HIER WOHNTE
EVA REICHENBACH
JG. 1929
FLUCHT 1939
SCHWEDEN
- english version below –
Eva Reichenbach wurde am 3. April 1929 in Berlin geboren. Sie war Einzelkind und lebte mit ihren Eltern Ernst Reichenbach und seiner Frau Charlotte, geb. Landsberger, in einer geräumigen Wohnung in der Egerstraße 12 in Schmargendorf im heutigen Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Die Reichenbachs waren eine säkulare jüdische Familie. Eva erinnert sich an nur seltene Kontakte mit der Religion. Mit ihrer Mutter besuchte sie an hohen jüdischen Feiertagen gelegentlich die Synagoge.
Dank der guten wirtschaftlichen Situation der Familie konnte sie – trotz des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland – ihre früheste Kindheit relativ friedlich und ungestört verbringen. Sie genoss den verschneiten Berliner Winter, den Sommer auf den Sanddünen in Dänemark oder spielte mit ihren Cousins im Garten des Landhauses ihrer Großeltern mütterlicherseits.
Trotz der angenehmen Lebensverhältnisse dauerte die ruhige Kindheit in Berlin nur wenige Jahre. Evas Eltern mögen das heraufkommende Unheil schon früh geahnt haben. Bereits mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933 begannen die Maßnahmen zum Ausschluss jüdischer Kinder und Jugendlicher aus dem öffentlichen Bildungswesen. Fast gleichzeitig wurden jüdische Lehrerinnen und Lehrer durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem öffentlichen Schulwesen verbannt. Ab April 1937 durften öffentliche Schulen in Berlin keine jüdischen Kinder mehr aufnehmen, und ab Oktober 1938 mussten alle jüdischen Schüler und Schülerinnen endgültig die öffentlichen Schulen verlassen. Als assimilierte Jüdin hatte Eva eine öffentliche Schule besucht und wurde nun bis zu einem gewissen Grade am Kontakt zu ihren nicht-jüdischen Freundinnen und Freunden gehindert. Aber sie und ihre beste Freundin Martchen
kümmerten sich nicht um diese Regeln und spielten – auch als Eva für kurze Zeit eine jüdische Schule besuchte – weiter miteinander.
Seit der Pogromnacht am 9./10.November 1938 hatte Eva ihren Vater, mit dem sie offenbar inniger verbunden war als mit ihrer Mutter, nicht mehr gesehen. Er war verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt worden. Als er Ende Dezember unerwartet zurückkam, – die Information über seine Entlassung hatte die Familie nicht erreicht – in der Egerstraße 12 an der Tür klopfte und Eva ihm öffnete, erkannte sie ihn nicht wieder. Sie schlug dem bis auf die Haut abgemagerten, extrem geschwächten und vermeintlich obdachlosen Mann die Tür vor der Nase zu und rief ängstlich nach ihrer Mutter.
Bald darauf musste Eva sich – wie so viele jüdische Kinder – von ihrer Familie und ihrem bisherigen Leben verabschieden. Am 19. April 1939 bestieg sie – mit Menschen, die sie nicht kannte und die eine fremde Sprache sprachen – einen „Kindertransport” nach Stockholm. Die Eltern Reichenbach und die Großeltern Landsberger waren mit zum Bahnhof gegangen, um ihr eine gewisse Sicherheit zu vermitteln. Eva berichtete später, dass sie trotz ihres damals jungen Alters – sie war gerade zehn Jahre alt – von ihrem Vater eine genaue Erklärung bekommen habe, warum sie Deutschland verlassen müsse. Unklar bleibt, wo genau sie diesen Zug bestieg, vermutlich am Bahnhof Friedrichstraße auf einem Bahnsteig, den die Nazis uneinsehbar gemacht hatten, damit unbeteiligte Passanten die emotionalen Abschiede und das „Lebewohl” – vielleicht – nicht beobachten konnten. Wer weiß – sie wären davon möglicherweise berührt worden,
denn auch sie waren möglicherweise Mütter, Väter, Großmütter oder Großväter.
In Deutschland gibt es ein Sprichwort über das Wetter im Übergang vom Winter zum Frühling: „April, April, der macht, was er will”. Genauso schnell wechselten die Emotionen an jenem Apriltag auf dem Bahnsteig, und Eva beschrieb einen Moment des emotionalen Impulses ihres Großvaters, von dem man sagen könnte, dass es keine rationale Handlung war. Während der Fahrt nach Stockholm schrieb Eva eine Postkarte an ihren Vater und erwähnte, was ihr Großvater vor Abfahrt des Zuges getan hatte: „Lieber Pappi! Wir fahren jetzt über eine Stunde und es ist ziemlich langweilig. Du mußt entschuldigen, daß ich so klaue, (gemeint ist die schlechte Schrift) aber es schunkelt schrecklich. Opi war auch auf dem Bahnsteig und hat Schokolade mitgebracht. Ich hab schon ziemlich viel gegessen. Das meiste besteht aus Schokolade und Bonbons. Grüße auch Omi, Opi, Mammi und dich selbst auch von deinem Würstchen.”.
Trotz der Zuneigung und Verbundenheit zwischen Großvater und Enkelin war die Schokolade, von der Eva in der Karte spricht, ein äußerst riskantes Unterfangen, denn ihr Großvater übergab sie ihr persönlich und betrat hierzu den Zugwagon – was für Familienmitglieder streng verboten war. Hatte er vergessen, ihr die Schachtel zu geben, bevor sie in den Zug stieg? Vielleicht war es eine spontane Idee, oder hatte er vor, der Letzte zu sein, der die kleine Eva überrascht? Tatsache ist, dass diese Handlung für die ganze Familie große Probleme hätte verursachen können und es ist sehr wahrscheinlich, dass Eva von der Reise nach Stockholm ausgeschlossen worden wäre, wenn die Nazis Landsberger dort gesehen hätten. Es scheint, als habe die Familie erst durch Evas Postkarte von dieser gefährlichen Episode erfahren – sie berichtet, dass ihr Vater sehr wütend auf Großvater Arthur war, als er davon erfuhr. Eva sagt auch, von Opa Landsberger habe sie die „Berliner Schnauze”
geerbt, das Temperament und die Neigung zum Murren und Nörgeln – so spontan und direkt ausgedrückt, dass es die so herzlichen Menschen in Brasilien, wo Eva eines Tages leben sollte, oft schockierte.
Eva erinnerte sich später, dass sie sich niemals so allein gefühlt habe wie auf dieser Reise als 10-jähriges Kind. Als sie in Stockholm ankam, wurde sie aber von den Schwestern Victorson – drei Frauen, die zusammen in der Regeringsgatan wohnten – herzlich empfangen. Und doch war die Eingewöhnung in den ersten Jahren nicht leicht, denn Eva vermisste ihre Familie, fühlte sich einsam und kämpfte mit der fremden Sprache. Trotzdem fühlte sie sich bei ihren Gasteltern wohl. Else, Irene und Lily gaben ihr das Gefühl umsorgt zu sein – jede auf ihre Art, ob mit Strenge beim Lernen, in entspannten Momenten beim Brotbacken oder bei der Gartenarbeit in dem Landhaus. Wenn Briefe aus Deutschland kamen, übermalten die Schwestern die Nazi-Symbole, bevor sie sie Eva gaben – ein Akt der Solidarität, damit das Kind sie nicht vermischt mit den Nachrichten von ihren Lieben sehen sollte. Eva erhielt bis 1941/42 viele Postkarten und Briefe von ihrer Familie aus
Deutschland und beantwortete sie alle.
Eva verbrachte ihre gesamte Jugend und Pubertät in Stockholm, lernte Sprachen und Skifahren und war beeindruckt, wie eng die Menschen von Jugend an mit der Natur und dem Sport verbunden waren. Eine der Schwestern Victorson war besonders liebevoll, Irene, die ihr vor dem Schlafengehen Geschichten erzählte. Nach ihr nannte Eva 1961 ihre erste Tochter.
Im Laufe des Jahres 1939 flüchteten Evas inzwischen geschiedene Eltern aus Berlin – die Mutter Charlotte nach England und der Vater Ernst nach Braslien – während die Großeltern in Berlin blieben. Die Großeltern mütterlicherseits, Arthur und Käthe Landsberger, wurden am 18. Oktober 1941 – mit dem ersten Transport der systematischen Deportationen aus Berlin „in den Osten” – in das Ghetto Lodz/Litzmannstadt – deportiert und dort ermordet (Stolpersteine Giesebrechtstraße 7). Seit seiner Ankunft in Brasilien versuchte Ernst Reichenbach alles ihm Mögliche, um seine Mutter Else und die kleine Eva zu sich zu holen, denn solange der Nationalsozialismus existierte, waren sie in Europa nicht sicher. Für seine Mutter gelang dies nicht, bevor sie 1942 nach Theresienstadt deportiert, nach Treblinka weiter verschleppt und dort ermordet wurde. Sein Vater Martin war bereits im Dezember 1940 verstorben (Stolpersteine Duisburger Straße 7).
Eva hingegen erhielt am 13. November 1946 die Genehmigung, dauerhaft in Brasilien zu leben. Der Krieg war vorbei und die Welt sah die Beweise für die Existenz der nationalsozialistischen Vernichtungslager. Eva würde bald 18 Jahre alt werden, und das Leben – wie ihr Vater – verlangten eine Entscheidung, wo sie künftig leben wollte. Sie neigte dazu, lieber in Stockholm zu bleiben, wo sie sich eingelebt hatte und mit den Menschen und der Kultur verbunden war, als erneut eine Reise in ein unbekanntes Land anzutreten. Aber ihre Familienbande waren in Brasilien. Und so musste sie erneut Lebewohl sagen. Sie respektierte den Wunsch ihres Vaters, verabschiedete sich von den „Tanten” Victorson und ließ ihr zweites „Zuhause” hinter sich. Im Februar 1947 ging sie an Bord des Schiffes „Annie Johnson” in Richtung Rio de Janeiro – eine Reise über den Atlantik, die einen Monat dauern sollte – und sah ihren Vater nach acht Jahren wieder.
Sie hielt engen Kontakt zu ihren drei „Tanten” Victorson, für die sie eine tiefe Dankbarkeit empfand – wie auch eine Sympathie für Schweden, wo sie Solidarität erlebt hatte, wie es sie in Deutschland nicht gegeben hatte. Sie schrieb Karten und Briefe mit vielen Fotos und sandte ihnen selbst gemalte Bilder von ihren ersten Eindrücken auf dem neuen Kontinent.
Eva lebte mit ihrem Vater in Sao Paulo in einem Stadtviertel mit besonders vielen Familien deutscher Herkunft, lernte portugiesisch – was sie viel schwieriger fand als schwedisch -, absolvierte eine Ausbildung als Sekretärin und wurde Fremdsprachenkorrespondentin. Am 14. Oktober 1951 wurde sie eingebürgert. Je besser sie die portugiesische Sprache beherrschte, desto reger wurde auch ihr gesellschaftliches Leben. Sie lernte ihren späteren Ehemann, José Roberto Graf kennen, der einen deutschen Vater hatte. 1957 heirateten die beiden und bekamen die Tochter Silvia Irene, den Sohn Fernando und viele Enkelkinder.
Evas Einstellung zu Deutschland – Ort ihrer Muttersprache und Geburt, aber auch Ort des totalen Bruchs und der Trennung – wird ihr Leben lang zwiespältig bleiben. Fragen ihrer Kinder und Enkelkinder beantwortet sie sehr kurz, um nicht starke Emotionen bei sich und den anderen hervorzurufen. Die Identifikation aufgrund ihrer ursprünglichen Nationalität ist für sie bedeutungslos, und es fällt ihr schwer, über die Erinnerungen zu sprechen. Trotz anfänglicher Bedenken nahm sie die Einladung des Berliner Senats für von den Nationalsozialisten verfolgte ehemalige Bürgerinnen und Bürger der Stadt an und besuchte Berlin in den 1990er Jahren. Danach berichtete sie von positiven Erfahrungen mit der neuen Generation. So wurde es für sie leichter, auf ihren vielen Reisen – z. B. zum Exilort ihres Vaters in der Schweiz, zu ihrer Mutter in London und zu den „Tanten” Victorson in Stockholm – auch Deutschland zu besuchen.
Eva Graf geb. Reichenbach lebt nach wie vor in Sao Paulo (2024) und erlebte die Verlegung dieser Stolpersteine per Video-Telefonat mit ihrem Enkel Daniel Graf mit.
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