Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zur Eröffnung der Ausstellung "Der gelbe Stern" am 24.2.2002, 17.00 Uhr im Gemeindesaal der Ev. Vaterunser-Kirchengemeinde, Detmolder Str.17/18, 10715 Berlin

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

zur Eröffnung der Ausstellung "Der gelbe Stern"

am 24.2.2002, 17.00 Uhr im Gemeindesaal der Ev. Vaterunser-Kirchengemeinde, Detmolder Str.17/18, 10715 Berlin

Sehr geehrte Frau Werner! (Pfarrerin)
Sehr geehrter Herr Kallmann! (Jüdische Gemeinde, Zeitzeuge)

Vielen Dank für Ihre Einladung zu dieser Ausstellungseröffnung.

In diesen Tagen wird viel geschrieben und gesprochen über das neue Buch von Günter Grass. Es heißt “Im Krebsgang”, und der Literaturnobelpreisträger schildert darin den Untergang der “Wilhelm Gustloff”. Das war ein großes Passagierschiff, das im Januar 1945 mit 10.000 ostdeutschen Flüchtlingen an Bord von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde. Knapp 1.500 Passagiere überlebten. Die anderen, darunter viele Kinder fanden einen grausamen Tod in der eisigen Ostsee.

Viele haben sich darüber gewundert, dass Günter Grass gerade jetzt über Flucht und Vertreibung von Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges schreibt. Er selbst erklärt es damit, man habe das Thema zu lange den Rechtsradikalen und den Vertriebenenverbänden überlassen. Man dürfe unsere Geschichte nicht auf die Geschichte des Holocaust reduzieren, weil man dann viele junge Menschen nicht mehr erreiche. In seinem Buch ist es ein junger Rechtsradikaler, der im Internet seine Nachforschungen zum Schiffsuntergang verbreitet und damit seinen Vater zwingt, sich dem Thema zu stellen.

Ich finde: Günter Grass hat Recht, und er hat Unrecht. Sicher kommt es darauf an, dass wir die ganze Geschichte zur Kenntnis nehmen und nichts verschweigen, nichts mit falschen Tabus belegen.

Aber ich kann nicht sehen, dass über die Vertreibung von Deutschen aus den ostdeutschen Gebieten im Zusammenhang mit dem von Hitler begonnenen Zweiten Weltkrieg geschwiegen worden wäre, oder dass dieses Thema gar mit einem Tabu belegt gewesen wäre.

Die Vertriebenenverbände haben das Schicksal der Heimatvertriebenen laut und vernehmbar beklagt, Historiker haben das Thema intensiv bearbeitet, Schriftsteller und Journalisten wie Leonie Ossowski, Christine Brückner, Walter Kempowski, und Marion Gräfin Dönhoff haben die deutsch-polnische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte für ein breites Lesepublikum erschlossen, und über den Untergang der Wilhelm Gustloff wurde in den 50er Jahren sogar ein Film gedreht.

Was hat das alles mit dieser Ausstellung zu tun? Ich meine, dass Ausstellungen wie diese gerade vor dem Hintergrund solcher aktueller Diskussionen wichtig sind. Wir müssen gerade in dieser Zeit aufpassen, dass nicht der Eindruck entsteht, zum Holocaust sei mittlerweile alles gesagt und wir könnten jetzt zu anderen Themen übergehen, die uns vielleicht nicht so unangenehm sind.

Im Gegenteil: Leider müssen wir immer wieder erleben, dass viele noch immer nichts gelernt haben aus unserer Geschichte und auch heute wieder mit neonazistischen, antisemitischen Parolen junge Wirrköpfe in ihren Bann ziehen können. Dagegen können wir nur historische Aufklärung setzen, und am wirkungsvollsten ist immer noch die Aufklärung, die nicht abstrakt bleibt, sondern die uns ergreift, weil uns persönliche Schicksale nahegebracht werden. Wenn Zeitzeugen wie Heinz Kallmann ihre Erfahrungen vermitteln, dann ist das oft wirkungsvoller als eine große Bibliothek mit viel angehäuftem Detailwissen.

Manchmal denke ich: Auch die intensive Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Entrechtung, Aussonderung, Vertreibung und Ermordung der Juden hat leider noch immer nicht dazu geführt, diese Menschen wieder zurückzuholen in unser Bewusstsein. Für die meisten ist die Fremdheit geblieben, die Vorstellung, jüdische Deutsche seien anders gewesen, keine richtigen Deutschen. Dabei waren sie Nachbarn, die man grüßte, Ärzte, denen man sich anvertraute, Kaufleute, bei denen man einkaufte, Stars, die man im Kino sah, Nobelpreisträger, auf die man stolz war.

Gerade in unserem Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf wird uns das immer wieder bewusst. Charlottenburg und Wilmersdorf waren in den 20er Jahren die beiden Berliner Bezirke mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung. Es waren mehr als 50.000 allein in diesen beiden Bezirken. Von den etwa 300 Gedenktafeln, die es inzwischen in unserem Bezirk gibt, erinnern viele an jüdische Bürgerinnen und Bürger, die Großes geleistet haben. Viele von ihnen sind vor Hitler geflohen, manche von den Nazionalsozialisten ermordet worden. Hitlers Krieg gegen die Juden war zuallererst auch ein Bürgerkrieg gegen einen großen Teil der eigenen deutschen Bevölkerung. Im Weltkrieg dehnte er diesen Krieg gegen die Juden dann aus auf ganz Europa.

Der gelbe Stern war das Symbol für die vollständige Ausgrenzung der Juden. Mit ihm wurden sie aus der Bürgergemeinschaft ausgeschlossen. Der gelbe Stern demonstrierte das völlige Anderssein, den Verlust aller Bürgerrechte in Deutschland. Mit dem gelben Stern wurden die jüdischen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes auf schreckliche Weise gebrandmarkt wie Tiere, die zur Schlachtbank abgeführt werden sollen. Wenn diese Ausstellung dazu beitragen könnte, sie wieder zurückzuholen in unser Bewusstsein, sie uns als Berlinerinnen und Berliner, als Deutsche, als Mitmenschen nahe zu bringen, dann wäre viel erreicht.

Es ist sicher legitim und notwendig, die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit all ihren Katastrophen ohne Scheuklappen zu betrachten. Deutsches Großmachtstreben, Rassismus und Antisemitismus in unserem Land haben Millionen Opfer gekostet – auch unter den Deutschen. Wenn wir uns an die vielen deutschen Opfer erinnern, die der nationalsozialistische Terrorstaat gekostet hat, dann gehören dazu auch die deutschen Juden.

Ich bin den Initiatoren dieser Ausstellung, und ich bin der Vaterunser-Gemeinde dankbar dafür, dass sie diese Ausstellung in unserem Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf zeigen, und ich wünsche der Ausstellung viel Erfolg.

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