Sehr geehrte Frau Plehn-Martins!
Sehr geehrte Gemeindemitglieder!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Der 9. November 1938 scheint Lichtjahre von uns entfernt zu sein. Wir empfinden den Abstand zu diesem Datum größer als den zum finstersten Mittelalter. Bis heute können wir es letztlich nicht verstehen, wie es geschehen konnte, wie so viele mitmachen und wie so viele tatenlos zusehen konnten. Und es ist eben nicht Lichtjahre her, sondern erst 70 Jahre. Es leben noch Zeitzeugen, deren Berichte uns fassungslos machen.
Vor 20 Jahren haben wir uns zum 50. Jahrestag der Pogromnacht intensiv mit den ehemaligen Wilmersdorfer Synagogen beschäftigt, und wir mussten feststellen, dass die Synagogen in der Prinzregentenstraße, in der Markgraf-Albrecht-Straße und in der Franzensbader Straße nicht nur am 9. November 1938 angezündet und stark beschädigt wurden, sondern dass danach die Bauaufsicht des Bezirksamtes Wilmersdorf kam und feststellte, dass die Sicherheit der Passanten nicht mehr gewährleistet war, weil Teile der beschädigten Synagogen baufällig geworden waren. Die Jüdische Gemeinde wurde dazu verpflichtet, die Schäden zu beseitigen, und der Architekt Alexander Beer, der knapp 10 Jahre zuvor, von 1928 bis 1930 die große Synagoge Wilmersdorf an der Prinzregentenstraße 70 gebaut hatte, musste jetzt nach den Anweisungen der bezirklichen Bauaufsicht ihren Teilabriss organisieren.
Dieses Vorgehen war keine Wilmersdorfer Besonderheit. Im Gegenteil: Es war allgemein üblich, dass die verfolgten und angegriffenen Juden damals von den Behörden noch weiter schikaniert wurden, dass sie für das Unrecht verantwortlich gemacht wurden, das sie erlitten.
Für uns war diese Entdeckung Anlass, einmal genauer hinzuschauen und das Verhalten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bezirksamtes Wilmersdorf während der Zeit des Nationalsozialismus zu erforschen.
Die Ergebnisse haben wir 1992 in dem Buch “Kommunalverwaltung unterm Hakenkreuz” veröffentlicht. Leider mussten wir feststellen, dass es in diesem Bezirksamt von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen keinen Widerstand gab. Im Gegenteil: Der Begriff “Willige Vollstrecker”, der einige Jahre später geprägt wurde, trifft sowohl auf die politische Führung als auch auf die meisten Beschäftigen im Rathaus Wilmersdorf zu.
Wilmersdorf war in den 1920er und 30er Jahren der Berliner Bezirk mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung. Damals lebten hier etwa 30.000 Juden, was einem Gesamtbevölkerungsanteil von etwa 13% entsprach, während er in ganz Berlin nur 3,8% betrug. Die Bezirksverwaltung tat seit 1933 alles, um die nationalsozialistischen Vorgaben zur Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden umzusetzen, zum Teil sogar in vorauseilendem Gehorsam schon bevor entsprechende Verordnungen für ganz Berlin erlassen wurden. Bereits 1937 wurden beispielsweise in den öffentlichen Parks gelbe Bänke “nur für Juden” aufgestellt. Allerdings hat der Amtmann Riedler im Gartenbauamt Wilmersdorf diese Maßnahme ad absurdum geführt, indem er auf dem Prager Platz eine gelbe und eine normale Bank direkt einander gegenüber aufgestellt hat, so dass Juden und Nichtjuden sich direkt in die Augen sehen mussten. Er wurde dafür vom Nazi-Bürgermeister Petzke gerügt und in die Steuerkasse
strafversetzt.
Nach und nach führten alle Ämter getrennte Bereiche für Juden und Nichtjuden ein, und schließlich wurden fast überall Juden von den öffentlichen Leistungen ausgeschlossen, andererseits aber verstärkt überwacht und schikaniert.
Die Historiker sprechen heute von einer “Zustimmungsdiktatur”, wenn sie die Beziehung zwischen dem nationalsozialistischen Machtapparat und der Bevölkerungsmehrheit beschreiben wollen. Inzwischen gibt es Studien über fast alle Berufsgruppen und gesellschaftlichen Institutionen, die immer zum gleichen Ergebnis kommen: Die meisten Menschen haben nicht protestiert oder gar Widerstand geleistet, sondern sie haben mehr oder weniger begeistert mitgemacht – zumindest solange, bis der Krieg sich 1942/43 gegen die Deutschen richtete.
Auch die Kirchen haben sich in den letzten Jahren aktiv mit ihrer Rolle und mit dem Verhalten ihrer Mitglieder im Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Besonders beeindruckend finde ich das immer, wenn es vor Ort geschieht, wenn eine Gemeinde sich ihrer eigenen Geschichte stellt, so wie die Auengemeinde es seit Jahren tut. 36 Stolpersteine erinnern inzwischen an diese Geschichte, und die heute vorgestellte Broschüre über Juden, die in der Auenkirche getauft wurden, ist ein weiterer Beitrag zur Erinnerung.
Diese Erinnerung sind wir nicht nur den Opfern schuldig. dass wir sie nicht vergessen, sondern es ist auch für uns selbst wichtig, dass wir unsere Verantwortung vor unserer Geschichte wahrnehmen. Es geht für unsere Generation und für unsere Kinder nicht um Schuld. Aber es geht um Verantwortung: Um aus der Geschichte lernen zu können und zu verhindern, dass etwas Ähnliches jemals wieder geschieht, müssen wir unsere Geschichte kennen.
Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb wir zur Erinnerung verpflichtet sind: Es ist ein großes Glück, dass wieder jüdische Bürgerinnen und Bürger bei uns und mit uns zusammen leben und sich für unsere Gesellschaft engagieren. Der Umgang miteinander ist noch immer nicht unbefangen. Aber eine Verständigung ist nicht möglich, wenn wir die gemeinsame Geschichte ignorieren, sondern nur wenn wir uns ihrer bewusst sind und offen damit umgehen.
Wir wissen, dass die Erinnerung nie abgeschlossen sein wird. Erinnerung bedeutet ständiges Forschen, und jede neue Generation wird sich die Erinnerung neu erarbeiten müssen. Deshalb wird es noch viele Stolpersteine und viele Publikationen geben, die unsere Erinnerung wach halten. Ich danke Ihnen, dass Sie mit ihrer Broschüre einen Beitrag zur Erinnerungsarbeit leisten.