Am 14. Dezember 1940, fünf Monate nach dem Umzug in die Konstanzer Straße 7, starb Elses Mann Martin in eben dieser Wohnung. Er wurde auf Antrag seiner Frau am 7. Januar 1941 auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt.
Aus den Akten des Entschädigungsamtes Berlin (Nr. 79550-C2) geht hervor, dass Else ab dem 19. Juli 1941 verpflichtet war, in der Öffentlichkeit den Judenstern auf ihrer Kleidung zu tragen. Im selben Jahr wurde Else erneut umgesiedelt. Am 22. November 1941 schreibt sie an ihre Enkelin: „Denke dir, mein Liebling, ich ziehe wieder in ein anderes Zimmer. Also schicke Deine Briefe von jetzt ab an folgende Adresse: Sächsischestraße 5., bei Bacher. Berlin W. 15. Ich teil das Zimmer mit einer sehr netten Dame, mit der ich auch schon hier zusammen wohne. Wahrscheinlich werden wir bald nach den Feiertagen umziehen können.”. Die Aussagen „bei Bacher” und „ich ziehe wieder in ein anderes Zimmer” können – auch in Zusammenhang mit dem vorangegangenen Brief – nur bedeuten, dass es sich bei bei den Umzügen in die Konstanzer und die Sächsische Straße um zugewiesene Zimmer in Untermiete, also Zwangsadressen handelte. Ab dem 29. Dezember 1941 bezog Else Reichenbach
ein Zimmer in der Sächsischen Straße 5.
Else erzählte Eva immer von ihren Großeltern mütterlicherseits, die in der Nähe wohnten. (Für Arthur Landsberger und seine Frau Käthe Landsberger liegen Stolpersteine in der Giesebrechtstraße 7). In einem Brief vom 12. Januar 1942 teilt Else ihrer Enkelin mit, dass sie immer noch keine Nachricht von ihren Großeltern habe. Es lässt sich nicht sagen, ob Else nichts über den Verbleib von Arthur und Käthe wusste oder ob sie ihrer 12-jährigen Enkelin nicht davon berichten wollte, aber Tatsache ist, dass sie bereits am 18. Oktober 1941 nach Lodz/Litzmannstadt deportiert worden waren.
Auch aus der Sächsischen Straße gibt es einen Brief vom 24. April 1942, den Else über das Rote Kreuz an ihren Sohn Ernst in São Paulo schickte, aus dem hervorgeht, dass sie sich um die Flucht aus Deutschland bemühte und ihrem Sohn von diesem Vorhaben berichtete: „Erwarte sehnsuchtsvoll Nachricht. Ich bin gesund. Mein Generalbevollmächtigter Konsulent Dr. Kurt Israel Sachs, Berlin W.8 Kronenstraße 60. Mir warm empfohlen, interessevoll.”.
Während sich Else in Berlin mit der Auswanderungsbürokratie herumschlug, scheute Ernst in Brasilien keine Mühen, die Einreiseerlaubnis für Mutter und Tochter zu erhalten. Die Formalitäten umfassten unter anderem einen speziellen Brief, der direkt an den damaligen brasilianischen Präsidenten Getúlio Vargas geschickt wurde – verfasst von dem zuständigen Anwalt in Brasilien – ein Standardverfahren, in dem ein Ton der Demut und des wiederholten Flehens vorherrscht. Den Brief seiner Mutter erhielt Ernst offenbar erst ein Jahr später, denn der Eingangsstempel des Roten Kreuzes in Brasilien ist auf den 17. Juni 1943 datiert – zu spät. Else war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben.
Am 1. Juni 1942 war bereits ihr gesamtes Vermögen entwendet worden, ihre letzten Möbel und Textilien wurden an den Händler Karl Riebow verkauft. Zehn Tage später, am 11. Juni 1942 – einen Monat vor ihrer Deportation – schickte Else erneut über das Rote Kreuz ein verzweifeltes und bereits hoffnungsloses Telegramm an ihren Sohn: „Sehnsuchtvollst, tieftraurig drücke Euch mein Herz. Gott schütze, behüte Euch! Elly nachrichtenlos, Puis verstorben. Sagt Egoistin Hella, unaussprechlichster, tiefster Groll. Liebste Beide, ewige Liebe, Mutter.”. Dieses Telegramm wurde erst am 20. April 1943 in Brasilien empfangen, sicherlich ließ diese letzte Nachricht Ernst besorgt.
Die letzte bekannte Nachricht von Else an ihre Familie kam von der Sächsischen Straße 5, eine Postkarte vom 5. Juli 1942 an ihre Enkelin Eva: „Mein Liebling, ich Küsse und umarme Dich in Gedanken von ganzem Herzen! Schreibe doch bald an Pappi, er schreibt, dass er hofft, dass Du genesen bist. Bleibe gesund und vergnügt! Alles, alles Liebe von Deiner Oma Else.”. Drei Tage später wurde Else Reichenbach am 8. Juli.1942 nach Theresienstadt deportiert.
1942 war Theresienstadt u.a. ein Sammellager für die Transporte aus dem sog. „Reich“, um die Menschen dann weiter in die Vernichtungslager im Osten zu deportieren. Ab 1942 war das Ghetto aufgrund von Massendeportationen total überfüllt, es herrschte Mangel an Platz, Lebensmitteln und Medikamenten. Im September 1942 gab es über 58 000 Insassen, Alte, Kranke, Blinde, aber auch Kinder. Viele hatten nicht einmal einen Schlafplatz, ständig grassierten Krankheiten und wer überlebte, wurde in die Vernichtungslager transportiert, wo dann die meisten sofort umgebracht wurden.
Auch Else Reichenbach wurde am 19. September 1942 nach Treblinka deportiert, wo sie ermordet wurde.
Recherche und Text: Angelika Kaufel, Daniel Graf und Jolin Masche
Fotocollage mit Material aus Bildarchiv: Daniel Graf
Quellen:
- Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Bestand Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II), Akte (Nr. 30784) der “Vermögensverwertungsstelle”),
- Bundesarchiv,
- Landesarchiv Berlin (3 Akten aus B Rep. 025 (P – R) – Wiedergutmachungsämter von Berlin / Sterbeurkunde Akte B Rep. 025-07, Nr. 1389/64),
- Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (Beisetzungsunterlagen des Jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee),
- Persönliches Archiv.