Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zur Kranzniederlegung am 20.7.2010 am Steinplatz

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

Zur Kranzniederlegung am 20.7.2010 am Steinplatz

Sehr geehrte Frau Dr. Hansen!
Sehr geehrte Frau Dr. Rehfeld!
Sehr geehrte Mitglieder des Bundes der Verfolgten des Naziregimes und der Arbeitsgemeinschaft politisch, rassisch und religiös Verfolgter!
Sehr geehrter Herr Engelmann!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Dieser Gedenkstein wurde 1953 vom Bund der Verfolgten des Naziregimes hier aufgestellt. Er wurde aus Muschelkalkquader-Steinen der zerstörten Synagoge in der Fasanenstraße hergestellt. Das Emblem über der Inschrift wurde dem Dreieckszeichen der KZ-Häftlinge nachgebildet und mit den Buchstaben K Z versehen.
Dieser Stein war das früheste West-Berliner Denkmal für NS-Opfer, nachdem ein Jahr zuvor, 1952, auf dem Gelände des ehemaligen NS-Zuchthauses Plötzensee, also ebenfalls in Charlottenburg, die Gedenkstätte Plötzensee errichtet wurde. Sie ist bis heute der wichtigste Ort, an dem der Opfer des Widerstandes gegen Hitler gedacht wird. Im Zuchthaus Plötzensee wurden mehr als 2.500 Männer, Frauen und Jugendliche durch Fallbeil oder Strick hingerichtet, darunter viele Widerstandskämpfer und Menschen, die am Umsturzversuch des 20. Juli 1944 beteiligt waren.
Die Erinnerung an das gescheiterte Attentat vor 66 Jahren ist eine Verpflichtung für alle Deutschen. Aber Charlottenburg-Wilmersdorf hat über Plötzensee hinaus viele besondere Gründe, an die mutigen Männer und Frauen zu erinnern, die gegen das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten aufgestanden sind.
Seit Februar dieses Jahres erinnern wir im Rathaus Charlottenburg mit einer ständigen Ausstellung unter dem Titel “Vor die Tür gesetzt” an 10 Berliner Stadtverordnete und Magistratsmitglieder aus Charlottenburg-Wilmersdorf, die zwischen 1933 und 1945 verfolgt und ermordet wurden. Charlottenburg und Wilmersdorf waren die beiden Berliner Bezirke mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung.
Am 9. November des vergangenen Jahres konnte dank einer privaten Initiative das Gedenkbuch Charlottenburger Juden vorgestellt werden. Es enthält eine vollständige Liste mit den Namen und Adressen der mehr als 6.000 aus Charlottenburg deportierten und ermordeten Juden. Daneben werden mit Zeitzeugenberichten, Briefen, Fotos, Biographien und Aktenauszügen auch Einzelschicksale dokumentiert und der bedeutende Beitrag vieler jüdischer Persönlichkeiten aus Charlottenburg zur deutschen Geschichte gewürdigt.
Inzwischen gibt es in Charlottenburg-Wilmersdorf mehr als 830 Stolpersteine, die an verfolgte und ermordete Juden erinnern. Sie waren keine Fremde, sondern Deutsche: Nachbarn, Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und dieses Landes.
Aber nicht nur an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert vieles in Charlottenburg-Wilmersdorf, sondern auch an die Täter. An der Witzlebenstraße befand sie das Reichskriegsgericht, an dem zwischen 1939 und 1945 mehr als 1400 Todesurteile gefällt wurden – gegen Kriegsdienstverweigerer und Widerstandskämpfer. Bekannt wurden die Verfahren gegen die Widerstandsgruppe “Rote Kapelle”. Heute erinnern mehrere Gedenktafeln an die Geschichte des Hauses. Mehr als 230 Todesurteile wurden vollstreckt auf dem Militärgelände am Murellenberg unweit des Olympiastadions unter der Waldbühne. Dort erinnern seit 2002 Denkzeichen an die Ermordeten der NS-Militärjustiz.
Vor zwei Jahren haben wir am Kurfürstendamm Ecke Joachim-Friedrich-Straße und Johann-Georg-Straße eine Gedenkstele zur Erinnerung an die Opfer des Generalplans Ost aufgestellt. Dort befand sich ab 1939 das “Reichskommissariat für die Festigung des deutschen Volkstums”, eines von zwölf SS-Hauptämtern. Hier wurde 1941-1942 der “Generalplan Ost” entwickelt. Der Plan sah vor, fünf Millionen Deutsche im annektierten Polen und im Westen der Sowjetunion anzusiedeln. Die slawische und jüdische Bevölkerung dieser Gebiete sollte unterworfen, vertrieben oder ermordet werden.
Aber nicht nur an die Täter und Oper des Nationalsozialismus erinnert vieles in Charlottenburg-Wilmersdorf, sondern auch an Widerstandskämpfer.
Im Rathaus Charlottenburg erinnern wir mit einer Fotogalerie an 18 Gegner und Widerstandskämpfer aus Charlottenburg, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Es sind Männer und Frauen aus dem politischen, gewerkschaftlichen, kirchlichen und militärischen Widerstand, darunter Erich Mühsam, Dietrich und Klaus Bonhoeffer, Bernhard Lichtenberg, Erich Klausener und Ernst Thälmann.
Generalmajor Hans Oster hat mit seiner Familie in der Bayerischen Straße 9 in Wilmersdorf gelebt, wo seit 1990 eine Gedenktafel an ihn erinnert. Er rechtfertigte seine Beteiligung an den Attentatsplänen mit den Sätzen: “Man kann nun sagen, dass ich ein Landesverräter bin, aber das bin ich in Wirklichkeit nicht, ich halte mich für einen besseren Deutschen als alle die, die hinter Hitler herlaufen. Mein Plan und meine Pflicht war es, Deutschland und die Welt von dieser Pest zu befreien.”
Gemeinsam mit Generaloberst Erich Hoepner hat Generalmajor Henning von Tresckow in dem Militärverwaltungsgebäude an der Bundesallee 216, dem heutigen Bundeshaus, gearbeitet, wo eine Gedenktafel an die beiden Widerstandskämpfer erinnert. Anfang Juli 1944 hat Tresckow dafür plädiert, trotz großer Risiken an den Attentatsplänen fest zu halten, “um der Welt zu beweisen, dass die deutsche Widerstandsbewegung den entscheidenden Wurf gewagt hat.”
Die Widerstandskämpfer sind letztlich erfolglos geblieben. Millionen Menschen mussten vom Juli 1944 bis zum Mai 1945 noch sterben. Die meisten von ihnen hätten wohl überlebt, wenn das Attentat erfolgreich gewesen wäre. Aber die Tat der Widerstandskämpfer war nicht vergebens. Sie haben der Welt bewiesen, dass es auch ein anderes Deutschland gab, und sie sind Vorbilder geworden als mutige Menschen, die auch in einer verzweifelten Situation auf ihr Gewissen hörten und ihr Leben eingesetzt haben.
Der 20. Juli steht für uns heute nicht nur für den militärischen Widerstand und das Attentat auf Hitler, sondern er steht für den Widerstand insgesamt, der sehr vielfältig war, wie wir inzwischen wissen. Und er war keineswegs immer erfolglos.
Hans Rosenthal und Inge Deutschkron haben eindringlich darüber berichtet, wie ihnen als verfolgten jüdischen Deutschen von mutigen nichtjüdischen Deutschen geholfen wurde. Diese beiden Beispiele aus unserem Bezirk ließen sich durch viele andere ergänzen.
Wir dürfen die nationalsozialistischen Verbrechen nicht vergessen, aber wir müssen auch die Erinnerung an den Widerstand wach halten. Deshalb erinnern wir am 20. Juli an die Menschen, die im Widerstand gegen die NS-Diktatur ihr Leben verloren haben, und an diejenigen, die ihr Leben riskierten und gegen die Unmenschlichkeit des Regimes Menschlichkeit bewiesen.
Die Widerstandskämpfer des 20. Juli waren keine Landesverräter. Im Gegenteil: Wir verneigen uns heute vor den mutigen Menschen, die ihrem Gewissen gefolgt sind und vor aller Welt für das bessere Deutschland eingestanden sind.