Sehr geehrte Frau Nachama!
Sehr geehrter Herr Prof. Nachama!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Vielen Dank für die Einladung. Ich bin mir bewusst, dass ich Eulen nach Athen trage, wenn ich Ihnen hier etwas über Erinnerungsarbeit erzähle. Umso mehr freue ich mich, dass ich Ihnen einige Bemerkungen zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Erinnerungsarbeit in Charlottenburg-Wilmersdorf vortragen darf. Beginnen möchte ich mit einem kurzen Auszug aus meinem Terminkalender:
Am 6. Oktober habe ich in der Paul-Hetz-Siedlung eine Gedenkstele für Paul Hertz enthüllt. Am gleichen Tag wurde an der Joachim-Friedrich-Straße 48 eine Gedenktafel für Meret Oppenheim enthüllt.
Am 11. Oktober hat Stadtrat Schulte mich bei einem Kiezspaziergang mit rund 200 Personen über den interkonfessionellen Friedhof Heerstraße vertreten, anlässlich des 90jährigen Bestehens dieses Friedhofs.
Am 14. Oktober wurden in unserem Bezirk 21 Stolpersteine verlegt
Am 15. Oktober wurde am Mahnmal Gleis 17 am S-Bahnhof Grunewald des Beginns der Deportationen aus Berlin am 18. Oktober 1941 gedacht.
Am 18. Oktober wurden in unserem Bezirk 19 Stolpersteine verlegt.
Übermorgen, am 7. November werden Schülerinnen und Schüler wieder wie seit 1988 die Gedenkfeier zum Novemberpogrom veranstalten – mit einem Schweigemarsch vom Walther-Rathenau-Gedenkstein an der Koenigsallee zum Mahnmal am Bahnhof Grunewald, wo eine Kundgebung Gegen Rassismus, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit stattfindet.
Am Tag danach, am 8. November veranstalte ich einen Kiezspaziergang mit voraussichtlich mindestens 200 interessierten Bürgerinnen und Bürgern vom Sophie-Charlotte-Platz zum RBB am Theodor-Heuss-Platz, wo wir unter anderem an Gedenktafeln für Bernhard Weiß, Armin T. Wegner, Paula Fürst und die Theodor-Herzl-Schule Station machen, um uns mit der jüdischen Geschichte und der NS-Geschichte in Charlottenburg-Wilmersdorf auseinander zu setzen. Am Ende werden wir dann im Fernsehzentrum des RBB eine Ausstellung über 25 Jahre Mauerfall besichtigen.
1. Erinnerungsarbeit
Dies waren nur wenige Beispiele für Erinnerungsarbeit in Charlottenburg-Wilmersdorf in diesen Tagen. Dabei geht es nicht nur um die Veranstaltungen, sondern vor allem auch um die dauerhaft öffentlich sichtbaren Zeichen der Erinnerung, zu denen in Charlottenburg-Wilmersdorf mehr als 300 Gedenktafeln und mehr als 2.600 Stolpersteine gehören.
Wenn wir von Erinnerungsarbeit sprechen, dann meinen wir meist nicht die gesamte Geschichte, die uns geprägt hat, sondern wir meinen die 12 Jahre des Nationalsozialismus, die in dem Menschheitsverbrechen der Deutschen endeten, das mit Begriffen wie Auschwitz, Holocaust und Shoa bezeichnet wird, das uns aber bis heute letztlich unbegreiflich ist.
Nach Jahren des Verdrängens haben wir uns in den letzten Jahren sehr intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und dabei eine Gedenkkultur entwickelt, die meist sehr konkret an den authentischen Orten des Geschehens Zeichen des Erinnerns setzt. Damit ist die Vergangenheit im öffentlichen Raum präsent, und wir wenden uns ausdrücklich gegen das Vergessen. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig, sondern vor allem auch uns selbst. Denn aus der Vergangenheit lernen können wir nur, wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen.
Diese Auseinandersetzung wird nicht zu beenden sein. Sie ist prozesshaft, denn auch unser Geschichtsbild ist dem historischen Wandel unterworfen. Die Erkenntnis der Geschichte ist nicht irgendwann abgeschlossen, sondern sie wird mit immer wieder neuen Fragestellungen immer wieder neu erzählt. Das gilt für die Zeit des Nationalsozialismus in besonderem Maße. Diese Zeit erscheint uns so fern wie das finsterste Mittelalter, aber sie ist uns so nahe, dass wir uns noch mit Zeitzeugen unterhalten können, die sie erlebt haben.
“Nie wieder Auschwitz!” ist vor allem für viele politisch aktive Menschen zum Maßstab ihres Handelns geworden. Der Satz bezeichnet einen Grundkonsens aller Demokraten in unserer Gesellschaft. Es ist einer der wenigen Sätze, dem nicht zu widersprechen ist. Er ist absolut. Mit unserer Erinnerungsarbeit bekräftigen wir diesen Satz immer wieder neu. Die Erinnerungsarbeit wird inzwischen von vielen Bürgerinnen und Bürgern aktiv betrieben, in Charlottenburg-Wilmersdorf beispielsweise von der Stolpersteine-Initiative.
Die intensive Erinnerungsarbeit gerade in Charlottenburg-Wilmersdorf ist kein Zufall, denn Charlottenburg und Wilmersdorf waren den 1920er Jahren die beiden Bezirke mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung.
1933 haben in Charlottenburg und Wilmersdorf jeweils rund 27.000 Juden gelebt, das waren in Charlottenburg knapp 8 Prozent der Bevölkerung, in dem kleineren Bezirk Wilmersdorf rund 14 Prozent der Bevölkerung. In ganz Berlin lebten damals 173.000 Juden. 55.000 wurden Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen. Nur 9.000 überlebten in Berlin. Heute leben wieder etwa 12.000 Juden in Berlin.
Im möchte im Folgenden einige Stationen der Erinnerungsarbeit in Charlottenburg-Wilmersdorf nachzeichnen und diese in den Zusammenhang der deutschen Geschichte nach 1945 stellen.
Die Geschichte der Erinnerungsarbeit verlief nicht geradlinig, sondern mit heftigen Brüchen.
2. Nachkriegszeit, 1950er Jahre
Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Neigung nicht sehr groß, sich mit der soeben zu Ende gegangenen Epoche der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Wer nicht wie Inge Deutschkron, Hans Rosenthal und andere Überlebende das Ende herbeigesehnt hatte, erlebte es als Zusammenbruch, ja als Niederlage. Es galt, das eigene Überleben zu sichern und den Wiederaufbau zu schaffen. Die Nürnberger Prozesse wurden als Strafgericht der Alliierten wahrgenommen. Mit dem Tod der obersten Repräsentanten des Systems schien die Sache abgetan. Das wahre Ausmaß der Verbrechen und die hohe Zahl der beteiligten Täterinnen und Täter wurden verdrängt.
In dieser frühen Phase der Erinnerung beschäftigte sich die westdeutsche Gesellschaft fast ausschließlich mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
1947 bereits wurde in der Charlottenburger Altstadt die damalige Kauffmannstraße nach dem Widerstandskämpfer Theodor Haubach (1896-1945) benannt. Er war SPD-Mitglied, aktiv bei den religiösen Sozialisten und nach der Beseitigung Hitlers als Informationsminister vorgesehen. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und Anfang 1945 in Plötzensee ermordet.
1950 kamen Gierkeplatz und Gierkezeile nach Anna von Gierke und der Klausenerplatz nach Erich Klausener hinzu. 1950 wurde auch die zum Gefängnis Plötzensee führende Straße als Hüttigpfad nach dem Widerstandskämpfer und Kommunisten Richard Hüttig (1908-1934) benannt. 1952 wurde vom Land Berlin in Charlottenburg-Nord die Gedenkstätte Plötzensee eröffnet. Hier wurde und wird an 2.891 Menschen erinnert, die zwischen 1933 und 1945 im Gefängnis Plötzensee hingerichtet wurden, unter anderem Mitglieder der Roten Kapelle, Teilnehmer des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 und Mitglieder des Kreisauer Kreises.
1953 wurde der Goerdelerdamm nach Carl Friedrich Goerdeler benannt.
1953 stellte der Bund der Verfolgten des Naziregimes auf dem Steinplatz an der Hardenbergstraße den Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus auf – in symmetrischer Anordnung zu dem bereits 1951 aufgestellten Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus. Man beachte die zeitliche Abfolge.
Im Frühjahr 1957 stritten der Berliner Senat und der Bezirk Charlottenburg über die Benennung der neuen Straßen in Charlottenburg-Nord. Der Senat plädierte für Architekten und Ingenieure wie im anschließenden Siemensstadt, der Bezirk plädierte für Widerstandskämpfer. Zwischenzeitlich drohten sogar Bewohnerinnen und Bewohner der namenlosen Straßen: “Wir taufen sie selbst!” Schließlich setzte sich der Bezirk durch, und neun Straßen wurden nach Widerstandskämpfern benannt, von denen fast alle in Plötzensee hingerichtet worden waren:
Dahrendorfzeile Habermannzeile, Haeftenzeile Halemweg, Heilmannring. Hofackerzeile, Letterhausweg, Popitzweg und Schneppenhorstweg.
Erinnerungen an Widerstandskämpfer waren aber eher die Ausnahme im öffentlichen Raum. Mit dem Wiederaufbau war oft auch die Tilgung von Spuren der Vergangenheit verbunden. Der Abriss der Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche war schon geplant. Er konnte Mitte der 1950er Jahre durch Bürgerproteste verhindert werden, so dass schließlich von 1959 bis 1961 die Ergänzungsbauten von Egon Eiermann um die Ruine herum gebaut wurden, die bis heute ein Wahrzeichen Berlins und eines der populärsten Mahnmale gegen den Krieg ist.
Dagegen wurden die Ruinen von großen, bedeutenden Synagogen in den 1950er Jahren abgerissen.
1957 ließ die Jüdische Gemeinde die Synagoge Charlottenburg an der Fasanenstraße 79-80 abreißen und baute an ihrer Stelle das Jüdische Gemeindehaus. Der Saalbau erinnert mit drei Oberlichtkuppeln an die zerstörte Synagoge. Vor dem Eingang über einer breiten Freitreppe erinnern Reste des alten Portals an die Synagoge. Im Innenhof trägt eine Gedenkwand die Namen von 22 Ghettos, Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslagern.
1959 wurden die Synagoge “Friedenstempel” Halensee an der Markgraf-Albrecht-Straße 11-12, die Synagoge Wilmersdorf an der Prinzregentenstraße 69-70 und die Synagoge Grunewald an der Franzensbader Straße 7-8 abgerissen und durch Mietshäuser ersetzt.
3. 1960er und 70er Jahre
In Charlottenburg-Nord wurde die Erinnerung an Widerstandskämpfer zu Beginn der 1960er Jahre fortgesetzt.
1961 wurde der frühere Siemensplatz in Jakob-Kaiser-Platz umbenannt. 1962 wurden die meisten Straßen der neu entstehenden Paul-Hertz-Siedlung nach Widerstandskämpfern benannt, von denen viele in Plötzensee hingerichtet worden waren. Im Unterschied zum westlichen Teil von Charlottenburg-Nord, wo es fünf Jahre zuvor Streit zwischen Senat und Bezirk gegeben hatte, einigte man sich dieses Mal rechtzeitig, so dass die Straßen pünktlich zur Fertigstellung der Siedlung benannt werden konnten: Bernhard-Lichtenberg-Straße, Gloedenpfad, Kirchnerpfad, Klausingring, Leuningerpfad, Reichweindamm, Schwambzeile, Strünckweg, Teichgräberzeile, Terwielsteig, Wiersichweg und Wirmerzeile.
Am 7. April 1963 schrieb der “Telegraph”:
“Immerhin ist dieses Straßenmahnmal ein Verdienst des Bezirks Charlottenburg. Einige der Briefe, die von Hinterbliebenen der Widerstandskämpfer an den Senat geschrieben wurden, entbehren einer gewissen Zurückhaltung nicht. Ein leicht bitterer Unterton – warum erst jetzt? – klingt an.
Das Schreiben allerdings, das von der Mutter Friedrich Karl Klausings, des jungen Adjutanten Graf Stauffenbergs, an den Senat geschickt wurde, soll besonders hervorgehoben werden. Einem herzlichen Dankbrief legte die Absenderin 50 DM für eine kinderreiche Familie bei. In einer Karte an diese kommt die Hoffnung der Spenderin zum Ausdruck, dass jene Kinder und alle anderen, die in der Siedlung aufwachsen, zu politisch verantwortungsbewussten, aber auch heiteren Menschen heranwachsen mögen.”
Mit drei Kirchenbauten wurden in Charlottenburg-Nord bedeutende Zeichen und Institutionen des Gedenkens gesetzt:
1963 wurde die katholische Gedenkkirche Maria Regina Martyrum eingeweiht. Der von einer hohen Mauer umgebene große kahle Hof weckt die Assoziation eines Gefängnishofes oder Appellplatzes. Im Gedenkraum der “Märtyrer für Glaubens- und Gewissensfreiheit” befinden sich vier Bodenplatten mit Inschriften zum Gedenken an Opfer der NS-Gewaltherrschaft. Hier befinden sich auch das Grab von Erich Klausener und eine Gedenkstätte für den Dompropst Lichtenberg.
1964 wurde die Sühne-Christi-Kirche mit einem Mahnmal zum Gedenken an Schreckensorte der menschlichen Geschichte von Florian Breuer eingeweiht. Vor eine zwanzig Meter lange Ziegelsteinmauer, die aus der Kirche herauswächst, schieben sich Betonblöcke mit den Aufschriften “Plötzensee”, “Auschwitz”, “Hiroshima”, “Mauern” und im Kircheninnern “Golgatha”. Ein vor der Mauer liegender Block trägt die Inschrift: “Horch das Blut / deines Bruders / schreit zu mir / von der Erde.”
1970 wurde das Evangelische Gemeindezentrum Plötzensee eingeweiht. Es thematisiert die Nähe zur Gedenkstätte Plötzensee mit dem “Plötzenseer Totentanz”, einem Zyklus von sechzehn großformatigen Zeichnungen von Alfred Hrdlicka aus den Jahren 1968-1972. Hinrichtungsdarstellungen werden verbunden mit biblischen und gegenwartsbezogenen Themen.
Auch in den 1960er Jahren war aber von historischer Spurensuche nicht die Rede. Im Gegenteil: Viele Spuren der Vergangenheit wurden weiterhin getilgt. Der Name “Auschwitz” wurde zwar zum Synonym für den millionenfachen Mord an den Juden. Aber man dachte dabei weniger an das konkrete Geschehen im Vernichtungslager, sondern eher abstrakt an das Vernichtungsprogramm insgesamt.
Die aufkommende Studentenbewegung verstand sich zwar als “antifaschistisch”. Aber in ihren Faschismustheorien interessierte sie sich zumeist nicht für historische Einzelheiten. Man sprach nicht konkret vom Nationalsozialismus, sondern pauschal und abstrakt vom Faschismus, der als besonders brutale Ausprägung des Monopolkapitalismus galt. Einzelschicksale und historische Details interessierten nicht. Der Einzelne galt als willenloses Werkzeug der Monopole. Das Individuum, persönliche Verantwortung oder auch persönliche Schuld hatten in diesen Erklärungsmodellen keinen Platz.
Öffentliche Zeichen der konkreten Erinnerung gab es nur in Ausnahmefällen. So ließ der Bund der Verfolgten des Naziregimes an dem Stellwärterhäuschen am Güterbahnhof Grunewald eine kleine Gedenktafel anbringen, die an die Deportationen jüdischer Berlinerinnen und Berliner erinnerte.
1966 wurde an dem Haus an der Düsseldorfer Straße 47 eine kleine Bonzetafel angebracht, die an Leon Jessel, den jüdischen Komponisten der Operette “Schwarzwaldmädel”, erinnert, der am 4. Januar 1942 an den Folgen nationalsozialistischer Haft starb. Solche vereinzelte Gedenktafeln gingen in dieser Zeit meist auf die Initiative von persönlich betroffenen Nachkommen zurück.
1973 erschien die Hitler-Biografie von Joachim Fest. Bei der Berlinale 1977 wurde der darauf aufbauende dokumentarische Kinofilm “Hitler – Eine Karriere” uraufgeführt. Die Nürnberger Rassegesetze kommen in dem Buch nicht vor, die Novemberpogrome werden nur kurz gestreift, und der massenhafte Mord an den Juden wird auf drei von insgesamt 1280 Seiten abgehandelt.
Ganz anders die 1978 erschienen “Anmerkungen zu Hitler” von Sebastian Haffner. Er thematisiert Hitlers Erfolge und Hitlers Verbrechen in jeweils eigenen Kapiteln.
1979 wirkte die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie “Holocaust” im deutschen Fernsehen wie ein Schock. “Die Geschichte der Familie Weiß” konfrontierte die Erlebnisgeneration des Dritten Reiches und die Nachkriegsgeneration zum ersten Mal mit einem konkreten Beispiel für das tödliche Schicksal deutscher Juden im Nationalsozialismus. Jetzt erst rückte der Alltag von betroffenen Menschen und die schreckliche Normalität der Täter in den Blickpunkt.
Der Eindruck dieser Filme war so stark, dass sich seither der Begriff “Holocaust” zur Bezeichnung der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden durchgesetzt hat. Das aus dem Griechischen stammende Wort bedeutet ursprünglich “Brandopfer” und ist deshalb problematisch. 1985 hat Claude Lanzmann seinen bedrückenden Film mit Zeitzeugen der Vernichtung “Shoah” genannt. Seither wird dieses hebräische Wort (auch “Shoa” geschrieben) oft synonym mit “Holocaust” verwendet. Es bedeutet “Unheil” oder “große Katastrophe” und ist deshalb zutreffender als der Begriff “Holocaust”.
4. Streit um das Geschichtsverständnis in den 1980er Jahren
Um die Konsequenzen aus dem Holocaust-Schock wurde in den 1980er Jahren zum Teil leidenschaftlich gerungen.
1981 wurde in Berlin die Geschichtswerkstatt gegründet. Junge, alternative Historiker, die der Hausbesetzerbewegung nahestanden, propagierten die schwedische Tradition des “Grabe, wo du stehst”. Die Lokalgeschichte bekam eine große Bedeutung, und die historische Dimension wurde mit dem gegenwärtigen Alltag verbunden. Eine wichtige Methode der historischen Forschung wurde die Befragung von Zeitzeugen.
1983 gab der “VVN Westberlin – Verband der Antifaschisten” gemeinsam mit der Friedensinitiative Wilmersdorf eine 60seitige Broschüre heraus mit dem Titel “Wilmersdorf. Alltag und Widerstand im Faschismus”. Diese Broschüre markiert als eine der ersten den Übergang von der Faschismustheorie zum konkreten historischen Interesse an der Alltagsgeschichte.
1983 begann die Gedenkstätte Deutscher Widerstand mit der Herausgabe einer Buchreihe über den Widerstand in den Berliner Bezirken mit dem Band 1 über Wedding. Band 5 über Charlottenburg erschien 1991, Band 7 über Wilmersdorf 1993.
Am 8. Mai 1985 hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine berühmt gewordene Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes und bezeichnete darin den 8. Mai als einen “Tag der Befreiung”. Damit erntete er aber damals nicht nur Zustimmung, sondern formulierte eine Position, die sich erst in den Auseinandersetzungen der folgenden Jahre als Konsens durchsetzte.
In Wilmersdorf verhinderte damals beispielsweise eine konservative Mehrheit in der BVV, dass eine historisch-kritische Ausstellung zu dem von NS-Bauten geprägten Fehrbelliner Platz im Rathaus Wilmersdorf gezeigt werden konnte.
Jahrelang wurde in der BVV über die Rückbenennung oder Umbenennung von Straßen gestritten, deren Namen aus der NS-Zeit nach dem Krieg nicht geändert worden waren.
In dem von Ernst Nolte und Jürgen Habermas 1986 ausgelösten Historikerstreit ging es um die Frage, ob der Nationalsozialismus einzigartig oder mit anderen historischen Verbrechen vergleichbar sei. Im Ergebnis wurde die Einzigartigkeit festgestellt und die Notwendigkeit der Erinnerung in Deutschland postuliert. Oft zitiert wurde seither die jüdische Weisheit “Nur in der Erinnerung liegt die Erlösung.”
5. Aktive Erinnerungsarbeit seit dem Ende der 1980er Jahre
Die 750-Jahr-Feier Berlin 1987 nahm die neuen Fragestellungen auf und beteiligte die damals 12 West-Berliner Bezirke aktiv an den Feierlichkeiten. Die Berliner Sparkasse stiftete ein Gedenktafelprogramm, das in den Bezirken realisiert werden sollte. Viele der rund 200 in Charlottenburg und Wilmersdorf seither enthüllten Porzellantafeln der KPM erinnern an bedeutende Persönlichkeiten, die nach 1933 aus Deutschland fliehen mussten oder die verfolgt und ermordet wurden. Auch außerhalb des Berliner Gedenktafelprogramms entstanden entsprechende Gedenktafeln. Seither wird an ihren früheren Wohnhäusern erinnert an Walter Benjamin, Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, George Grosz, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Erich Mendelsohn, Franz von Mendelssohn, Carl von Ossietzky, Else Ury, Armin T. Wegner und viele andere. Einige Gedenktafeln erinnern auch an frühere jüdische Organisationen wie den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, den Philo-Verlag oder das Haus der
zionistischen Organisationen.
1987 gab das Kunstamt Wilmersdorf das Buch “Berlin Wilmersdorf. Die Juden. Leben und Leiden” heraus. Darin wurde neben Einzelschicksalen auch ein Wilmersdorfer Auszug aus der Liste der “Osttransporte” veröffentlich, das heißt eine nach Straßennamen sortierte Liste der Namen der deportierten Jüdinnen und Juden aus Wilmersdorf. Ein vergleichbares Buch für Charlottenburg erschien erst 2009 unter dem Titel “Juden in Charlottenburg. Ein Gedenkbuch”.
Eine besondere Bedeutung als Gedenkstätte hat der Bahnhof Grunewald, denn hier fuhr am 18. Oktober 1941 der erste Deportationszug aus Berlin ab. Zunächst erinnerte wie bereits erwähnt nur eine kleine Gedenktafel des BVN am Stellwärterhaus des früheren Güterbahnhofs daran.
Dann errichtete 1987 eine Bürgerinitiative auf dem Vorplatz eine kleine Gedenkstätte aus Bahnschwellen. 1991 wurde an der Zugangsstraße das Mahnmal des Berliner Senats enthüllt, und 1998 eröffnete die Deutsche Bahn auf dem ehemaligen Bahnsteig das begehbare Mahnmal “Gleis 17”. Hier haben schon viele Staatsgäste aus Israel Kränze niedergelegt, und seit 1988 organisieren jedes Jahr am 9. November Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit der Landespolizeischule und dem Bezirksamt das Gedenken vor Ort, das am Rathenau-Gedenkstein an der Koenigsallee Ecke Erdener Straße beginnt und am Bahnhof Grunewald endet. Für viele Juden ist dies die wichtigste Gedenkstätte in Berlin, denn es ist ein authentischer Ort. Hier wurden die jüdischen Männer, Frauen und Kinder aus Berlin in die Deportationszüge verladen. Von hier aus wurden sie in die Vernichtungslager transportiert und dort ermordet.
1988 wurden zum 50. Jahrestag der Pogromnacht des 9. November 1938 an den Standorten der früheren Synagogen große Gedenktafeln mit Reliefs und informativen Texten angebracht. Seither werden dort vom Bezirksamt jedes Jahr am 9. November Kränze niedergelegt.
1992 gab das Bezirksamt Wilmersdorf das Buch “Kommunalverwaltung unterm Hakenkreuz” heraus und zeigte im Rathaus eine entsprechende Ausstellung. Das Buch wurde von Historikern und Politologen unter der Leitung von Karl-Heinz Metzger erarbeitet. Darin wird zum ersten Mal exemplarisch untersucht, wie eine Kommunalverwaltung unter dem Nationalsozialismus funktionierte. Dabei wurde erschreckend deutlich, dass es keines Drucks von oben bedurfte. Im Gegenteil: Es setzte geradezu ein Wettbewerb ein, wer zuerst und am effektivsten den neuen rassistischen und antisemitischen Ungeist in konkretes Verwaltungshandeln umsetzte. Entsprechende Ideen zur Sonderbehandlung der jüdischen Bevölkerung wurden in nahezu allen Ämtern und Einrichtungen in vorauseilendem Gehorsam entwickelt. Beispiele für Widerstand in der Verwaltung waren kaum zu finden.
Der Film “Schindlers Liste” von Steven Spielberg wurde 1993 zum populären Ausdruck der inzwischen allgemein geteilten Überzeugung von der Notwendigkeit historischer Erinnerung. Nach dem Vorbild der bereits 1963 in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem begonnenen “Allee der Gerechten unter den Völkern” löste Spielbergs Film eine Erinnerung an die stillen Helden aus. Menschen, die verfolgten Juden geholfen haben, sie versteckt haben, werden jetzt auch als Widerstandskämpfer anerkannt. In Charlottenburg-Wilmersdorf erinnern inzwischen einige Gedenktafeln an solche stillen Helden. Eine Reihe von ihnen hat Inge Deutschkron schon 1978 in ihrem Buch “Ich trug den gelben Stern” erwähnt.
1996 löste das Buch “Hitlers willige Vollstrecker” von Daniel Goldhagen noch einmal eine große Geschichtsdebatte in Deutschland aus. Am Ende wurde Goldhagens Grundthese bestätigt. Sie besagt, dass der Nationalsozialismus nicht das Werk einiger weniger Tyrannen war, sondern dass viele daran mitwirkten, und zwar nicht widerwillig unter Zwang, sondern aus freien Stücken und häufig aus innerer Überzeugung. Rassistische Grundhaltungen und antisemitische Vorurteile waren weit verbreitet und machten aus vielen Deutschen “willige Vollstrecker”. Das Buch von Daniel Goldhagen bestätigte den Eindruck, den die Autorinnen und Autoren des Buches “Kommunalverwaltung unterm Hakenkreuz” gewonnen hatten.
In der Folge wurde die Erinnerung an die Täter wichtiger. Ganze Berufsgruppen wie die Mediziner oder die Juristen, die deutsche Bahn, große Konzerne, Sportverbände und Vereine und staatliche Institutionen ließen ihre Geschichte in der NS-Zeit erforschen.
2002 wurde das von der Berliner Künstlerin Patricia Pisani geschaffene Mahnmal “Denkzeichen zur Erinnerung an die Ermordeten der NS-Militärjustiz am Murellenberg” in Charlottenburg eingeweiht. 106 Verkehrsspiegel wurden entlang des Waldweges von der Glockenturmstraße am Olympiastadion bis in die Nähe des Erschießungsortes hinter der Waldbühne aufgestellt, wo rund 230 Deserteure, Wehrdienstverweigerer und Befehlsverweigerer nach Urteilen des Reichskriegsgerichts erschossen wurden. Auf 16 Spiegeln informieren eingravierte Texte über das Geschehen in der Murellenschlucht. Die übrigen 90 Spiegel sind ohne Text. Die Konfrontation mit der Geschichte soll die Betrachter auch mit sich selbst konfrontieren.
Vor dem ehemaligen Reichskriegsgericht an der Witzlebenstraße erinnert seit 1989 eine Informationstafel an die dort gefällten Urteile.
2004 wurde der Platz am Kurfürstendamm Ecke Joachim-Friedrich-Straße und Johann-Georg-Straße nach Agathe Lasch benannt, der ersten Germanistikprofessorin Deutschlands, die als jüdische Wissenschaftlerin 1942 deportiert und bei Riga ermordet wurde. Seit 2008 erinnert dort eine Infostele an die Täter und Opfer des “Generalplans Ost”.
Inzwischen hat die BVV Charlottenburg-Wilmersdorf eine Gedenktafelkommission eingesetzt, in der entsprechende Vorschläge beraten werden. Zur Realisierung von Gedenktafeln werden in der Regel Sponsoren gesucht, weil das Bezirksamt nicht über finanzielle Mittel zur Herstellung und Anbringung von Gedenktafeln verfügt.
Zu einer unglaublichen Erfolgsgeschichte wurden die Stolpersteine, die der in Berlin geborene Kölner Künstler Gunter Demnig gestaltet hat. Es sind Gedenksteine, die für Opfer des Nazi-Terrors vor deren früheren Wohnhäusern verlegt werden. Es sind Betonwürfel, die in das Pflaster des Gehsteigs eingemauert werden, mit einer eingelassenen 10×10 cm großen Messingplatte. Darauf sind Name, das Geburtsjahr und Stichwörter zum weiteren Schicksal des Opfers eingraviert. Inzwischen liegen mehr als 47.000 Stolpersteine fast überall in Deutschland und in 18 Ländern Europas. In Berlin wurden seit 1996 bis jetzt mehr als 6000 Stolpersteine verlegt, davon in Charlottenburg-Wilmersdorf mehr als 2.600.
Im Gegensatz zu Gedenktafeln erinnern die Stolpersteine nicht an prominente, bedeutende Persönlichkeiten, sondern an Menschen wie Du und Ich, die Opfer wurden, egal welcher Schicht sie angehörten, was sie beruflich taten, ob es Männer, Frauen oder Kinder waren.
Eine Stolpersteine-Initiative kümmert sich in Charlottenburg-Wilmersdorf um dieses Gedenkprojekt, das vom Bezirksamt und vom Senat aktiv unterstützt wird. Für 120 Euro kann jeder Mensch eine Patenschaft für die Herstellung und Verlegung eines Stolpersteins übernehmen. Inzwischen ist aus den Stolpersteinen eine Bürgerbewegung geworden. Sie haben die Erforschung der Geschichte des eigenen Hauses und des Wohnumfeldes angeregt.
Inzwischen gibt es auch Schul- und andere Patenschaften für Stolpersteine. Die Paten kümmern sich regelmäßig um die Steine, säubern die Messingplatten, beschäftigen sich mit der Geschichte der Opfer und halten nicht selten auch den Kontakt zu ihren Nachkommen aufrecht.
Seit 2011 ist die Giesebrechtstraße die erste Straße in Berlin, in der alle früheren jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden, mit Stolpersteinen geehrt werden. Aus den 22 Häusern der 355 Meter langen Straße wurden von 1941 bis 1943 insgesamt 116 jüdische Männer, Frauen und Kinder in Konzentrationslager verschleppt. Für 84 von ihnen wurden am 8.5.2011, also am Tag der Befreiung, 66 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur, Stolpersteine gesetzt. 32 Stolpersteine waren bereits früher im Gehweg eingelassen worden.
All dies wird ausführlich auf der bezirklichen Website unter www.charlottenburg-wilmersdorf.de dokumentiert, wo nicht nur alle Stolpersteine mit Bild und Text, sondern vielfach auch erschütternde Lebensgeschichten zu finden sind.
Lediglich in München wurden bisher keine Stolpersteine verlegt – wegen der heftigen Kritik von Charlotte Knobloch, die ich zwar respektieren aber nicht nachvollziehen kann. Denn mit den Stolpersteinen wird nicht wie anfangs befürchtet ein Schlussstein unter die Vergangenheit gesetzt. Im Gegenteil. Sie sind Anlass für eine lebendige, andauernde Auseinandersetzung vieler Menschen mit der Geschichte.
Zur Gedenkkultur im Bezirk gehören inzwischen auch viele Anlässe und Veranstaltungen, bei denen das Nachdenken über die Geschichte ganz selbstverständlich dazu gehört. Etwa bei den seit 2002 regelmäßig einmal im Monat stattfindenden Kiezspaziergängen geht es neben vielen anderen Themen, die am Weg liegen, fast immer auch um die Geschichte des Nationalsozialismus, denn sie ist in Charlottenburg-Wilmersdorf fast überall präsent.
Im Rahmen der 300-Jahr-Feier Charlottenburgs 2005 wurde selbstverständlich die Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus in Veranstaltungen und Publikationen mit einbezogen.
Das Berliner Gedenkjahr 2013 unter dem Titel “Zerstörte Vielfalt” war auch in Charlottenburg-Wilmersdorf Anlass, an vielen Stellen an die Zerstörungen durch den Nationalsozialismus und an das Zerstörte, also vor allem an die jüdische Geschichte des Bezirks zu erinnern.
Bei vielen Anlässen, zu denen der Bezirksbürgermeister mit einer Rede gefragt ist, wird die Geschichte des Nationalsozialismus nicht etwa dezent übergangen, sondern im Gegenteil immer dort thematisiert, wo es notwendig und sinnvoll ist.
Und selbstverständlich werden an den entsprechenden Gedenktagen in jedem Jahr an die Geschichte erinnert, sei es mit stillen Kranzniederlegungen oder mit öffentlichen Veranstaltungen und entsprechenden Ansprachen. Das ist natürlich am Holocaust-Gedenktag am 27. Januar der Fall, am Tag des gescheiterten Attentats am 20. Juli und am Tag der Pogromnacht am 9. November.
6. Ausblick
Wie geht es weiter?
Inzwischen leben wieder viele Menschen jüdischen Glaubens in Charlottenburg-Wilmersdorf und bereichern mit ihren Synagogen, ihren Bildungs- und Kultureinrichtungen und mit vielen öffentlichen Veranstaltungen das Leben im Bezirk – das Touro College ist eine der wichtigsten jüdischen Institutionen in unserem Bezirk. Hier wird die Erinnerungsarbeit selbst erforscht, die öffentliche Kommunikation über die Shoa.
Die intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat ermöglicht, dass jüdisches Leben hier wieder eine Zukunft hat. Nicht das Vergessen, sondern erst die gemeinsame Verständigung über die Geschichte macht das Zusammenleben möglich.
Wir sind es den Opfern schuldig, uns zu erinnern, wir brauchen die Erinnerung aber vor allem für uns selbst. Im rassistischen Wahn einer ethnischen Säuberung hat der Nationalsozialismus das Deutschsein beschnitten und reduziert. Er hat große Teile der deutschen Kultur ausgestoßen, indem er den jüdischen Deutschen ihr Deutschsein abgesprochen hat. Aber natürlich gehören Mendelssohn, Heine und Einstein zur deutschen Kultur und natürlich gehören die heute bei uns lebenden jüdischen Deutschen zu unserer Gemeinschaft, und wir wären ohne sie um vieles ärmer. Sie sind Teil unserer Identität. Um zu verstehen, was das bedeutet, müssen wir unsere Geschichte kennen.
Die Erinnerungsarbeit in Charlottenburg-Wilmersdorf ist nicht beendet. Sie wird sich auch künftig weiter entwickeln. Möglicherweise werden neue Formen der Erinnerung gefunden. Möglicherweise werden auch neue Fragestellungen zu einer wiederum gewandelten Einstellung zur Geschichte führen. Aber darin werden unsere bisherigen Erfahrungen aufgehoben sein, und ich bin sicher: Die Erinnerung wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.