Rede am 9.11.2011 zum Gedenken an den 9. November

Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann am Bahnhof Grunewald

Am Mittwoch, dem 9.11.2011, um 17.00 Uhr am Bahnhof Grunewald

Sehr geehrte Schülerinnen und Schüler!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wie kann man über die Shoa, den millionenfachen Mord an den Juden sprechen, ohne das Verbrechen zu verharmlosen? Der Dichter Paul Celan wurde in Rumänien als Sohn einer deutschsprachigen jüdischen Familie geboren. Seine Eltern wurden ermordet. Er selbst hat die Shoa in rumänischen Arbeitslagern überlebt und später versucht, in seinen Gedichten eine Sprache für das Unsagbare zu finden:

“Psalm

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.

Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.

Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.”

Wie Paul Celan hat auch Isaak Behar seine Familie in der Shoa verloren, und er hat sich sein ganzes Leben lang gefragt, warum er überleben durfte. Wir erinnern uns heute dankbar an Isaak Behar, der am 22. April dieses Jahres verstorben ist. Er hat das heutige Gedenken in dieser Form initiiert, sich mit ganzer Kraft für diese Veranstaltung eingesetzt und als Zeitzeuge in den Schulen viele Jugendliche mit seinen authentischen Schilderungen beeindruckt.
Seine Eltern wurden zusammen mit seinen beiden Schwestern hier vom Gleis 17 am Bahnhof Grunewald aus nach Riga deportiert und dort ermordet.
Es ist ganz in seinem Sinne, dass diese Gedenkveranstaltung nun ohne ihn weiter stattfindet.
Die Eltern von Isaak Behar, Lea und Nissim Behar, wuchsen am Stadtrand von Konstantinopel auf, also im heutigen Istanbul. Sie waren sephardische Juden, das heißt Nachkommen der im Mittelalter aus Spanien vertriebenen Juden. Der Vater war Teppichknüpfer.
1915 zogen sie nach Berlin, wo ein Jahr später die erste Tochter geboren wurde: Alegrina. 1920 ging die Familie nach Paris, wo die zweite Tochter geboren wurde: Jeanne.
Bald kehrte die Familie wieder nach Berlin zurück, und hier wurde am 6. September 1923 Isaak Behar geboren.
In seinem Lebensbericht beschreibt er, wie liebevoll die Eltern und Geschwister miteinander umgingen. Er selbst, Isaak, war der Liebling von allen und wurde entsprechend verwöhnt.
Nachdem 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, reiste die Familie nach Barcelona, um den antisemitischen Ausschreitungen aus dem Weg zu gehen.
Aber sie konnten in Spanien keine Existenz aufbauen und kamen bald wieder nach Berlin zurück, in der Hoffnung, dass der Spuk bald vorüber gehen würde.
1936, im Jahr der olympischen Spiele, wurden die antisemitischen Maßnahmen vorübergehend ausgesetzt. Deutschland sollte gegenüber den vielen Gästen aus aller Welt ein gutes Bild abgeben.
Danach allerdings wurde es auch für die Behars immer schlimmer. Isaak Behar hat beschrieben, was für ihn als Jungen besonders schwer zu ertragen war: “Die meisten unserer nichtjüdischen Freunde hatten sich schon lange von uns abgewendet. Wenn wir ihnen jetzt auf der Straße begegneten, wechselten sie auch die andere Seite oder liefen rasch in Läden hinein, die wir Juden zu dieser Tageszeit nicht betreten durften.”
Isaak musste seine Schule in der Bleibtreustraße verlassen und in die jüdische Leonore-Goldschmidt-Schule am Roseneck wechseln, bis auch diese 1939 geschlossen wurde.
Am 13. Dezember 1942 wurden Isaaks Eltern Lea und Nissim und die Geschwister Alegrina und Jeanne aus ihrer Wohnung an der Kantstraße Ecke Fasanenstraße von der Gestapo abgeholt.
Der 19jährige Isaak Behar war zum Glück nicht zuhause und blieb deshalb frei.
Er musste sich verstecken und überlebte in Berlin als “U-Boot” – so nannte man die untergetauchten Juden. Er wurde zweimal verhaftet und konnte zweimal entkommen.
Einige wenige mutige Deutsche halfen ihm, darunter der Kommunist Hans Koslowski, der sich von ihm mit den Worten verabschiedete: „Versprich mir, dass du am Leben bleibst“. Diesen Satz wählte Isaak Behar als Titel für sein 2002 erschienenes Buch. Und er empfand sein Schicksal als Verpflichtung. Er sorgte dafür, dass die Erinnerung an seine Familie nicht verloren ging.
Er arbeitete in den letzten Jahrzehnten seines Lebens unermüdlich als Zeitzeuge und erzählte Tausenden von Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden und jungen Soldatinnen und Soldaten, was er erlebt hatte und wie seine Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde. In seinem Buch beschreibt er, wie er sich mit den Jugendlichen auseinandergesetzt hat:
„Oft sagen meine jungen Zuhörer, sie hätten gehört, dass die Bevölkerung gar nicht gemerkt habe, was mit den Juden geschah. Nicht gemerkt?
Konnten die alle nicht lesen, was an den Schildern, die überall hingen, geschrieben stand?
Konnten sie nicht hören, was im Radio und auf der Straße gesagt wurde! Und das, was später die Soldaten auf Heimaturlaub erzählten, von dem, was sie an der Ostfront gesehen hatten, hat das auch niemand vernommen? Und hatten sie keine Augen im Kopf? Über 50.000 Menschen verschwanden allein in Berlin. Das wollen Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen nicht bemerkt haben?
Fiel denn dem Nachbarn nicht auf, dass die Familie, mit der man seit Jahren, Jahrzehnten mitunter, Tür an Tür gewohnt hatte, mit der man vielleicht befreundet war oder zumindest gutnachbarlichen Umgang pflegte, auf einmal nicht mehr da war?
Und sahen sie nicht, dass manchmal tausend und mehr Menschen mit gelben Sternen an ihren Mänteln, mit Gepäck beladen, durch die Straßen Berlins getrieben wurden? Hat sich nie jemand gefragt, wohin diese Reisen eigentlich gehen würden?”
Diese Fragen hat uns Isaac Behar gestellt.
Der Weg, den wir soeben gegangen sind, war genau der Weg, den viele Juden gehen mussten von der Sammelstelle in der Levetzowstraße über den Kurfürstendamm bis hierher zu den Güterzügen, mit denen sie in die Vernichtungslager gefahren wurden.
Was damals geschah ist für mich bis heute unfassbar. Es ist gerade einmal ein knappes Menschenalter her, und es leben noch viele Menschen, die es mit erlebt haben – Verfolgte und Verfolger, Opfer und Täter. Wir können und dürfen es nicht wegschieben in vermeintlich längst vergangene Zeiten.
Im Gegenteil: Wir müssen uns daran erinnern, immer wieder, damit wir dafür sorgen können, dass niemals mehr etwas Ähnliches geschieht.
Isaak Behar hat uns mit seinen Erzählungen und mit seinem Buch ein Vermächtnis hinterlassen.
Dabei geht es letztendlich nicht um die Vergangenheit, sondern um unsere Zukunft, denn nur wer seine Vergangenheit kennt, kann dafür sorgen, dass in der Zukunft nicht noch einmal etwas Ähnliches geschieht. Isaak Behar hat es so ausgedrückt:
„Vielleicht kann ich durch mein Erzählen ja auch etwas bewirken. Bewirken, dass die Menschen aufmerksam werden, wenn jemand in ihrer Mitte plötzlich verteufelt und ausgegrenzt wird. Dass die Menschen sich wehren, wenn die Rechte eines anderen beschnitten werden.
Und nicht nur, weil es dann auch bald die eigenen Rechte sein könnten, die in Mitleidenschaft gezogen werden.“
Ich bin dankbar, dass die Schülerinnen und Schüler des Gottfried-Keller-Gymnasiums gemeinsam mit den Auszubildenden der Landespolizeischule dieses Gedenken wieder organisiert haben. Herzlichen Dank dafür.
Ich danke auch allen Lehrerinnen und Lehrern und Herrn Schulleiter Kreitmeyer, die mit geholfen haben. Der Titel, den Sie über das heutige Gedenken gesetzt haben, benennt, was wir aus der Erinnerung lernen müssen: “Gegen Rassismus, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit” – ganz im Sinne Isaak Behars. Wir werden ihn nicht vergessen!