Sehr geehrte Damen und Herren!
Herzlich willkommen auf dem Marktplatz der Demokratie und herzlichen Dank an alle Aktiven im Charlottenburg-Wilmersdorfer Bündnis “Demokratie jetzt!”, die diesen Marktplatz jetzt zum siebenten Mal organisiert und gestaltet haben.
Es ist bereits eine gute Tradition geworden, dass wir am Tag des Grundgesetzes auf diesem Marktplatz der Demokratie informieren und diskutieren über Grundfragen unserer Gesellschaft. Das Motto heißt in diesem Jahr “Ich brauche Demokratie wie die Luft zum Atmen.” Ein schöner Satz, den ich sofort unterschreiben kann.
Er führt uns vor Augen, wie grundlegend wichtig die Demokratie für unser Leben ist, aber auch, wie selbstverständlich sie uns geworden ist. Wir machen uns über die Luft, die wir atmen, in der Regel keine Gedanken. Höchstens dann, wenn sie verschmutzt ist, wenn uns das Atmen schwer fällt oder wenn wir befürchten müssen, dass die Atemluft uns schadet. Für viele ist es mit der Demokratie genau so: Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus sind für uns selbstverständliche Lebensbedingungen geworden, die wir in der Regel genießen, ohne uns ihres besonderen Wertes bewusst zu sein.
Dabei ist unser Grundgesetz noch nicht einmal 60 Jahre alt, und für die Deutschen in der ehemaligen DDR wird die Demokratie mit 18 gerade einmal volljährig. Sie ist also keineswegs selbstverständlich.
Die Demokratie ist eine relativ junge Form des Zusammenlebens, musste mühsam erkämpft werden, und sie ist in einem ständigen Wandel begriffen.
Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Es gibt sie in vielen verschiedenen Ausprägungen, und sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie sich ständig fortentwickelt.
In diesem Jahr erinnern uns Ausstellungen, Publikationen und viele Diskussionsveranstaltungen an die Geschichte der 68er, die Studentenbewegung und ihre Folgen. So umstritten ihre Wirkung sein mag: Niemand wird bestreiten, dass sie unser demokratisches System verändert hat.
Die Gleichberechtigung der Frau, der Schutz von Minderheiten, die Anerkennung von Homosexualität und vieles mehr wurde im Zuge der 68er Bewegung erkämpft und ist inzwischen zum selbstverständlichen Bestandteil unserer Demokratie geworden. Willy Brandts Motto “Mehr Demokratie wagen” war damals auch Ausdruck für die Bereitschaft der Politik, entsprechende Forderungen aus der Gesellschaft aufzunehmen.
Auch heute befinden wir uns mitten in neuen Veränderungsprozessen unserer Demokratie. Mehr direkte Bürgerbeteiligung heißt die Devise. Mit Bürgerentscheiden, Volksbegehren und Bürgerhaushalten wollen wir die Bürgerinnen und Bürger mehr für Politik interessieren und mehr als bisher an politischen Entscheidungen beteiligen.
Wir haben erste Erfahrungen gemacht und hoffen, dass es gelingt, wieder mehr Menschen dafür zu gewinnen, sich aktiv einzumischen. Denn: Die Demokratie lebt vom aktiven demokratischen Engagement der Bürgerinnen und Bürger.
Unsere Demokratie ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Wir leben seit mehr als 60 Jahren in Frieden und Freiheit. Die Grenzen zu unseren Nachbarländern sind offen. Wir haben eine ungeheuer rasante wirtschaftliche, technologische und gesellschaftliche Entwicklung erlebt. Trotzdem haben sich viele Menschen von der Politik abgewandt, empfinden unsere Gesellschaft als ungerecht und trauen den Politikerinnen und Politikern nicht mehr zu, dieses Land in eine gute Zukunft zu führen. Viele ärgern sich über den Dauerstreit der Parteien und wollen lieber eine starke Führung mit schnellen Entscheidungen.
Sicher, wer in unsere Medien schaut, der wird ständig mit vielen Problemen konfrontiert, und damit, wie um die Lösung dieser Probleme gerungen wird. Er kann manchmal den Eindruck bekommen, dass nur gestritten wird, dass aber keine Probleme gelöst werden. Wer diesen Eindruck hat, der wird aber unserer Demokratie nicht gerecht, denn Streit gehört zur Demokratie wie die Luft zum Atmen, um das Motto dieses Tages etwas abzuwandeln.
Es ist ja gerade der große Vorzug der Demokratie, dass nichts unter den Teppich gekehrt wird, dass Interessenkonflikte und Probleme auf den Tisch kommen und in aller Öffentlichkeit ausgetragen werden. Dafür sind unter anderem die Parteien da. Sie sollen nicht einer Meinung sein, sondern sie sollen den Wählerinnen und Wählern Alternativen bieten, und sie sollen in der argumentativen Auseinandersetzung um die beste Lösung ringen.
Wir sind gut damit gefahren, dass eben gerade nicht schnelle Entscheidungen getroffen werden, sondern dass Kritik geäußert wird, dass die Betroffenen gehört werden, dass Konflikte offen ausgetragen werden und dass am Ende entweder ein Kompromiss gefunden wird, oder mit Mehrheit entschieden wird.
Diese Prozedur ist zwar häufig mühsam, aber sie lohnt sich. Denn eine Entscheidung kann viel Unheil anrichten, wenn sie über die Köpfe der Betroffenen hinweg zustande kam. Dagegen führt die Beteiligung der Betroffenen oft dazu, dass am Ende zwar niemand seine anfängliche Position durchsetzen kann, aber dass ein Kompromiss gefunden wird, mit dem alle gut leben können.
In unserer Demokratie wird niemand mundtot gemacht. Im Gegenteil: Alle sind aufgefordert, ihre Positionen zum Ausdruck zu bringen, wenn nötig auch lautstark in Demonstrationen oder über die Medien. Im Gegensatz zu Diktaturen, in denen öffentlich ein rosarotes Bild der Wirklichkeit verbreitet wird, ist bei uns die Öffentlichkeit beherrscht von Kritik und manchmal auch von Schwarzmalerei. Aber wir sollten nicht vergessen, dass dies ein großer Vorzug ist. Von Personenkult und öffentlicher Realitätsverleugnung ist kein Fortschritt zu erwarten.
Der große Philosoph der Aufklärung, Voltaire, hat es vielleicht etwas pathetisch so formuliert: “Ich bin nicht Ihrer Meinung, mein Herr. Aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie Ihre Meinung frei äußern können.”
Diese Haltung ist die Grundlage unserer Demokratie. Und das wünsche ich mir auch für den heutigen Tag: Lassen Sie uns streiten um den richtigen Weg. Aber lassen Sie uns in dem Bewusstsein streiten, dass wir gemeinsam die Meinungsfreiheit und die demokratischen Grundrechte verteidigen, die heute vor 59 Jahren mit unserem Grundgesetz in Kraft getreten sind. Denn: Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen.