Sehr geehrte Damen und Herren!
Herzlich willkommen im Rathaus Charlottenburg zum Heinrich-Zille-Abend. Ich danke dem Heimatverein und dem Partnerschaftsverein Charlottenburg mit ihren Vorsitzenden Rudolf Uda und Dieter Rochow dafür, dass sie diesen Abend heute am 150. Geburtstag von Heinrich Zille organisiert haben. Und ich danke allen Mitwirkenden für ihre Beiträge und dafür, dass Sie sich mit Heinrich Zille beschäftigt haben. Die Akademie der Künste eröffnet in diesen Minuten am Pariser Platz eine Ausstellung mit Zeichnungen, Bildern und Fotos von Zille unter dem Titel “Kinder der Straße”. Sie ehrt damit ihr früheres Akademie-Mitglied Heinrich Zille. Wir ehren heute Abend den Charlottenburger Bürger Heinrich Zille.
Er war 34 Jahre alt, als er 1892 nach Charlottenburg in die Sophie-Charlotten-Straße 88, vierte Etage zog. Er sagte über seine neue Heimat: “Meine erste eigene Wohnung war im Osten Berlins, im Keller; nun sitze ich schon im Berliner Westen, vier Treppen hoch, bin also auch gestiegen”.
Heute erinnert eine Gedenktafel am Haus an den populären Maler. Die Tafel wurde bereits 1931 angebracht, hing aber nur zwei Jahre. Die Nationalsozialisten nahmen sie ab. Ihnen gefiel nicht, wie er die Arbeiter gezeichnet hatte, und dass er den Krieg ablehnte.
Die Bronzetafel landete auf dem Schrottplatz einer benachbarten Gasanstalt. Als der Zweite Weltkrieg begann, kamen Arbeiter vom Schrottplatz zu Zilles Sohn Walter, der jetzt in der Wohnung lebte, und fragten, was sie mit der Tafel anfangen sollten. Walter Zille empfahl, sie ein bisschen zur Seite zu stellen, bis Kriegsende.
1949 wollte der Berliner Senat die Gedenktafel wieder anbringen, aber da war sie verschwunden. Zeitungen riefen dazu auf, nach der Zille-Tafel zu suchen. Schließlich meldete sich der Arbeiter Oswald Fichte. Er hatte die Tafel auf einem Lagerplatz am Kottbusser Tor unter Gerümpel gefunden. Sie wurde von Richard Scheibe restauriert, mit einem Zille-Relief versehen und wieder an Zilles Wohnhaus an der Sophie-Charlotten-Straße 88 angebracht.
Ich glaube, die Geschichte dieser Tafel dürfte eine Geschichte nach Zilles Geschmack sein, denn er war nicht nur ein großer Maler und Zeichner, sondern auch ein großer Geschichtenerzähler.
Heinrich Zille hat die sozialen Missstände in den Arbeiterbezirken mit schonungslosem Realismus aber auch mit Anteilnahme, Sympathie und Humor gezeichnet. Aus dem abschätzig gemeinten Wort “Pinselheinrich” wurde ein Ehrentitel. Kaiser Wilhelm II verabscheute die Bilder von Heinrich Zille und Käthe Kollwitz als “Rinnsteinkunst”. Aber beide hatten am Ende Erfolg damit, dass sie mit ihrer unverwechselbaren Kunst auf die Schattenseiten des Kaiserreiches aufmerksam machten.
Heinrich Zille wurde am 10. Januar 1858 als Sohn des Uhrmachers Johann Traugott Zille und seiner Frau Ernestine Louise in Radeburg geboren. Als Neunjähriger kam er mit seinen Eltern nach Berlin.
Sein handwerklich geschickter aber etwas lebensfremder Vater war arbeitslos und verschuldet, und die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen. Zille hat in seinen Erinnerungen die Berliner Wohnung beschrieben, in die der Vater die Familie führte, nachdem er sie vom Anhalter Bahnhof abgeholt hatte: “An den Wänden zerrissene Tapeten, Blutflecke von zerquetschten Wanzen. In einer Ecke ein Haufen Stroh, das sollte unser Bett sein, und ein großer hölzerner, mit Bandeisen beschlagener Koffer … paar Bündel Kleidungsstücke, das war alles, was wir, ‘zum neuen Leben anzufangen’, besaßen.”
Diese Erfahrungen prägten Heinrich Zille, und er behielt sein Leben lang die soziale Sensibilität, die seine Bilder und seine Texte auszeichnet. Von ihm stammt der Satz: “Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genau so gut töten, wie mit einer Axt!”.
Der 9jährige Junge und die Mutter mussten sich etwas einfallen lassen und mithelfen, die Familie zu ernähren. Schon mit 10 Jahren kannte Heinrich sich so gut aus in Berlin, dass er für Fremde den Stadtführer machen konnte: “Wir zeigten ihnen die alte Stadt mit Schloss, Rathaus, Kirchen, Unter den Linden, die alten Gassen, nicht zu vergessen den Krögel; und waren die Reisenden nur Männer, dann auch die verrufene Königsmauer. Gute Gastwirtschaften, berühmte und berüchtigte Lokale auf Höfen und in tiefen Kellern, abenteuerliche Schnapsspelunken aus der Berliner Verbrecherromantik: je nachdem die Leute Zeit und Wünsche hatten, stellten wir uns ein.” Nach zwei harten Jahren in Berlin fand der Vater endlich Arbeit als Mechaniker bei Siemens und Halske. Dort konnte er seine Fähigkeiten so weit verfeinern, dass er schließlich in der Goldschmiedewerkstatt Friedländer Unter den Linden eine Anstellung fand. Für diese Firma arbeitete er bis ins hohe Alter.
Heinrich Zille fing bereits mit 11 Jahren an zu zeichnen und nahm Privatunterricht bei einem Zeichenlehrer. Sein Geld aber verdiente er als Lithograph, nachdem er eine Lehre als Fleischer nach kurzer Zeit abgebrochen hatte.
Zille erzählt selbst aus seiner Lehrzeit als Lithograph: “Der Öldruck war damals erfunden, meist wurden nun die Bilder bunt gedruckt – die ‘Ölgemälde’ der Armen. Die Bilder waren billig, zierten die Wohnung und deckten zugleich die vielen Flecke von den an den Wänden zerquetschten Wanzen zu.
Ab und zu wurden die Rückseiten abgesucht, die Bilder dienten damit zugleich als ‘Wanzenfalle’. Ich sehe noch immer – in einer erbärmlichen Stube, wo sieben Menschen hausten – sich das Porträt des alten Kaiser Wilhelms I. leise bewegen – so viel Wanzen krabbelten hinter dem Bilde.”
Aus solchen Erlebnissen hat Heinrich Zille seine große Kunst entwickelt, das soziale Elend mit Humor zu schildern, ohne sich über die Armen lustig zu machen.
Nach dem dreijährigen Militärdienst in Frankfurt an der Oder heiratete er 1883 Hilda Frieske, die Tochter eines Nadlermeisters und Lehrers. Zunächst wohnte die Familie im Rummelsburger Kiez. Dort wurden die Tochter Margarete und die Söhne Hans und Walter geboren. Schließlich am 1. September 1892 der Umzug nach Charlottenburg. Noch kannte kaum jemand den Lithographen und Zeichner.
Zille verdiente sein Geld als qualifizierter Drucker bei der Photographischen Gesellschaft, für die er 30 Jahre arbeitete.
Erst 1901, im Alter von 43 Jahren, präsentierte er erstmals seine Bilder der Öffentlichkeit, und zwar in einer Ausstellung der Berliner Secession in der Charlottenburger Kantstraße. Der einzige Repräsentant des Staates bei der Ausstellungseröffnung war der Charlottenburger Oberbürgermeister Kurt Schustehrus. Viele Besucher waren entsetzt über die Darstellung des Elends, aber die kaiserliche Schelte gab den modernen Malern um Walter Leistikow, Max Liebermann und Heinrich Zille Auftrieb, und Zilles Zeichnungen wurden immer populärer. Seine Bücher “Kinder der Straße”, “Berliner Rangen”, “Das Milljöh” und “Rund um’s Freibad” wurden Bestseller, Zille-Filme wurden gedreht, Zille-Bälle veranstaltet.
Zilles Lebensthema waren und blieben die unterprivilegierten Menschen seiner Stadt Berlin: die schwangeren Arbeiterfrauen, die Tagelöhner, Prostituierten, Trinker und Ganoven, die Zille in den Arbeiterbezirken beobachtete und belauschte, um sie anschließend in seinen Zeichnungen, Graphiken und Fotos zu verewigen.
Die Wohnung in Charlottenburg war für Zille und seine Familie damals noch ein naturnahes Rückzugsgebiet. Sohn Hans hat sie beschrieben: “Groß und hell lagen die Zimmer da. Eine beschauliche Ruhe war in der Straße. Die Sophie-Charlotten-Straße war noch lange nicht ausgebaut. Von den Fenstern der Wohnung schweifte der Blick ins Freie. Auf der anderen Straßenseite war beackerter Sandboden, in der Mitte ein großer Platz zum Trocknen der Wäsche, um ihn herum Lauben. Hinter der Ringbahn dehnte sich braches Land, zum Teil mit niedrigen Kiefern bestanden, und dahinter bildeten die ersten Bäume des Grunewaldes und die Ausläufer der Villenkolonie Westend den Abschluss. Zur linken Hand hatte man den Park um den Lietzensee mit seinem schönen Baumbestand.”
Damals entstand aber zwischen der Sophie-Charlotten-Straße und der Schloßstraße auch das Charlottenburger Arbeiterviertel, der heutige Klausenerplatzkiez. Zille hatte also auch nicht allzuweit, wenn er soziale Studien anstellen wollte.
Heinrich Zille hat auch erkannt, dass es vor allem die Frauen waren, die die Last des Elends zu tragen hatten, die oft mit viel Kraft und mit Gewitztheit ihre Frau standen, für ihre Familien sorgten, sich um die kleinen kümmerten und den Männern nicht selten überlegen waren.
In einer schönen Zeichnung von 1906 steht ein junger schlacksiger Kerl rechts in der Ecke. Drei kleine Mädchen sitzen daneben auf einer Schaufensterbank, stecken die Köpfe zusammen, und eine sagt: “Mit dem Orje vakehre ick nich mehr. Der is schon dreizehn Jahr und jloobt noch an den Klapperstorch”.
“Kinder der Straße” hieß seine erste Buchveröffentlichung 1908, und den Kindern galt immer seine Sympathie. Er hat sie nie verniedlicht, sondern ihnen immer eine eigene Persönlichkeit verliehen. Unter die Zeichnung von zwei kleinen Jungen mit einer toten Ratte hat er den kurzen Dialog geschrieben: “Von wat is se denn jestorben?” – “Unse Wohnung is zu naß!” 1907 war der Drucker Heinrich Zille nach 30jähriger Tätigkeit von der Photographischen Gesellschaft entlassen worden. Für ihn war es ein schwerer Schlag, denn noch konnte er seine Familie nicht von seinen eigenen künstlerischen Arbeiten ernähren. Er empörte sich darüber, dass die Firmeninhaber sich aus den Gewinnen Villen bauten und große Grundstücke in Charlottenburg erwarben, während die Angestellten leer ausgingen, obwohl ihnen für treue Dienste eigene Häuschen versprochen worden waren.
“So verließ ich die Stätte, wo ich für kärgliches Einkommen für Andere gearbeitet, wo ich noch Nachts gedacht, gewacht, gesorgt habe, Versuche zum besseren Gelingen neuer technischer Verbesserungen mir Kraft und Ruhe raubten.”
Viele Freunde in der Künstlerwelt aber empfanden Zilles Entlassung als freudige Nachricht. August Kraus meinte: “Wir alle freuten uns, den Künstler Heinrich Zille frei vom Joch der Ausbeutung zu wissen, das ihn von seinem eigentlichen Schaffen nur fernhielt.”
Mit Abdrucken in satirischen Zeitschriften, eigenen Buchveröffentlichungen und Ausstellungen versuchte er, den Einkommensverlust auszugleichen. Oft musste er jetzt liefern, was die Auftraggeber wünschten und musste dabei auch Kompromisse machen. Manchmal tat er sich schwer, das Elend als Witz verkaufen zu müssen, aber völlig kompromisslos konnte er nicht existieren.
Das Titelbild der ersten Auflage seines Buches “Kinder der Straße” erregte 1908 Ärger: Eine Prostituierte, die von zwei Polizisten gepackt wird, reckt den Arm mit der geballten Faust nach oben. In späteren Auflagen wurde die Zeichnung durch einen Zuhälter ersetzt, der sich bei zwei Straßenmädchen freundlich unterhakt.
In den 20er Jahren kamen 150 Bilder von ihm in die Nationalgalerie, 1924 wurde Zille Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und Professor. Zu seinem handschriftlich verfassten Lebenslauf meinte der Präsident der Akademie der Künste, Max Liebermann: “Nee, Zille, det kann ick nich lesen, det müssen Sie schon selber tun.”
Mit 71 Jahren starb Heinrich Zille am 9. August 1929 in seiner Charlottenburger Wohnung. Kurt Tucholsky schrieb über Heinrich Zille unter dem Titel “Berlins Bester”:
“Zweeter Uffjang, vierter Hof
wohnen deine Leute
Kinder quieken, na so doof
jestern, morjen, heute
Liebe Krach, Jeburt und Schiß
Du hast jesacht wiet is.”