am 8.5.2002, 11.30 Uhr
Sehr geehrte Frau Pisani!
Sehr geehrter Herr Strieder!
Sehr geehrter Prof. Dr. Steinbach!
Sehr geehrter Herr Baumann!
Sehr geehrter Herr Engelbrecht!
Sehr geehrte Damen und Herrn!
Die Geschichte lässt uns nicht los – und das ist auch gut so, denn wenn wir unsere Geschichte nicht kennen, dann können wir unsere Gegenwart nicht verstehen und unsere Zukunft nicht gestalten.
Manche meinen, wir hätten uns jetzt lange genug mit der Geschichte des Nationalsozialismus in unserem Land beschäftigt und sollten einen Schlussstrich darunter ziehen. Das ist nicht nur ein fataler Irrtum, sondern auch ein falsches Verständnis von Geschichte. Gerade in den letzten Jahren haben wir erlebt, dass sich unsere Fragen an die Geschichte ständig ändern und erweitern. Jede Generation wird mit neuem Interesse und mit neuen Fragestellungen an die Geschichte herangehen. Deshalb muss die Geschichte immer wieder neu geschrieben werden, und die Erwartung an ein Ende der Aufarbeitung unserer Vergangenheit ist nicht nur verfrüht, sondern auch grundsätzlich falsch.
Wenn wir in unserem Bezirk Gedenktafeln enthüllen, dann erinnern wir mit diesen Gedenktafeln häufig an bedeutende Persönlichkeiten, die von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben wurden oder die von ihnen ermordet wurden. Und meistens stellen wir fest, dass die Betreffenden bis heute von uns nicht wieder eingebürgert wurden. Sie wurden entweder vergessen, oder wir sehen sie immer noch als Fremde, als Opfer zwar, aber als Opfer, die nicht wirklich zu uns gehören. Wir gedenken ihrer nicht wie wir etwa unserer gefallenen Soldaten gedenken.
Die Nationalsozialisten haben ja nicht nur einen schrecklichen Krieg nach außen geführt, sondern sie haben auch einen Bürgerkrieg gegen große Teile des eigenen Volkes geführt, gegen die Juden, gegen Sozialisten und Kommunisten, gegen Homosexuelle und Behinderte, gegen alle, die nicht zu ihren Vorstellungen des deutschen Ariers passten oder die sich ihnen widersetzten. Sie haben allen diesen Menschen ihre Heimat genommen, sie haben ihnen das Recht abgesprochen, sich als Deutsche zu bezeichnen.
Hier am Murellenberg erinnern wir mit diesem neuen Denkzeichen an Opfer der Nationalsozialisten, bei denen es besonders offensichtlich ist, dass sie Opfer eines Bürgerkriegs sind, den der Terrorstaat gegen seine eigenen Bürger geführt hat. Mehr als 230 Menschen, die meisten von ihnen Wehrmachtsangehörige, wurden hier erschossen, meist wegen Fahnenflucht oder Wehrkraftzersetzung.
Und auch hier scheint es mir so zu sein, dass wir diese Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bis heute nicht wieder eingebürgert haben. Bis heute haben wir die Deserteure und die Saboteure nicht rehabilitiert. Wir haben sie nicht wieder anerkannt als Deutsche, die sich in den letzten Kriegsmonaten einem sinnlosen Morden und Sterben widersetzten.
Der Streit über die Wehrmachtsausstellung hat gezeigt, dass wir in unserem Land noch keinen Konsens erzielt haben über die Bewertung der Rolle der Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat. Ich denke aber doch, dass eine Einigung darüber möglich sein sollte, dass wir die Erschießungen, die hier stattgefunden haben, aus heutiger Sicht nicht akzeptieren. Wir wissen nicht, weshalb die Menschen, die hier ermordet wurden, sich widersetzt oder verweigert haben. Wir wissen nicht, ob sie verzweifelt waren, ob sie Angst hatten, ob sie Widerstand leisten wollten, ob sie den sinnlosen Krieg verkürzen wollten, ob sie einfach nur überleben wollten – wir wissen, aber dass der Krieg von Anfang an Unrecht war und dass er in den letzten Monaten nur noch selbstzerstörerisch war.
Deshalb verstehe ich dieses Denkzeichen nicht nur als Erinnerung an die Opfer eines sinnlos-barbarischen Krieges, sondern ich verstehe es auch als einen Beitrag zur Wiedereinbürgerung der Opfer in unser kollektives Gedächtnis.
Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben, dieses Denkzeichen möglich zu machen: Die evangelische Kreissynode Charlottenburg hat sich schon lange mit den Opfern der nationalsozialistischen Militärjustiz an dieser Stelle beschäftigt. Sie hat die Unterstützung der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg gefunden, die im September 1995 einen entsprechenden Beschluss gefasst hat. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat schließlich einen Wettbewerb ausgeschrieben, in dem die argentinische Künstlerin Patricia Pisani mit ihrem Beitrag überzeugt hat.
Ich danke ihnen und allen anderen, die an der Entstehung des Denkzeichens mitgewirkt haben, für ihr Engagement.
Wir werden alles dafür tun, diese neue Gedenkstätte in unserem Bezirk bekannt zu machen. Am kommenden Samstag beispielsweise von 14 bis 16 Uhr wird meine Kollegin, Sozial- und Umweltstadträtin Martina Schmiedhofer in unserer beliebten Reihe der kommunalpolitischen Spaziergänge hier am Murellenberg das neue Denkzeichen bekannt machen und es erläutern.
Ich hoffe, dass viele Menschen den Weg hierher finden, sich informieren und sich hier ihre eigenen Gedanken machen. Wir sind es gewohnt, wenn wir einen Verkehrsspiegel sehen, besonders vorsichtig zu sein und genau hinzusehen. Das sollten wir hier auch tun, denn nur wenn wir unsere Vergangenheit kennen, können wir daraus für die Zukunft lernen.