Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zur Frage "Ist das Modell der zweistufigen Berliner Verwaltung noch zeitgemäß?" am 21.4.2010

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

Zur Frage "Ist das Modell der zweistufigen Berliner Verwaltung noch zeitgemäß?" am 21.4.2010

Referat in einem Diskussionsforum der Leitungstagung “ServiceStadt Berlin” am Mittwoch, 21.4.2010 im Bärensaal der Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Eingang Klosterstraße 47

Mein Thema innerhalb dieses Diskussionsforums lautet: Die zweistufige Berliner Verwaltung kann nicht “aus der Mode kommen”. Und in der Tat mit dem lateinischen Wort modus wird die in einem bestimmten Zeitraum und einer bestimmten Gruppe von Menschen als zeitgemäß geltende Art, bestimmte Dinge zu tun, Dinge zu benutzen oder anzuschaffen bezeichnet. Mode wird im Verlauf der Zeit infolge gesellschaftlicher Prozesse immer wieder durch neue – dann als zeitgemäß geltende – Prozesse revidiert und unterliegt somit einem zyklischen Wandel. Und so wurde auch unsere zweistufige Berliner Verwaltung immer wieder an den jeweiligen Bedürfnissen angepasst und modernisiert. Daher ist die in diesem Diskussionsforum gestellte Frage klar zu verneinen. Die zweistufige Berliner Verwaltung kann nicht aus der Mode kommen, muss jedoch an die heutigen Bedürfnisse angepasst, das heißt zeitgemäß gestaltet werden.

So müssen die Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche klar getrennt werden. Das Hauptproblem aus meiner Sicht ist folgendes: Der Berliner Senat nimmt gleichzeitig die Regierungsaufgaben einer Landesregierung und die Verwaltungsaufgaben einer Kommunalbehörde wahr. Dies sollte ersetzt werden durch eine klare Definition des Senats als Landesregierung und eine stärkere Eigenverantwortung der Bezirke. Dort wo bezirkliche Aufgaben koordiniert werden müssen könnte dies ein gestärkter Rat der Bürgermeister besser als es Vorgaben des Senats können.

Die Berliner Bezirke entstanden 1920 im Rahmen der Bildung von Groß-Berlin nach 50jähriger Diskussion. Sie wurden eingerichtet als Kompromiss zwischen den Zentralisten, die eine starke Regierung für eine einheitliche Großstadt Berlin wollten, und den Befürwortern einer dezentralen Struktur, in der die gewachsene Vielfalt der einzelnen Teile bewahrt und weiter entwickelt werden sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Senat zugleich Landesregierung und oberste Kommunalbehörde. Die Bezirke wurden nachgeordnete Behörden mit einer beschränkten Selbstverwaltung. Vielfach sind die Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche bis heute nicht klar genug getrennt.

Wir bekommen oft Besuch von Verwaltungsbeamten aus China, die das Modell der Berliner Verwaltung kennen lernen möchten. Weder ihnen noch den Verwaltungsspezialisten aus unseren Partnerstädten ist diese Struktur zu vermitteln. Jeder, der von außen auf die Berliner Verwaltung schaut, vermutet zunächst, dass die Bezirke in Berlin die kommunalen Behörden sind, und dass der Senat als Landesregierung fungiert. Die praktizierte Teilung der kommunalen Aufgaben zwischen Senat und Bezirken leuchtet niemandem ein.

Solange der Senat sich nicht einmischt, arbeiten die Bezirke effizient und schaffen es durch ihre Bürgernähe, auch divergierende Interessen unter einen Hut zu bringen. Deshalb sehe ich die Zukunft Berlins in einer Stärkung der Bezirke und einer Abspeckung der Senatsverwaltungen auf schlanke Ministerialverwaltungen.

Für diese These nenne ich 5 Argumente:

1. Dezentralisierung
Als in Berlin vor 20 Jahren die Verwaltungsreform auf der Tagesordnung stand, war das große, übergeordnete Ziel die Stärkung der dezentralen Verantwortung. Subsidiarität war das Zauberwort. Entscheidungskompetenz und Verantwortung sollten möglichst nah bei den betroffenen Menschen bleiben. Betriebswirtschaftler und Unternehmensberater haben uns dieses Ziel geradezu eingehämmert, bis wir es für alle Bereiche der Verwaltung durchdekliniert hatten. Seit einigen Jahren soll das nicht mehr gelten, und ausgerechnet die Industrie- und Handwerkskammer plädiert für eine schrankenlose Zentralisierung. Das ist verkehrte Welt. Probleme entstehen nicht, wenn die Betroffenen und Spezialisten vor Ort in Entscheidungen eingebunden werden, sondern dann, wenn Entscheidungen am grünen Tisch über den Wolken fernab der konkreten Verhältnisse getroffen werden. Dafür gibt es in Berlin genügend Beispiele. Gerade für Investoren ist die Einbindung eines Unternehmens in sein Umfeld von entscheidender Bedeutung. Sie suchen Kontakte und sind interessiert an Beziehungspflege. Das kann nur dezentral geboten und geleistet werden.

2. Effizienz
Die Bezirksverwaltungen wurden in den letzten Jahren modernisiert und rationalisiert, sie haben viel Personal eingespart und bemühen sich um guten Bürgerservice. Dass die Bezirke in den letzten zwanzig Jahren in vielen Fragen der Verwaltungsreform eine Vorreiterrolle gespielt haben, wird ihnen auch von Verwaltungswissenschaftlern wie Prof. Manfred Röber und Prof. Jochen Schulz zur Wiesch bescheinigt.
Den Berliner Bankenskandal, die Tempodrom-Fehlentscheidung, jahrelange Verzögerungen bei Bauprojekten, das alles gab es in den letzten Jahrzehnten auf der Senatsebene nicht auf der Bezirksebene. Dagegen arbeiten die Bezirke effizient und ohne größere Reibungsverluste, wenn nicht Abstimmungsprobleme mit den Landesbehörden für Verzögerungen sorgen.
Diese Effizienz bescheinigen uns auch viele Investoren, die im Bezirk auf großes Interesse, auf Gesprächsbereitschaft und Flexibilität stoßen, während sie auf der Senatsebene oft undurchsichtige Strukturen, viel zu viele Hierarchieebenen und Desinteresse beklagen.
Passgenaue Lösungen für Probleme und Vorhaben können immer nur vor Ort im direkten Kontakt mit allen Beteiligten gefunden werden.

3. Demokratie
Wenn die Bürgerinnen und Bürger an Bauprojekten oder anderen Entscheidungen beteiligt werden sollen, dann geht das nur in den Bezirken. Kommunale Demokratie ist in einer 3,5-Millionen-Stadt zentralistisch nicht möglich. Nach meiner Erfahrung funktioniert die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in den Bezirken in den meisten Fällen sehr gut.
Die Qualität von Entscheidungen hängt vor allem davon ab, ob die Menschen, die von ihnen betroffen sind sie mit tragen. Dafür sorgen in den Berliner Bezirken die Bezirksverordneten mit ihrer ehrenamtlichen kommunalpolitischen Arbeit. Eine preiswertere Form demokratischer Willensbildung gibt es so kaum anderswo.
Allerdings beklagen unsere gewählten Bezirksverordneten zu Recht, dass sie kaum reale Entscheidungskompetenzen haben. Die meisten Anträge in unserer Bezirksverordnetenversammlung lauten dahingehend, das Bezirksamt möge sich dafür einsetzen, dass der Senat dies oder jenes tut oder unterlässt.
Da entsteht manchmal der Eindruck einer Scheindemokratie, und das ist gefährlich. Wenn gewählte Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerinnen und Bürger keine Entscheidungskompetenz haben, dann nimmt die Demokratie Schaden. In unseren Kiezkonferenzen zur Durchführung des Bürgerhaushaltes wurde der Bezirk häufig für Dinge angegriffen, für die wir nichts können, weil die Zuständigkeit auf einer anderen Ebene liegt. Das ist für beide Seiten misslich: Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von einer anonymen Macht verwaltet, die sie nicht kennen, und die gewählten Bezirksverordneten fühlen sich ohnmächtig. Kommunale Selbstverwaltung sieht hingegen anders aus. Sie funktioniert nur bei einem hohen Maß an Eigenverantwortung. Das bedeutet, kompetent zu sein und wichtige Entscheidungen treffen zu können, und dann auch Verantwortung für die Folgen zu tragen.
Selbstkritisch ist anzumerken, dass unter den jetzigen Verhältnissen Bezirke häufig dazu neigen, auf die Verantwortung des Senats zu verweisen, anstatt wichtige Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Allerdings wird es den Bezirken unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht gedankt, wenn sie es dennoch tun.

4. Vielfalt
Die Stärke Berlins ist seine Vielfalt. Das betonen die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie Investoren und Touristen. Diese Vielfalt kann nur erhalten und weiter entwickelt werden, wenn die einzelnen Teile eine möglichst weitgehende Selbständigkeit behalten oder wieder erlangen. Eine gewisse Konkurrenz untereinander kann dabei auch ein Ansporn sein.
Das heißt natürlich nicht, dass jenseits der Bezirksgrenze eine neue Welt beginnt. In einer Millionenstadt wie Berlin muss natürlich vieles noch enger koordiniert werden als sonst zwischen Kommunen oder Landkreisen. Aber die Verhältnisse in einem dicht bebauten City-Bezirk sind andere als in einem weiträumigen Berliner Außenbezirk. In einem stark studentisch und künstlerisch geprägten Szenebezirk ist die Kommunalpolitik anders gefordert als in einem Bezirk mit hohem Migrantenanteil oder in einem bürgerlichen Wohnbezirk. Wenn wir uns zu unserer Runde im Rat der Bürgermeister treffen, dann sind wir uns dieser Unterschiede wohl bewusst und nicht in Gefahr, alle Probleme über einen Kamm zu scheren.

5. Vergleich
Die Verwaltungswissenschaft sagt uns: Wenn man die zentralistische Stadtverwaltung von Paris mit der dezentralen von London vergleicht, dann schneidet London bzw. die Londoner Bezirke besser ab. Dezentral strukturierte Verwaltungen wie die in London sind sehr viel beweglicher und reformfreudiger, während zentrale wie in Paris zu einem besonderen Beharrungsvermögen neigen.
In London spielen traditionell die 33 eigenständigen Bezirke die tragende Rolle. 1986 wurde der “Greater London Council” aufgelöst. Seither gibt es keine gesamtstädtische Gebietskörperschaft mehr. Erst im Jahr 2000 wurde ein zentraler Verwaltungsstab gebildet, der über eine gesamtstädtische Verantwortlichkeit, ein Stadtoberhaupt und nur 490 Beschäftigte insgesamt verfügt und damit eine schlanke stadtregionale Regieebene bildet, deren Aufgaben auf strategische Steuerung begrenzt sind. Die allgemeinen Verwaltungsaufgaben werden von den Bezirken selbständig und eigenverantwortlich wahrgenommen. Berlin sollte sich das Londoner Modell genauer anschauen und sich seine Vorteile zu eigen machen. Berlin hat auf der Ebene des Senats und der Landesbehörden fast 85.000 Beschäftigte, während in den Bezirken nur rund 21.000 Menschen arbeiten – ein großes Missverhältnis.

Resümee
Zusammenfassend kann ich festhalten: Berlin kann nur profitieren, wenn es sich seiner historisch gewachsenen Vielfalt bewusst bleibt und diese intensiv pflegt und weiter entwickelt.
Die Berliner Verwaltung krankt nicht daran, dass die Bezirke zu viel Einfluss hätten, sondern daran, dass sie zu wenig Eigenverantwortung und Gestaltungsspielraum haben. In Berlin herrscht nicht zu wenig Zentralismus, sondern zu viel.
Die zweistufige Berliner Verwaltung ist zwar nicht aus der Mode gekommen, sie muss aber den heutigen Bedürfnissen an eine Millionenstadt, bestehend aus 12 Bezirken, die jeweils von der Größe her eine Großstadt darstellen, angepasst werden.