Stolpersteine Carmerstraße 5

Hauseingang Carmerstraße 5

Hauseingang Carmerstraße 5

Die Stolpersteine für Elsa und Alfred Breslauer und Herbert Müller wurden am 23. und 24. März 2023 verlegt.

Stolperstein Alfred Breslauer

Stolperstein Alfred Breslauer

HIER WOHNTE
ALFRED BRESLAUER
JG. 1878
DEPORTIERT 6.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Alfred Breslaur, der am Ende seines Lebens den Namen Breslauer mit e schrieb, wurde am 5. April 1878 als erster Sohn von Emil Samuel Breslaur (1836-1899) und dessen Ehefrau Emilie Michle Breslaur, geborene Tugendreich (1841-1928), in Berlin geboren. Sein Vater Emil Breslaur war ein bekannter Pianist und Komponist, der 1863 von Cottbus nach Berlin gezogen war, um am Stern‘schen Konservatorium zu studieren. Ihn interessierte besonders die pädagogische Seite des Klavierunterrichts. So verwundert es nicht, dass er von 1868 bis 1879 an Theodor Kulkas Neuer Musikakademie der Tonkunst als Lehrer wirkte. Nachdem er im März 1877 Emilie Tugendreich aus Bromberg in Pommern (heute Bydgoszcz in Polen) geheiratet hatte, begründete er 1878 die Zeitschrift „Der Klavier-Lehrer“, deren Herausgeber er bis zu seinem Tod war.

Alfreds Schwester Käthe Else kam 1882 zur Welt. Da ihr Vater 1883 Chorleiter der Reformierten Synagoge in Berlin wurde, ist anzunehmen, dass die Kinder im jüdischen Glauben aufwuchsen. Als Alfred 21 Jahre alt war, starb sein Vater am 26. Juli 1899 mit 63 Jahren in Berlin-Zehlendorf.

Alfred trat nicht in die Fußstapfen seines berühmten Vaters, sondern wurde Kaufmann und übernahm 1913 die Buchdruckerei Rosenthal & Co mit Fabrikationsräumen im Industriehaus Alt-Moabit 105.

Erst sehr spät, am 20. August 1919, heiratete er mit 41 Jahren die 26-jährige Anna Kastan (1893-1931). Die Ehe hielt nicht lange und wurde gut ein Jahr später im November 1920 geschieden.

Kurz darauf, am 15. Dezember 1920, heiratete Alfred die fast 20 Jahre jüngere Ella Flora Wallenberg (geboren am 3. Juli 1897), Tochter des Bankprokuristen Samuel Wallenberg (1868-1931) und dessen evangelischer Ehefrau Johanna Wallenberg, geborene Kopitzke (1875-1948). Ella zog zusammen mit ihrem 6-jährigen Sohn Walter (geboren am 2. November 1914 in Berlin) zu Alfred an das Holsteiner Ufer 21 in Berlin-Moabit. Am 8. September 1923 kam ihr gemeinsamer Sohn Heinz-Wolfgang zur Welt.

Als Heinz fünf Jahre alt war, starb seine Großmutter, Alfreds Mutter Emilie Breslaur. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt. Drei Jahre später, 1931, starb sein 63-jähriger Großvater, Ella Breslaurs Vater Samuel Wallenberg.

Ende 1929 musste Alfred Breslaur seine Buchdruckerei liquidieren. 1930 gründete er die Roco-Multigraph-Typendruckerei, ein Vervielfältigungsbüro für Werbebriefe. Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, verschlechterten sich Alfred Breslaurs Geschäftsbedingungen aufgrund der antisemitischen Verordnungen der Regierung zusehends. Bis zu den Novemberpogromen 1938 führte er die Firma Rotographia Vervielfältigungen in der Tile-Wardenberg-Straße 13 in Berlin-Tiergarten.

Bei der Minderheiten-Volkszählung am 17. Mai 1939 wohnte er zusammen mit seiner Ehefrau Ella auch in der Tile-Wardenberg-Straße 13. Ihr 16-jähriger Sohn Heinz-Wolfgang machte zu der Zeit eine landwirtschaftliche Lehre zum Schweitzer (Melker) auf einem nicht-zionistischen Ausbildungsgut für deutsche Juden in Groß Breesen (heute Brzezno Trzebnica) in der Nähe von Breslau (heute Wrocław), welches die damalige Reichsvertretung der Deutschen Juden 1936 gegründet hatte.

Zwei Jahre später, am 14. Mai 1941, ließen sich Alfred und Ella Breslaur rechtskräftig scheiden. Ella Breslaur nahm daraufhin ihren Mädchennamen Wallenberg wieder an. Ihrer „arischen“ Mutter gelang es, ihre Tochter zu tarnen, sodass sie von antisemitischen Maßnahmen verschont blieb. Ella Wallenberg überlebte die Nazizeit.

Ab September 1941 wurde Alfred, wie alle Juden und Jüdinnen im Deutschen Reich, gezwungen, den gelben Stern zu tragen.

Am 7. Februar 1942 heiratete der 64-jährige Alfred Breslauer zum dritten Mal, diesmal die gleichaltrige Witwe und “Geltungsjüdin” Elsa Helene Müller, geborene Wiener, und zog zu ihr in eine Hochparterre-Wohnung in der Carmerstraße 5 in Berlin-Charlottenburg. Er leistete für 25 RM wöchentlich Zwangsarbeit in Spandau bei der Gleisbau-Firma Dudek.

Am 4. März 1943 wurden er und seine dritte Ehefrau Elsa von der Gestapo aufgefordert, eine Vermögenserklärung auszufüllen und zu unterschreiben. Vermögen hatten sie zu diesem Zeitpunkt keines mehr. Mit dem 35. Osttransport wurden Alfred und Elsa Breslauer am 6. März 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurden.
Alfred und Elsa Breslauer mussten aufgrund von antisemitischem Rassenwahn und Verschwörungstheorien mit jeweils 65 Jahren sterben.
Alfreds Sohn Heinz-Wolfgang Breslauer wurde am 31. März 1943 von der Gestapo in Groß Breesen verhaftet und 2. April 1943 von Breslau nach Theresienstadt deportiert. Am 10. Oktober 1943 lieferte die Gestapo ihn in das Konzentrationslager Dachau ein. Am 29. September 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, wo sie ihn mit 21 Jahren am 10. Oktober 1944 ermordeten. Seine Mutter Ella Wallenberg ging nach dem Krieg davon aus, dass er das Ghetto Theresienstadt nicht überlebt hätte.
Alfreds angenommener Sohn Walter Wallenberg fiel am 1. Oktober 1943 mit 28 Jahren als Unteroffizier im Zweiten Weltkrieg.
Die Verlegung der Stolpersteine für Alfred und Elsa Breslauer in der Carmerstraße 5 wurde durch David Mullard, dem Enkelsohn von Elsa Breslauer aus Kanada, initiiert.

Text und Recherche: Gundula Meiering, Oktober 2024

Quellen:
Mapping the lives; Berliner Adressbücher; Amtliche Fernsprechbücher Berlin; Arolsen Archives; Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Entschädigungsbehörde (LABO) Reg. Nr. 27.927 Antragstellerin Ella Breslaur geborene Wallenberg; Landesarchiv Berlin, WGA-Datenbank; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry; My Heritage

Stolperstein Elsa Breslauer

Stolperstein Elsa Breslauer

HIER WOHNTE
ELSA BRESLAUER
GEB. WIENER
VERW. MÜLLER
JG. 1878
DEPORTIERT 6.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Elsa Helene Breslauer kam am 13. Mai 1878 als Elsa Helene Wiener in Barmen (heute ein Stadtteil von Wuppertal, Nordrhein-Westfalen) zur Welt. Ihr Vater, der Kaufmann Julius Wiener (geboren 1850), war bei ihrer Geburt 28 Jahre alt und ihre Mutter Julie Gertrud, geborene Spiecker (geboren am 8. Januar 1855), 23 Jahre alt. Als Elsa fast drei Jahre alt war, bekam sie noch in Barmen eine kleine Schwester, Elfriede Julia, die am 22. Januar 1881 geboren wurde. Wann die kleine Familie nach Berlin ging, ist nicht bekannt.

Julius Wiener gründete 1894 in der Oranienburger Straße 30 in Berlin eine Maschinen- und Werkzeugfabrik für Blechbearbeitung. 1896 zog er mit der Fabrik in die Alexanderstraße 26 und später in die Fruchtstraße 36 (heute: Straße der Pariser Kommune) in Berlin-Friedrichshain.

Über Elsas Kindheit und Jugend konnte nichts recherchiert werden. Wie damals üblich, erlernte sie keinen Beruf. Ostern 1902 gaben sich Julius und Julia Wiener die Ehre, die Verlobung ihrer Tochter Elsa mit William Müller bekannt zu geben. Damals wohnte die Familie Wiener in der Ritterstraße 61 in Berlin-Kreuzberg.

Elsa Müller 1930 - Carmerstr.5

Mit 24 Jahren heiratete Elsa am 28. Juni 1902 den 33-jährigen Kaufmann William Müller (geboren am 14. März 1869 in Berlinchen, Kreis Sodin). Ein Jahr später, am 8. Mai 1903, wurde ihre Tochter Charlotte und am 25. Juli 1904 ihr Sohn Herbert Wolfgang in Berlin geboren.

Elsas Schwester Elfriede widmete sich der Malerei. Sie war Schülerin von Otto Eckmann und Lovis Corinth. Am 8. April 1907 heiratete sie mit 26 Jahren Leopold Veit Sonnemann, Leiter des Berliner Büros der Frankfurter Zeitung, die ein Verwandter von ihm gegründet hatte. 1908 wurde ihre Tochter Ruth Bettina und 1912 ihr Sohn Ulrich in Berlin-Charlottenburg in der Kantstraße 86 geboren. Elsa lebte damals mit ihrer Familie in der Niebuhrstraße 45 ganz in der Nähe.

Nachdem Elsas Ehemann William Müller 1918 aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt war, arbeitete er bei seinem Schwiegervater und übernahm die Fabrik Anfang der zwanziger Jahre, als Julius Wiener in den Ruhestand ging. Fortan hieß die Fabrik: Julius Wiener Nachfolger William Müller Fabrik für Verschlussmaschinen und Konservendosen.

Elsas Neffe Prof. Dr. phil. Ulrich Sonnemann erinnerte sich in seiner Autobiographie, dass seine Familie 1913 nach Berlin-Schöneberg zog, wo er eingeschult wurde und man ihn „unter dem Einfluss seiner Großmutter mütterlicherseits einer überaus vorurteilslosen, aber auch sehr evangelischen Gutsbesitzertochter vom Niederrhein am evangelischen Religionsunterricht anmeldete, obwohl seine Eltern der jüdischen Religion angehörten.“

Elfriedes Familie wohnte in Berlin-Schöneberg zusammen mit den Eltern in der Salzburger Straße 11. Am 19. April 1924 starb Julius Wiener mit 74 Jahren nach einem „Leben voller Arbeit und Aufopferung“, wie es in der Todesanzeige hieß. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt.

Am 16. Mai 1931 heiratete Elsas Tochter Charlotte mit 28 Jahren den Ingenieur Martin Fürst (geboren am 2. September 1899 in Berlin). Vier Jahre später, am 13. Juli 1935, wurde ihre einzige Tochter Evelyn Susanne geboren. Elsa wurde mit 57 Jahren Großmutter.

Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 starb William Müller am 22. Juli 1933 an Darmkrebs. Elsa wurde mit 55 Jahren Witwe. Ihr Sohn Herbert und ihr Schwiegersohn Martin übernahmen vom Vater die Fabrik für Verschlussmaschinen und Konservendosen in der Fruchtstraße 36. Noch im selben Jahr zogen Elsa und ihr Sohn Herbert ins Vorderhaus der Carmerstraße 5 in eine 3-Zimmer-Hochparterrewohnung. Die Familie ihrer Tochter Charlotte wohnte nicht weit entfernt in der Mommsenstraße 65.

Elsa Breslauer - vier Generationen - Cauerstr. 5

Im Rahmen der “Arisierung” mussten Herbert und Martin die Fabrik 1938 verkaufen. Der Familie ihrer Tochter Charlotte gelang am 17. Februar 1939 die Auswanderung nach Australien. Auch ihr Sohn Herbert erkannte die Gefahren für Juden im Deutschen Reich noch rechtzeitig und suchte nach Wegen auszuwandern, konnte jedoch kein Visum erhalten. Er reiste mit seinen Habseligkeiten am 21. Mai 1939 nach Großbritannien, wo er im Kitchener Camp, einem Auffanglager für Auswanderer, einen Platz durch die Reichsvertretung der deutschen Juden zugewiesen bekommen hatte.

Elsas Schwester Elfriede und deren Familie waren schon Anfang 1939 nach Brüssel in Belgien geflüchtet. In dieser Zeit muss auch ihre Mutter Julia Wiener in ihre nordrheinwestfälische Heimat nach Hilden zurückgekehrt sein.

Elsa blieb alleine zurück. Die ehemalige Freundin ihres Sohnes, Rita Klein, besuchte sie gelegentlich. Wann und wo Elsa Alfred Breslauer kennenlernte, ist nicht bekannt. Seit Dezember 1920 war Alfred in zweiter Ehe mit Ella Flora Wallenberg verheiratet gewesen. Diese Ehe wurde am 14. Mai 1941 rechtskräftig geschieden.

Ab September 1941 wurde Elsa, wie alle Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich, gezwungen, den gelben Stern zu tragen. Am 7. Februar 1942 heiratete sie den 64-jährigen Alfred Breslauer, der höchstwahrscheinlich schon seit 1941 bei ihr in die Carmerstraße 5 wohnte. Alfred war zur Zwangsarbeit verpflichtet und leistete diese für 25 RM wöchentlich in Spandau bei der Firma Dudek. Es ist anzunehmen, dass er im Rahmen der Fabrikaktion am 27. Februar 1943 bei der Zwangsarbeit von der Gestapo festgesetzt wurde.

Am 4. März 1943 wurden er und Elsa aufgefordert, eine Vermögenserklärung auszufüllen und zu unterschreiben. Elsa gab in der Erklärung an, dass sie Geltungsjüdin sei, aber diese Angabe schützte sie nicht vor der Deportation. Der Begriff Geltungsjude wurde von den Nationalsozialisten für Personen genutzt, die neben jüdischen Großelternteilen mindestens einen arischen Großelternteil vorweisen konnten, was auf Elsa zutraf, da ihre Mutter arische Eltern hatte.

Vermögen hatten beide nicht mehr zu deklarieren. Mit dem 35. Osttransport wurden Alfred und Elsa Breslauer am 6. März 1943 von der Gestapo nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Alfred und Elsa Breslauer, geborene Wiener, verwitwete Müller, mussten aufgrund von antisemitischem Rassenwahn und Verschwörungstheorien mit jeweils 65 Jahren sterben.
Die Verlegung der Stolpersteine für Elsa Breslauer und Alfred Breslauer in der Carmerstraße 5 wurde durch David Mullard, dem Enkel von Elsa Breslauer aus Kanada initiiert.

Text und Recherche: Gundula Meiering mit Unterstützung von David Mullard, Oktober 2024

Quellen:
Mapping the lives; Berliner Adressbuch; Amtliche Fernsprechbücher Berlin; Arolsen Archives – Deportationslisten; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam – Vermögenserklärung; Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Entschädigungsbehörde (LABO) Reg. Nr. 58.574, 61.834 – Antragsteller: Herbert Mullard; Landesarchiv Berlin – WGA-Datenbank; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen / über ancestry; My Heritage;
Bellis Klee Rosenthal (HG): Was hörst Du aus Shanghai? Eine Liebe zwischen Auswandern und Auschwitz, Engelsdorfer Verlag Leipzig 2010

Stolperstein Herbert Müller

Stolperstein Herbert Müller

HIER WOHNTE
HERBERT MÜLLER
HERBERT MULLARD
JG. 1904
FLUCHTVERSUCH 1938
FRANKREICH
VERHAFTET NOV. 1938
GEFÄNGNIS AACHEN
ENTLASSEN FEB. 1939
FLUCHT 1939 ENGLAND

Herbert Wolfgang Müller wurde am 25. Juli 1904 in der Schützenstraße 56 in Berlin-Steglitz geboren. Sein Vater, der Kaufmann William Müller (geboren am 14. März 1869 in Berlinchen, Kreis Sodin), war bei seiner Geburt 35 Jahre und seine Mutter Elsa, geborene Wiener (geboren am 13. Mai 1878), 26 Jahre alt. Ein Jahr zuvor, am 8. Mai 1903, war seine Schwester Charlotte zur Welt gekommen.

Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg begann, wurde sein Vater zum Militär eingezogen, damals waren Charlotte 11 und Herbert 10 Jahre alt.
Nach dem Kriegseinsatz trat William Müller als Kaufmann in die Firma seines Schwiegervaters Julius Wiener ein. Anfang der zwanziger Jahre, als Julius in den Ruhestand ging, übernahm William die Firma. Als Herbert 20 Jahre alt war, starb sein Großvater Julius Wiener.

Herbert Müller 1939-Carmerstr.5

Herbert besuchte bis 1922 ein humanistisches Gymnasium, die Kaiser-Friedrich-Schule, und schloss sie mit dem Abitur ab. Anschließend absolvierte er ein halbjähriges Praktikum bei den Siemens-Schuckert-Werken im Weichenwerk Charlottenburg. Danach begann er eine kaufmännische Lehre bei der Firma Orenstein & Koppel AG (Eisenbahnbau). Parallel dazu studierte er drei Semester Jura und Nationalökonomie an der Universität Berlin. Nach Abschluss der kaufmännischen Lehre trat er im Juli 1925 als kaufmännischer Angestellter in die Fabrik seines Vaters „William Müller Blechwaren-und Maschinenfabrik“ in der Fruchtstraße 36 (heute: Straße der Pariser Kommune) in Berlin-Friedrichshain ein.

Seine Schwester Charlotte heiratete 1931 den Ingenieur Martin Fürst (geboren am 2. September 1899 in Berlin).
Fünf Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 erlag sein Vater einer langjährigen Darmkrebserkrankung. William Müller verstarb mit 64 Jahren am 22. Juli 1933 in der Familienwohnung in der Niebuhrstraße 45 in Berlin-Charlottenburg.
Noch im selben Jahr zog Herbert mit seiner Mutter Elsa in die nahegelegene Carmerstraße 5 in eine 3-Zimmer Wohnung im Hochparterre.
Nach dem Tod des Vaters führten der 29-jährige Herbert Müller und sein Schwager, der 34-jährige Martin Fürst, die offene Handelsgesellschaft William Müller Blechwaren- und Maschinenfabrik für die Konservenherstellung.
Herbert übernahm die kaufmännische Leitung und Führung der Firma und Martin, Ingenieur von Beruf, fungierte als Werkmeister. Der frühere Werkmeister, der 40 Jahre bei der Firma tätig gewesen war, verstarb ebenfalls 1933 an den Folgen eines Verkehrsunfalles. Stille Teilhaberinnen wurden Herberts verwitwete Mutter Elsa und seine verwitwete Großmutter Julia Wiener.
Je 33 Prozent des Reingewinns wurden an Herbert und Martin ausgeschüttet. Für ihre Kapitaleinlage von 7.500 RM erhielt Elsa Müller 22 Prozent und Julia Wiener 12 Prozent als eine Art Lebensrente.

Rita Klein- Carmerstr.5

„Die Gefolgschaft bestand aus durchschnittlich 20 Mann“, beschrieb Herbert Müller den Kreis der Mitarbeiter der Firma in der Entschädigungsakte aus den 1950iger Jahren. Die wichtigste Person in der „Gefolgschaft“ war eine Frau, seine Stenotypistin Rita Jacob, zu der er sich auch privat mehr und mehr hingezogen fühlte. Sie hatten ab 1935 eine Liebesbeziehung.

Die Fabrik und ihre Geschäftsräume im Fabrikgebäude in der Fruchtstraße 36 bestanden aus einer Etage und einem zugehörigen Boden von insgesamt ca. 500 qm. Die Ausstattung bestand aus den zur Herstellung von Blechmodellagen aller Art erforderlichen Spezialmaschinen und dazugehörigen Schnitten und Werkzeugen, den zur Herstellung von Dosenverschließmaschinen dienenden Werkzeugmaschinen sowie Personen- und Lieferwagen.
Die damalige Propaganda für Vorratswirtschaft nach der Devise „Kampf dem Verderb“ erhöhte die Nachfrage nach Blechdosen zur Konservierung von Fleisch, Obst und Gemüse. Die beiden Inhaber konnten deshalb den Umsatz der Firma in den folgenden fünf Jahren mehr als verdoppeln. Die judenfeindlichen Boykotte nahmen jedoch immer mehr zu. Öffentliche Aufträge wurden allmählich entzogen. Aufgrund der antisemitischen Propaganda verloren sie zunehmend Kundschaft und Vertreter, die lieber für sogenannte arische Konkurrenzfirmen arbeiteten. Einzelne Zulieferer, wie z.B. Thyssen, versagten den Verkauf von Rohmaterialien wie Blech. Die für die Branche existenziellen Fachzeitungen und -zeitschriften nahmen keine Anzeigen mehr an.
Vor diesem Hintergrund war es verständlich, dass Herbert Müller 1936 die Heiratswünsche seiner Freundin Rita erst einmal zurückstellte, weil er sich in politisch unsicherer Lage nicht zutraute, weitere Verantwortung zu übernehmen. Rita Jacob beendete daraufhin die Beziehung und heiratete im November 1936 den Kaufmann Leo Klein, der früher als Lagerist auch in der Firma gearbeitet hatte. Gemeinsam wohnten sie bei Ritas Eltern in der Essener Straße 20 in Berlin-Moabit.
Anfang 1938 trafen sich Herbert und Rita zufällig auf der Straße wieder. Herbert was sehr schockiert, als er hörte, dass Rita in der Zwischenzeit geheiratet hatte und ein Kind von Leo erwartete.
Im Frühjahr 1938 wurde Herberts Firma die Zuteilung von Blech von Amts wegen um 50 Prozent gekürzt. Hierdurch sahen sich Herbert Müller und Martin Fürst gezwungen, die seit fast 50 Jahren im Familienbesitz befindliche Firma zu verkaufen. Der Verkaufsvertrag wurde am 25. Juli 1938 mit einem Herrn Friedrich Knut abgeschlossen. Nach Genehmigung durch alle maßgebenden Stellen, ging der Betrieb am 10. Oktober 1938 für 10.500 RM, weit unter Wert, an Herrn Knut über.
Nachdem Herbert Ende August 1938 von Rita eine Geburtsanzeige erhalten und erfahren hatte, dass eine Daisy zur Welt gekommen war, trafen sie sich wieder regelmäßig zum Spazierengehen im Tiergarten. Ritas Ehe mit Leo war nicht glücklich, daher wurden ihre Treffen häufiger und alles war fast wie früher.
In Gedanken war Herbert häufig damit beschäftigt zu planen, wie er zusammen mit Rita und Daisy das Deutsche Reich verlassen könnte. Nach den Novemberpogromen war klar, dass sie so schnell wie möglich das Land verlassen mussten. Mitte November 1938 machte Herbert sich auf den Weg nach Aachen, um herauszufinden, ob es an der grünen Grenze zu den Niederlanden möglich wäre, unbemerkt und ohne Genehmigung die Grenze zu überqueren. Er hatte von einem holländischen Bauern gehört, der heimlich Flüchtlinge über die Grenze führte. Leider war es dem Kontaktmann in der Zwischenzeit zu riskant geworden, sodass Herbert unverrichteter Dinge nach Berlin zurückkehren musste. Auf dem Bahnhof in Aachen fiel er dann zwei SS-Männern durch das Mitführen seines Fotoapparates auf. Sie nahmen ihn umgehend wegen Spionageverdacht fest und inhaftierten ihn im Gerichtsgefängnis, wo er gefoltert und misshandelt wurde.
Herbert Müller wurde nach gut zwei Monaten Untersuchungshaft des Versuchs angeklagt, am 25. November 1938 bei Billenberg im Kreis Heinsberg „die deutsche Reichsgrenze an anderen als den von den zuständigen Behörden bestimmten Grenzübergangsstellen zu überschreiten“ und „vorsätzlich ohne Genehmigung der Devisenstelle Zahlungsmittel, nämlich 100 RM in Banknoten und Wertgegenstände, die als Ersatz für Zahlungsmittel dienten, nämlich einen Fotoapparat Contax im Werte von 620 RM und einen massiv goldenen Ring aus dem Inland in das Ausland zu verbringen“. Aus Mangel an Beweisen wurde er in einem Schnellverfahren am 1. Februar 1939 freigesprochen und konnte endlich nach Berlin zurückkehren.

Nun musste alles ganz schnell gehen. Er zahlte die Reichsfluchtsteuer und 1.800RM Judenvermögensabgabe und erhielt am 29. März 1939 die Unbedenklichkeitsbescheinigung des Bezirksbürgermeisters, um das Deutsche Reich verlassen zu dürfen.
Bei der Reichsvertretung der Deutschen Juden stellte er einen Antrag auf einen Platz in einem englischen Auffanglager für Auswanderer, dem sogenannten Kitchener Camp in Richborough in der Nähe von Sandwich in Kent. Dieser Antrag wurde ihm und mehr als 2.000 anderen Männern, die mehrheitlich aus Konzentrationslagern mit der Auflage entlassen wurden, das Deutsche Reich umgehend zu verlassen, genehmigt.
Der Abschied fiel Rita und Herbert sehr schwer, doch sie hatten Hoffnung, dass Rita und Daisy nach England nachkommen bzw. sie sich in Shanghai, Brasilien oder Alaska wiedertreffen könnten. So verließ Herbert am 21. Mai 1939 mit seinen Habseligkeiten in einem großen und drei kleinen Koffern für immer Berlin.
Vom 23. Mai 1939 bis 8. Januar 1940 lebte er im Kitchener Camp. In dieser Zeit schrieben Rita und Herbert sich bewegende Briefe.
Ab 1940 gingen die Briefe über eine Freundin von Rita, die in der Schweiz wohnte, da es immer schwieriger wurde, Botschaften aus Berlin in ein Land, welches sich mit Deutschland im Kriegszustand befand, zu verschicken. Im Januar 1940 konnte Herbert das Kitchener Camp verlassen und fand eine Arbeit als Werkmeister bei der Elektroculd Ltd. Blechwarenfabrik in Harpenden, einer Kleinstadt in der Nähe von London.
1941 trat er dem Pionierkorps der britischen Armee „The King´s Most Loyal Enemy Aliens“ bei. Er diente als Dolmetscher für deutsche Kriegsgefangene auf der Isle of Man. Der Briefkontakt zu Rita brach damals vollkommen ab. 1944 erfuhr Herbert von Ritas Freundin aus der Schweiz, dass Rita mit Familie im August 1943 nach Theresienstadt deportiert worden war und es ihr dort den Umständen entsprechend gut gehen würde. Später im April 1945 erreichte ihn die Nachricht, dass Rita im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert worden war und seitdem jede Spur von ihr fehlte.
Ritas Schwiegermutter Therese Klein, die Theresienstadt überlebt hatte, brachte ihm am 21. Februar 1946 die Gewissheit. Von ihr erfuhr er, dass Rita bis zum Schluss in Berlin für den Präsidenten der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ Dr. Leo Beck gearbeitet hatte und dieses auch noch in Theresienstadt tat, als er dort Mitglied des Ältestenrats war.
Leo Klein war als Ordner im Sammellager beschäftigt und durfte in Theresienstadt in der sogenannten Proviantur (Proviantkammer) arbeiten. So mussten sie dort nicht hungern und bekamen sogar ein sogenanntes Prominentenzimmer zugewiesen.
Am 16. Oktober 1944 mussten sie Theresienstadt in Richtung Auschwitz verlassen. Beim Abschied habe ihr die 6-jährige Enkeltochter Daisy noch optimistisch zugerufen „Omi, du sollst nicht traurig sein, ich werde immer Päckchen schicken und Briefe schreiben.“
Auch Herberts Mutter Elsa und ihren zweiten Ehemann Alfred Breslauer ermordete die Gestapo im März 1943 in Auschwitz.

Im Oktober 1945 wurde Herbert demobilisiert und kehrte wieder ins Zivilleben in London zurück, wo er eine Druckerei namens Copypress gründete. Er änderte seinen Namen von Müller in Mullard und tat alles, um Deutschland zu vergessen.

1946 heiratete Herbert Mullard Muriel. Sie wurden Eltern zweier Söhne. Er ließ sich 1967 scheiden und heiratete dann Lola. Das Foto von Rita begleitete ihn sein ganzes Leben lang. Er erkannte, dass es ein großer Fehler gewesen war, Rita 1936 nicht geheiratet zu haben. Er war der Vernunft und nicht seinen Gefühlen gefolgt.

Erst viele Jahre später wurde die umfangreiche Korrespondenz zwischen Herbert und Rita entdeckt, übersetzt und veröffentlicht.

Seine Schwester Charlotte mit ihrer Familie, die 1939 nach Windsor in der Nähe von Melbourne in Australien ausgewandert waren, sah er nie wieder.

Er liebte Wandern, Skifahren, Fotografieren und reiste im Ruhestand viel. Als er am 11. Februar 1989 in London starb, hing das Foto von Rita neben seinem Bett.

Fast alle Briefe von Rita und Herbert wurden 2010 in Deutschland von Bellis Klee Rosenthal in dem sehr lesenswerten Buch „Was hörst du aus Shanghai? Eine Liebe zwischen Auswandern und Auschwitz“ veröffentlicht.

Recherche und Text: Gundula Meiering mit Unterstützung von David Mullard, Oktober 2024

Quellen:
Mapping the lives; Berliner Adressbuch; Amtliche Fernsprechbücher Berlin; Arolsen Archives; Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Entschädigungsbehörde (LABO) Reg. Nr. 58.574, 61.834 – Antragsteller: Herbert Mullard; Landesarchiv Berlin – WGA-Datenbank; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry; My Heritage;
Bellis Klee Rosenthal (HG): Was hörst Du aus Shanghai? Eine Liebe zwischen Auswandern und Auschwitz, Engelsdorfer Verlag Leipzig 2010