Berlin zurück.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Adressbuch Stargard; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Arolsen Archives; Mapping the Lives; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005; Vorrecherchen Robert Schäfer

Recherchen/Text: Micaela Haas
Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf