„Die Gefolgschaft bestand aus durchschnittlich 20 Mann“, beschrieb Herbert Müller den Kreis der Mitarbeiter der Firma in der Entschädigungsakte aus den 1950iger Jahren. Die wichtigste Person in der „Gefolgschaft“ war eine Frau, seine Stenotypistin Rita Jacob, zu der er sich auch privat mehr und mehr hingezogen fühlte. Sie hatten ab 1935 eine Liebesbeziehung.
Die Fabrik und ihre Geschäftsräume im Fabrikgebäude in der Fruchtstraße 36 bestanden aus einer Etage und einem zugehörigen Boden von insgesamt ca. 500 qm. Die Ausstattung bestand aus den zur Herstellung von Blechmodellagen aller Art erforderlichen Spezialmaschinen und dazugehörigen Schnitten und Werkzeugen, den zur Herstellung von Dosenverschließmaschinen dienenden Werkzeugmaschinen sowie Personen- und Lieferwagen.
Die damalige Propaganda für Vorratswirtschaft nach der Devise „Kampf dem Verderb“ erhöhte die Nachfrage nach Blechdosen zur Konservierung von Fleisch, Obst und Gemüse. Die beiden Inhaber konnten deshalb den Umsatz der Firma in den folgenden fünf Jahren mehr als verdoppeln. Die judenfeindlichen Boykotte nahmen jedoch immer mehr zu. Öffentliche Aufträge wurden allmählich entzogen. Aufgrund der antisemitischen Propaganda verloren sie zunehmend Kundschaft und Vertreter, die lieber für sogenannte arische Konkurrenzfirmen arbeiteten. Einzelne Zulieferer, wie z.B. Thyssen, versagten den Verkauf von Rohmaterialien wie Blech. Die für die Branche existenziellen Fachzeitungen und -zeitschriften nahmen keine Anzeigen mehr an.
Vor diesem Hintergrund war es verständlich, dass Herbert Müller 1936 die Heiratswünsche seiner Freundin Rita erst einmal zurückstellte, weil er sich in politisch unsicherer Lage nicht zutraute, weitere Verantwortung zu übernehmen. Rita Jacob beendete daraufhin die Beziehung und heiratete im November 1936 den Kaufmann Leo Klein, der früher als Lagerist auch in der Firma gearbeitet hatte. Gemeinsam wohnten sie bei Ritas Eltern in der Essener Straße 20 in Berlin-Moabit.
Anfang 1938 trafen sich Herbert und Rita zufällig auf der Straße wieder. Herbert was sehr schockiert, als er hörte, dass Rita in der Zwischenzeit geheiratet hatte und ein Kind von Leo erwartete.
Im Frühjahr 1938 wurde Herberts Firma die Zuteilung von Blech von Amts wegen um 50 Prozent gekürzt. Hierdurch sahen sich Herbert Müller und Martin Fürst gezwungen, die seit fast 50 Jahren im Familienbesitz befindliche Firma zu verkaufen. Der Verkaufsvertrag wurde am 25. Juli 1938 mit einem Herrn Friedrich Knut abgeschlossen. Nach Genehmigung durch alle maßgebenden Stellen, ging der Betrieb am 10. Oktober 1938 für 10.500 RM, weit unter Wert, an Herrn Knut über.
Nachdem Herbert Ende August 1938 von Rita eine Geburtsanzeige erhalten und erfahren hatte, dass eine Daisy zur Welt gekommen war, trafen sie sich wieder regelmäßig zum Spazierengehen im Tiergarten. Ritas Ehe mit Leo war nicht glücklich, daher wurden ihre Treffen häufiger und alles war fast wie früher.
In Gedanken war Herbert häufig damit beschäftigt zu planen, wie er zusammen mit Rita und Daisy das Deutsche Reich verlassen könnte. Nach den Novemberpogromen war klar, dass sie so schnell wie möglich das Land verlassen mussten. Mitte November 1938 machte Herbert sich auf den Weg nach Aachen, um herauszufinden, ob es an der grünen Grenze zu den Niederlanden möglich wäre, unbemerkt und ohne Genehmigung die Grenze zu überqueren. Er hatte von einem holländischen Bauern gehört, der heimlich Flüchtlinge über die Grenze führte. Leider war es dem Kontaktmann in der Zwischenzeit zu riskant geworden, sodass Herbert unverrichteter Dinge nach Berlin zurückkehren musste. Auf dem Bahnhof in Aachen fiel er dann zwei SS-Männern durch das Mitführen seines Fotoapparates auf. Sie nahmen ihn umgehend wegen Spionageverdacht fest und inhaftierten ihn im Gerichtsgefängnis, wo er gefoltert und misshandelt wurde.
Herbert Müller wurde nach gut zwei Monaten Untersuchungshaft des Versuchs angeklagt, am 25. November 1938 bei Billenberg im Kreis Heinsberg „die deutsche Reichsgrenze an anderen als den von den zuständigen Behörden bestimmten Grenzübergangsstellen zu überschreiten“ und „vorsätzlich ohne Genehmigung der Devisenstelle Zahlungsmittel, nämlich 100 RM in Banknoten und Wertgegenstände, die als Ersatz für Zahlungsmittel dienten, nämlich einen Fotoapparat Contax im Werte von 620 RM und einen massiv goldenen Ring aus dem Inland in das Ausland zu verbringen“. Aus Mangel an Beweisen wurde er in einem Schnellverfahren am 1. Februar 1939 freigesprochen und konnte endlich nach Berlin zurückkehren.
Nun musste alles ganz schnell gehen. Er zahlte die Reichsfluchtsteuer und 1.800RM Judenvermögensabgabe und erhielt am 29. März 1939 die Unbedenklichkeitsbescheinigung des Bezirksbürgermeisters, um das Deutsche Reich verlassen zu dürfen.
Bei der Reichsvertretung der Deutschen Juden stellte er einen Antrag auf einen Platz in einem englischen Auffanglager für Auswanderer, dem sogenannten Kitchener Camp in Richborough in der Nähe von Sandwich in Kent. Dieser Antrag wurde ihm und mehr als 2.000 anderen Männern, die mehrheitlich aus Konzentrationslagern mit der Auflage entlassen wurden, das Deutsche Reich umgehend zu verlassen, genehmigt.
Der Abschied fiel Rita und Herbert sehr schwer, doch sie hatten Hoffnung, dass Rita und Daisy nach England nachkommen bzw. sie sich in Shanghai, Brasilien oder Alaska wiedertreffen könnten. So verließ Herbert am 21. Mai 1939 mit seinen Habseligkeiten in einem großen und drei kleinen Koffern für immer Berlin.
Vom 23. Mai 1939 bis 8. Januar 1940 lebte er im Kitchener Camp. In dieser Zeit schrieben Rita und Herbert sich bewegende Briefe.
Ab 1940 gingen die Briefe über eine Freundin von Rita, die in der Schweiz wohnte, da es immer schwieriger wurde, Botschaften aus Berlin in ein Land, welches sich mit Deutschland im Kriegszustand befand, zu verschicken. Im Januar 1940 konnte Herbert das Kitchener Camp verlassen und fand eine Arbeit als Werkmeister bei der Elektroculd Ltd. Blechwarenfabrik in Harpenden, einer Kleinstadt in der Nähe von London.
1941 trat er dem Pionierkorps der britischen Armee „The King´s Most Loyal Enemy Aliens“ bei. Er diente als Dolmetscher für deutsche Kriegsgefangene auf der Isle of Man. Der Briefkontakt zu Rita brach damals vollkommen ab. 1944 erfuhr Herbert von Ritas Freundin aus der Schweiz, dass Rita mit Familie im August 1943 nach Theresienstadt deportiert worden war und es ihr dort den Umständen entsprechend gut gehen würde. Später im April 1945 erreichte ihn die Nachricht, dass Rita im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert worden war und seitdem jede Spur von ihr fehlte.
Ritas Schwiegermutter Therese Klein, die Theresienstadt überlebt hatte, brachte ihm am 21. Februar 1946 die Gewissheit. Von ihr erfuhr er, dass Rita bis zum Schluss in Berlin für den Präsidenten der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ Dr. Leo Beck gearbeitet hatte und dieses auch noch in Theresienstadt tat, als er dort Mitglied des Ältestenrats war.
Leo Klein war als Ordner im Sammellager beschäftigt und durfte in Theresienstadt in der sogenannten Proviantur (Proviantkammer) arbeiten. So mussten sie dort nicht hungern und bekamen sogar ein sogenanntes Prominentenzimmer zugewiesen.
Am 16. Oktober 1944 mussten sie Theresienstadt in Richtung Auschwitz verlassen. Beim Abschied habe ihr die 6-jährige Enkeltochter Daisy noch optimistisch zugerufen „Omi, du sollst nicht traurig sein, ich werde immer Päckchen schicken und Briefe schreiben.“
Auch Herberts Mutter Elsa und ihren zweiten Ehemann Alfred Breslauer ermordete die Gestapo im März 1943 in Auschwitz.
Im Oktober 1945 wurde Herbert demobilisiert und kehrte wieder ins Zivilleben in London zurück, wo er eine Druckerei namens Copypress gründete. Er änderte seinen Namen von Müller in Mullard und tat alles, um Deutschland zu vergessen.
1946 heiratete Herbert Mullard Muriel. Sie wurden Eltern zweier Söhne. Er ließ sich 1967 scheiden und heiratete dann Lola. Das Foto von Rita begleitete ihn sein ganzes Leben lang. Er erkannte, dass es ein großer Fehler gewesen war, Rita 1936 nicht geheiratet zu haben. Er war der Vernunft und nicht seinen Gefühlen gefolgt.
Erst viele Jahre später wurde die umfangreiche Korrespondenz zwischen Herbert und Rita entdeckt, übersetzt und veröffentlicht.
Seine Schwester Charlotte mit ihrer Familie, die 1939 nach Windsor in der Nähe von Melbourne in Australien ausgewandert waren, sah er nie wieder.
Er liebte Wandern, Skifahren, Fotografieren und reiste im Ruhestand viel. Als er am 11. Februar 1989 in London starb, hing das Foto von Rita neben seinem Bett.
Fast alle Briefe von Rita und Herbert wurden 2010 in Deutschland von Bellis Klee Rosenthal in dem sehr lesenswerten Buch „Was hörst du aus Shanghai? Eine Liebe zwischen Auswandern und Auschwitz“ veröffentlicht.
Recherche und Text: Gundula Meiering mit Unterstützung von David Mullard, Oktober 2024
Quellen:
Mapping the lives; Berliner Adressbuch; Amtliche Fernsprechbücher Berlin; Arolsen Archives; Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Entschädigungsbehörde (LABO) Reg. Nr. 58.574, 61.834 – Antragsteller: Herbert Mullard; Landesarchiv Berlin – WGA-Datenbank; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry; My Heritage;
Bellis Klee Rosenthal (HG): Was hörst Du aus Shanghai? Eine Liebe zwischen Auswandern und Auschwitz, Engelsdorfer Verlag Leipzig 2010