am Dienstag, dem 20.7.2004, 18.00 Uhr an dem Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus am Steinplatz
Sehr geehrte Frau Vorsteherin,
meine Damen und Herren Bezirksverordneten, Bürgerdeputierten,
sehr geehrte Damen und Herren!
“Ein einziger Tag, der 20. Juli 1944, hat alle Hoffnungen zunichte gemacht und alle Menschen, aus deren Sein und Handeln, aus deren Wesen und Erkennen die geistige Erneuerung und der Wiederaufbau des Landes Gestalt gewinnen sollte, mit einem tödlichen Schlag ausgelöscht.”
Diese einfache und gleichzeitig prägnante Einschätzung des 20. Juli stammt von Marion Gräfin Dönhoff aus dem Sommer 1945 und stellte die Einleitung zu meiner Einladung an Sie zu dieser Kranzniederlegung dar. Sie sind dieser Einladung zu der guten Tradition des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf gefolgt, sich hier am Jahrestag des Attentats am Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus zu versammeln.
Wir erinnern uns heute hier an die Menschen, die im Widerstand gegen die NS-Diktatur ihr Leben riskiert und oftmals verloren haben. Wir verneigen uns mit Achtung und Respekt vor den Männern und Frauen, die mit dem Attentat am 20. Juli und den anschließenden Versuch des Staatsstreichs alles unternommen haben, um die nationalsozialistische Willkür, die Gräueltaten und das millionenfache Sterben im Krieg zu beenden.
Mit unserer Anerkennung für die Attentäter befinden wir uns in großer Übereinstimmung mit der Bevölkerung unseres Landes, denn 73 % aller Deutschen haben in einer aktuellen repräsentativen Umfrage Bewunderung und Achtung als Assoziation für den 20. Juli ‘44 genannt. Das war nicht immer so, noch 1956 fand fast jeder 2. Bundesbürger, dass man eine Schule besser nicht nach den Männern des 20. Juli benennen sollte, und noch Anfang der 60er Jahre hielt jeder vierte Stauffenberg für einen Verräter.
Dass in unserer Republik inzwischen anders darüber gedacht wird, ist das richtige Ergebnis einer intensiven Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur und der mit ihr verbundenen Unmenschlichkeit. Wir wissen heute durch die Forschungen der vergangenen Jahre wesentlich mehr über die verschiedenen Formen des Widerstandes und der Zivilcourage gegen Hitler.
Wir wissen, dass der 20. Juli ‘44 nicht ein isolierter Versuch war, Hitler aus dem Weg zu räumen, sondern der Endpunkt einer langen Kette von geplanten Attentaten. Wir wissen heute auch, dass das Attentat des 20. Juli eingebettet war in eine jahrelange Vorbereitung auf einen Neuanfang für den Fall des geglückten Staatsstreiches. Wir wissen, dass sich zuvor Adlige und Militärs, Konservative und Sozialdemokraten zusammengefunden haben, um ein anderes, ein besseres Deutschland vorzubereiten.
Den Widerstandskämpfern des 20. Juli ging es um die Wiederherstellung des Rechts. Dies belegt deutlich der von Carl Friedrich Goerdeler formulierte Satz für die Regierungserklärung nach dem erfolgreichen Umsturz: “Die Judenverfolgung, die sich in den unmenschlichsten und unbarmherzigsten, tiefbeschämenden und gar nicht wieder gut zu machenden Formen vollzogen hat, ist sofort eingestellt.”
Dank zahlreicher Veröffentlichungen haben wir heute auch Kenntnis davon, dass viele Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg und gerade auch er selbst nicht seit 1933 zu aktiven Gegnern des Nationalsozialismus gehörten, ganz im Gegenteil. Viele der Mitverschwörer tolerierten oder unterstützten gar Hitlers Regime in den 30er Jahren, verhieß doch das Regime Ordnung, Wiederaufstieg Deutschlands und seiner Armee.
Erst die tatsächliche Umsetzung der Eroberungskriege, das Erkennen des Verrats an den preußischen Tugenden und das Wissen über die Vernichtung der Juden führte bei zahlreichen Adligen, Militärs und ehemaligen Politikern zur Formierung eines konzentrierten Widerstandes, der neben Einzelkämpfer wie Georg Elser, den Widerstand der Weißen Rose um die Geschwister Scholl oder die Rote Kapelle trat.
Wir, die wir heute in Freiheit und Recht leben dürfen, können nur ansatzweise erahnen, welchen Mut es für Graf von Stauffenberg bedurfte, um 1943 zu seiner Frau zu sagen: “Weißt Du, ich habe das Gefühl, dass ich jetzt etwas tun muss, um das Reich zu retten.”
Heute, wo viele in unserer Stadt schon wegschauen, wenn ein anderer in der S-Bahn gedemütigt wird, fällt es leicht zu sagen, es gab zu wenig Widerstand oder er kam zu spät. Doch wir sind heute nicht in der Gefahr durch Sippenhaft, Folter und Strang. Wir können heute kaum die Tapferkeit von Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld ermessen, der vor dem Volksgerichtshof zu Freisler als Motivation für seine Teilnahme am Attentat die vielen Morde, die im In- und Ausland durch Deutsche ausgeführt worden sind, nannte.
Der Opfermut und die Größe der Widerstandskämpfer wird wahrscheinlich im besten durch den Satz, den Henning von Tresckow im Sommer ’44 an Stauffenberg ausrichten ließ, beschrieben: “Es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat.”
Diesem entscheidenden Wurf ist es mit zu verdanken, dass Deutschland nach 1945 nicht zerbrechen musste. Und damit verwirklichten sich die letzten Worte Henning von Tresckows: “Wenn Gott einst Abraham verheißen hatte, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur 10 Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott auch Deutschland um unseres Willen nicht vernichten wird.”
Das Handeln der Widerstandskämpfer, egal ob Gewerkschaftler, Diplomaten, Militärs, Vertreter der Kirchen, Beamte oder Arbeiter, Männer oder Frauen hat dazu geführt, dass wir heute in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung im zusammenwachsenden Europa leben können.
Im Ergebnis ihres Handels formuliert Artikel 20 Abs. 4 des Grundgesetzes: Gegen Jeden, der etwas unternimmt diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Und lassen Sie mich hinzufügen, diese Aufgabe ist nicht nur unser Recht, sondern auch unsere Pflicht.