am Dienstag, dem 7.2.2006, 17.00 Uhr, Meinekestr.6.
Ernest Wichner ist Leiter des Literaturhauses Berlin .
“Ich hatte bekannte Straßen bei euch mit Steinen, die Guten Tag sagten zu meinen Füßen, wenn sie darauf traten”, schreibt Doris, die Heldin aus Irmgard Keuns Roman “Das kunstseidene Mädchen” aus Berlin an ihre Mutter nach Köln, denn nun ist das Kölner Mädchen in Berlin und meint, “Alle sollten nach Berlin. Mein Leben ist Berlin und ich bin Berlin. Und das ist doch eine mittlere Stadt, wo ich her bin, und ein Rheinland mit Industrie.”
Nein, Irmgard Keuns Romanfigur Doris, die aus ihrer Geburtsstadt Köln in einem gestohlenen feinen Mantel nach Berlin geflohen ist, um ein Glanz zu werden, ist keine autobiographische Gestalt, der Roman ist wie der erste “Gilgi, eine von uns”, mit dem Irmgard Keuns kurze und steile Karriere zu Beginn der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts begonnen hatte, ein typisches Stück Rollenprosa. Die mehr oder weniger sachlich ihre Aufstiegschancen taxierenden kleinen Bürofräuleins sind Kölnerinnen, denen die große Reichshauptstadt letzter Zufluchtsort vor dem drohenden Abstieg oder verheißungsvolles Aufstiegsmilieu sind, während die Autorin selbst vor hundertundeinem Jahr am 6. Februar in der neuen und guten bürgerlichen Wohngegend in Berlin Charlottenburg (Meinekestraße 6) geboren wurde – und nicht 1910, wie nach wie vor in einigen Nachschlagewerken nachzulesen ist.
Im ersten Jahr hatte die Familie – der Vater war Kaufmann bei einer Benzin-Importfirma – im Gartenhaus gewohnt, dann zog sie in die zweite Etage des Vorderhauses. Als Irmgard Keun 8 Jahre alt war ging die Familie nach Köln. Erst Irmgard Keuns unruhige Romanfiguren bewegen sich dann wieder auf Berlin zu; Doris, das kunstseidene Mädchen, wird die Stadt topographisch und in ihren unterschiedlichen sozialen Milieus durchmessen.
Mit Beginn des Nationalsozialismus geraten Irmgard Keuns populäre Romane auf die “Liste des auszusondernden Schrifttums”; die Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller wird ebenso verweigert wie später in die Reichsschrifttumskammer, was faktisch das Berufsverbot zur Folge hat.
Am 4. Mai 1936 reist sie, mittlerweile mit Johannes Tralow verheiratet, ohne diesen aus Deutschland ab nach Ostende in Belgien. Die deutsche Abteilung des niederländischen Verlags Allert de Lange wird nun kurzfristig ihre literarische Heimat. Ihr Buch “Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften” erscheint im Sommer 1936 im Verlag von Egon Erwin Kisch, Theodor Plivier, Joseph Roth und Georg Hermann.
Und schon im Februar des nächsten Jahres erschien der Roman “Nach Mitternacht” im zweiten prominenten Exilverlag – nämlich bei Querido in Amsterdam. Ein Buch über Leben, Lieben und Anpassung, Widerstehen und Leiden im Deutschland der ersten Jahre unter Hitler. Vor allem aber ein Buch, das in seiner genauen Sprache eine Analyse der Nazifizierung des Bewusstseins durch die Sprache darstellt und die Nazifizierung der Gesellschaft durch Anpassung, Mitläufertum und allgegenwärtigen Verrat.
Die wenigen Exil-Jahre in Belgien und den Niederlanden, auf Reisen quer durch Europa mit ihrem Freund und Partner Joseph Roth, müssen auch literarisch eine produktive Zeit für Irmgard Keun gewesen sein: 1938 veröffentlicht sie den Roman “D-Zug dritter Klasse” und noch im gleichen Jahr den Roman “Kind aller Länder”. Die Bücher werden in viele europäische Sprachen übersetzt – Irmgard Keun ist die meistverbreitete deutsche Schriftstellerin der dreißiger Jahre.
1940, nachdem Nazideutschland Belgien, die Niederlande und Frankreich besetzt hat, verkündet eine Zeitungsmeldung im “Daily Telegraph” den Selbstmordtod der deutschen Schriftsteller Irmgard Keun und Walter Hasenclever. Zwei Monate später – im Oktober 1940 – erfährt ihr Freund Arnold Strauß in Amerika in einem Brief von Irmgard Keun, dass sie zurück in Deutschland sei: sie hatte sich einen falschen Pass ausstellen lassen und war unerkannt nach Köln zu ihren Eltern zurückgekehrt.
Obwohl mittlerweile von Johannes Tralow geschieden, steht in der “Jahresliste 1941 des verbotenen und unerwünschten Schrifttums”: “Tralow, Irmgard: sämtliche Schriften”.
Irmgard Keun überlebt die Bombardements deutscher Städte in den letzten Kriegsjahren und ist nach 1945 mit Sketchen in der Sendereihe “Kabarett der Zeit” im NWDR Köln mit satirischen Texten zur Stelle. Nach Art eines ethnologischen Berichts über ein exotisches Land karikiert sie nun die Beschaffungskultur auf Tauschbasis, die verlogene Entnazifizierung, das Bestechungswesen und den Schwarzmarkt. Was sie wirklich über ihre Mitbürger denkt, teilt sie allerdings nur Freunden – etwa Hermann Kesten – in Briefen mit:
“Die Menschen in Deutschland sind genau wie sie immer waren. Sie tragen keine Hakenkreuze mehr am Anzug, aber sonst hat sich nichts mit ihnen geändert. An Köln ist das beste, dass es kaputt ist. Sowas darf ich aber noch nicht einmal den paar Leuten sagen, die keine Nazis sind und auch keine waren.”
Ihr harmlosestes Buch “Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften” wird in der Nachkriegszeit zu ihrem meistgelesenen Buch – auch dies ein Symptom für die Verdrängungsenergie ihrer Zeitgenossen. “Nach Mitternacht” wird 1946 schon in der “Neuen Berliner Illustrierten” in mehreren Folgen abgedruckt, als Buch erscheint der Roman allerdings erst 1956 in der DDR.
“Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen” – ihr letzter Roman – erscheint 1950. Anschließend beginnt es still zu werden um die Autorin, die erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre allmählich wiederentdeckt wird und im November 1981 ihren ersten und letzten Literaturpreis erhält. Ein halbes Jahr später – am 5. Mai 1982 – stirbt Irmgard Keun.
Hermann Kesten hatte im Vorwort zu Irmgard Keuns letztem Roman ein knappes Porträt von ihr entworfen: “Dieses hübsche Mädchen, das so blond ist und mit seinen schönen blauen Augen dich so unschuldig anschaut, spießt auf seiner spitzen Feder ganze Sprachbrocken ihrer Zeitgenossen und Kompatrioten auf, die vom Ausverkauf ihrer verlotterten Sprache und Seele leben.”
Dieses hübsche, blonde und mutige Mädchen, das für die rauhen Zeitumstände, in die es geraten ist, zu zerbrechlich war, und sich trotzdem charakterstark und geistvoll, analytisch und satirisch mit dieser Zeit und ihren Deformationen in und an den Menschen auseinandergesetzt hat, bewies mehr Würde und Wahrheitssinn als so mancher robuste Kerl. Und sie hinterließ Bücher, die der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts weltweit Leser und Bewunderung eintrugen. Wir haben ihr zu danken und ihrer zu gedenken, indem wir ihre Bücher lesen und weiterempfehlen. Dies möge künftig auch die Tafel leisten, die demnächst hier an sie erinnern wird.