Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen bei der Gedenkveranstaltung zum 9. November am Freitag, dem 8.11.2002, 16.00 Uhr am Mahnmal am Bahnhof Grunewald

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

bei der Gedenkveranstaltung

zum 9. November am Freitag, dem 8.11.2002, 16.00 Uhr am Mahnmal am Bahnhof Grunewald

Sehr geehrter Herr Botschafter Stein!
Sehr geehrter Herr Dr. Brenner!
Sehr geehrter Herr Behar!
Sehr geehrte Schülerinnen und Schüler!
Sehr geehrte Auszubildende der Landespolizeischule!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Diese Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 hat bereits eine lange Tradition. Nicht selten bekommen wir zu hören, wir sollten aufhören damit, an die Verbrechen der Nationalsozialisten zu erinnern.

Aber wir wollen und dürfen damit nicht aufhören. Deshalb bin ich Ihnen, den Schülerinnen und Schülern des Gottfried-Keller-Gymnasiums dankbar, dass Sie die Tradition in diesem Jahr weiterführen und gemeinsam mit den Auszubildenden der Landespolizeischule Berlin diese Veranstaltung organisiert haben. Ich danke dem Zeitzeugen Isaak Behar, der mit seiner Arbeit in unseren Schulen dafür sorgt, dass die Erinnerung nicht aufhört und der immer wieder Jugendliche dafür begeistert, sich für diese Erinnerungsarbeit zu engagieren.

Ich danke herzlich dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlins, Herrn Dr. Alexander Brenner, dass er heute bei uns ist. Es ist für unsere Stadt ein unschätzbares Glück, dass trotz der historischen Belastung wieder eine jüdische Gemeinde in Berlin entstanden ist und dass diese Jüdische Gemeinde sich so intensiv in und für Berlin öffentlich engagiert. Leider haben die letzten Tage wieder einmal Anlass gegeben, über Antisemitismus in unserer Stadt zu diskutieren. Um so wichtiger ist Ihr Engagement für uns.

Ich danke herzlich Herrn Shimon Stein, dem Botschafter Israels, für seine Mitwirkung an dieser Gedenkveranstaltung. Seine Anwesenheit ist eine Ehre für uns alle und ein wichtiges Zeichen für die große Bedeutung dieser Veranstaltung.

Wir sind soeben den Weg gegangen vom Rathenau-Gedenkstein hierher zum Mahnmal am Bahnhof Grunewald. Es ist der Weg vom Attentat auf den Außenminister Walther Rathenau am Beginn der Weimarer Demokratie bis zur Deportation und Ermordung der Juden am Ende des nationalsozialistischen Terrorstaates. Es ist der Weg von der gefährdeten Demokratie bis zur Diktatur, die in der staatlichen Barbarei gipfelte.

Der 9. November 1938 war ein Wendepunkt dieser Diktatur. Von diesem Tag an, als die Synagogen brannten, war der staatliche Terror offenbar. Jeder wusste jetzt, wohin Hitlers Diktatur führte: Synagogen wurden angezündet, und die Feuerwehr durfte nicht löschen Die Schaufenster jüdischer Geschäfte wurden eingeschlagen, und die Polizei griff nicht ein. Jüdische Bürgerinnen und Bürger wurden wahllos verhaftet, gedemütigt, gefoltert und viele ermordet.

Diese Nacht vom 9. zum 10. November war wie ein weithin sichtbares Zeichen für das, was noch kommen sollte: die systematische und fabrikmäßig organisierte Ermordung von Millionen europäischer Juden. Hier, vom Bahnhof Grunewald fuhren von 1941 bis 1945 die Züge ab, in denen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Berlins in die Vernichtungslager deportiert und dort ermordet wurden.

Diese nationalsozialistische Barbarei bleibt uns bis heute letztlich unerklärlich. Wir sind die Nachkommen der Deutschen, die vor gerade einmal 60 Jahren daran mitgewirkt haben. Noch nicht einmal ein Menschenalter ist es her, und wir können es nicht verstehen.

Wir können es nicht verstehen, obwohl inzwischen ganze Bibliotheken an Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus entstanden sind. Aber gerade deshalb, weil wir es nicht verstehen können, müssen wir uns daran erinnern, dürfen es nicht verdrängen.

Inzwischen gibt es viele Gedenkstätten in Deutschland, die wie dieses Mahnmal daran erinnern, und das zentrale Mahnmal neben dem Brandenburger Tor wird jetzt gebaut.

Ich bin überzeugt, dass diese aktive Erinnerung mit dazu beigetragen hat und weiter dazu beiträgt, dass unsere Demokratie gefestigt wurde. Die letzten Wahlen haben es gezeigt: Rechtsradikale haben in unserem Land keine Chance. Der Versuch, mit antisemitischen Tönen Stimmung zu machen und Stimmen zu bekommen, war empörend, aber er ist kläglich gescheitert. Das ist ein gutes Zeichen für unsere Demokratie.

Aber wir dürfen uns auf dieser Gewissheit nicht ausruhen. Neonazistische Gruppen sind nach wie vor aktiv und gefährlich, und vor wenigen Tagen bei der Rückbenennung der Jüdenstraße in Spandau wurde der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Dr. Brenner, mit antisemitischen Pöbeleien konfrontiert. Wer so denkt und solche Sprüche von sich gibt, der hat aus unserer Geschichte nichts gelernt. Es ist wichtig, solche öffentlich antisemitische Äußerungen nicht auf sich beruhen zu lassen. Und es ist wichtig, gerade angesichts eines solchen öffentlich zu Tage tretenden Antisemitismus an unsere Geschichte zu erinnern. Herr Dr. Brenner, seien sie versichert, dass wir uns mit Ihnen solidarisch fühlen.

Auch in unserem Bezirk gibt es seit Jahren eine Diskussion um Straßen, die von den Nationalsozialisten umbenannt wurden, weil sie die jüdischen Namen nicht im Straßenbild dulden wollten.

Manche sagen, es sei doch inzwischen so viel Zeit vergangen, dass man diese Straßennamen, an die alle sich gewöhnt haben, nicht mehr ändern müsse. Ich antworte darauf: Ganz im Gegenteil, es ist längst überfällig, dass wir das nationalsozialistische Unrecht endlich rückgängig machen, auch dort, wo es nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist. Denn es war ein Unrecht, jüdische Straßennamen auszulöschen. Erst kam die Auslöschung der Namen, dann wurden die Menschen ermordet.

Ein erzürnter Bürger hat mir geschrieben, bei dem Namen Seebergsteig habe man doch nur angenehme Empfindungen und denke eher an eine idyllische Landschaft als an einen antisemitischen Theologen, der kurz vor seinem Tod die Machtübernahme der Nationalsozialisten begrüßte.

Ich habe dem Briefschreiber geantwortet, dass wir uns nicht dumm stellen dürfen. Und gerade der heutige Tag lehrt es uns: Wir dürfen nicht so tun, als wüssten wir nichts. Wir dürfen nicht wegsehen.

Denn wir fragen uns: Warum hat am 9. November 1938 fast niemand eingegriffen? Ausnahmen wie der mutige Polizist, der verhindert hat, dass die Synagoge in der Oranienburger Straße abbrannte, machen die Frage nur noch dringlicher: Warum haben die meisten weggesehen? Warum wollten sie nichts von dem wissen, was doch in aller Öffentlichkeit geschah?

Und wie konnte es später geschehen, dass die jüdischen Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt aus ihren Wohnungen geholt wurden, in der Sammelstelle an der Levetzowstraße zusammengepfercht wurden und meistens nachts aber manchmal auch am helllichten Tag durch die Straßen, auch durch die Straßen, die wir heute gegangen sind, hierher geführt und in die Eisenbahnwagen verladen wurden? Wie konnte das geschehen, ohne dass jemand sich einmischte?

Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, dann müssen wir aus dem 9. November 1938 lernen, dass wir nicht mehr wegsehen dürfen. Es ist nicht mehr erlaubt, nichts wissen zu wollen. Wer nichts wissen will, der macht sich mitschuldig. Wir sollten vorsichtig sein bei der Beurteilung der Menschen damals. Aber wir selbst, die wir heute in Freiheit in einer Demokratie leben, wir haben keine Ausrede mehr. Wir wissen es – und wir haben die Pflicht, aus der Geschichte zu lernen. Denn nur wer seine Geschichte kennt, der kann seine Zukunft gestalten.

Deshalb danke ich noch einmal allen, die an dieser Gedenkveranstaltung mitwirken, und ich hoffe, dass wir gemeinsam diese Tradition der Erinnerung auch in Zukunft aktiv weiter pflegen können.

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