Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen am 13.8.2011 zum 50. Jahrestag des Mauerbaus

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

Am 13.8.2011 zur Kranzniederlegung am Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus am Steinplatz zum 50. Jahrestag des Mauerbaus

Sehr geehrte Damen und Herren!

Der 13. August ist einer der Gedenktage, die uns an schreckliche Abschnitte unserer Geschichte mit viel Leid und Schmerzen erinnern. Aber zum Glück wird dieser Gedenktag in unserer Erinnerung inzwischen überlagert vom Tag des Mauerfalls am 9. November 1989. Die Mauer stand nicht einmal 30 Jahre lang. Wir wollen die Menschen nicht vergessen, die unter ihr gelitten haben und die ihr zum Opfer gefallen sind. Aber wir dürfen uns doch auch darüber freuen, dass sie dem Freiheitsdrang der Menschen in der DDR nicht standgehalten hat.
Ich vermute, dass für die meisten Menschen der heutige fünfzigste Jahrestag des Mauerbaus beides beinhaltet: Abscheu und Entsetzen über ein Bauwerk, das Familien getrennt und vielen Menschen den Tod gebracht hat – aber auch Genugtuung darüber, dass dieses Monstrum inzwischen schon seit fast 22 Jahren wieder verschwunden ist.
Vielen Jugendlichen ist dieses Datum kein Begriff mehr. Selbst in Berlin – vielleicht sogar gerade in Berlin – wurde es von vielen vergessen. Touristen sind oft stärker an diesem Teil unserer Geschichte interessiert als Einheimische, und sie sind enttäuscht, weil von der legendären Berliner Mauer so wenig übrig geblieben ist. Nach dem Fall der Mauer hatten wir kein Interesse daran, sie zu konservieren. Im Gegenteil: Sie wurde in viele kleine Teile zerklopft, die dann als Souvenirs verschenkt oder verkauft wurden. In gewisser Weise wurde sie der Lächerlichkeit preisgegeben.
8 Jahre nach der Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 war der Bau der Mauer am 13. August 1961 eine weitere Maßnahme zur Einschüchterung und Freiheitsberaubung. Die DDR-Regierung richtete ihre Überwachungs- und Sicherheitsbehörden voller Misstrauen gegen das eigene Volk.
Inzwischen haben wir viel über die Aktivitäten der Stasi erfahren. Und wir müssen feststellen, dass diese angstvolle und zugleich aggressive Politik der SED auch unser Leben im Westteil Berlins mehr beeinflusste als wir bisher annahmen.
Charlottenburg und Wilmersdorf hatten als Innenstadtbezirke West-Berlins keine direkte Berührung mit der Mauer. Und viele im Westteil der Stadt vergaßen sie im Alltag und fanden sich mit ihr ab, vor allem junge Leute, die in den 1960er und 70er Jahren nach West-Berlin kamen, weil es für sie ein Aussteigerparadies war, eine Insel der Freiheit. Das war einfach und bequem, denn sie konnten diese Insel jederzeit verlassen. Sie mussten vielleicht eine gewisse Wartezeit und eine unangenehme Situation am Transitübergang ertragen, aber sonst stand ihrer Reise in den freien Westen nichts im Wege.
West-Berlin war tatsächlich eine Insel der Freiheit, aber diese Freiheit musste politisch hart erkämpft und immer wieder neu gesichert werden. Davon wollten viele Aussteiger nichts wissen. Für sie bezog sich der Begriff Freiheit nur auf ihren persönlichen Lebensstil. Nicht wenige von ihnen verachteten oder bekämpften sogar die Politik, die ihre Freiheit sicherte. Sie vergaßen dabei, dass die Leidtragenden der Mauer ihre Landsleute in der DDR waren.
50 Jahre nach dem Bau der Mauer und 22 Jahre nach ihrem glücklichen Ende können sich viele nicht mehr vorstellen, wie das damals war. Deshalb ist es notwendig, daran zu erinnern.
Und deshalb sind die vielen Publikationen, Veranstaltungen und vor allem die Zeitzeugenberichte zu diesem heutigen Jahrestag richtig und wichtig.
Der 13. August 1961 war ein strahlender Sonntag. Aber er war ein Schock für alle, die ihn erlebt haben. Ein diktatorisches Regime nahm seine eigene Bevölkerung in Haft, weil die Menschen davon liefen und damit demonstrierten, dass sie mit ihrer Regierung nicht einverstanden waren. Abwählen konnten sie diese Regierung nicht, denn ganz im Gegensatz zu ihrem Namen war die Deutsche Demokratische Republik keine Demokratie.
Der Bau der Mauer war die Bankrotterklärung des kommunistischen Herrschaftssystems der DDR. Es war das Eingeständnis, dass sie den Wettbewerb um die bessere Gesellschaftsordnung längst verloren hatte. Wer Mauern braucht, der hat offensichtlich nichts zu bieten. Man musste Zwang ausüben und die Menschen einsperren, damit sie nicht wegliefen. Mit diesem Zwang verlängerte das System seine Lebensdauer künstlich um weitere 28 Jahre, bis dann mit dem Fall der Mauer konsequenterweise auch die DDR ihr Ende fand. Die Mauer hat viele Menschenleben gekostet und viele Menschen brutal voneinander getrennt. Sie war menschenverachtend. Bis heute ist die genaue Zahl der Todesopfer an der Berliner Mauer nicht bekannt.
Historiker weisen darauf hin, dass die Mauer zu einer Stabilisierung der Lage um Berlin geführt habe und dass sie einen Zusammenprall der im Kalten Krieg miteinander verfeindeten Blöcke verhindert habe, dass sie damit letztlich dem Erhalt des Friedens gedient habe. Wir wissen, dass der amerikanische Präsident Kennedy erleichtert reagierte, als er vom Bau der Mauer erfuhr. Für ihn bedeutete es, dass Chruschtschow nachgegeben hatte: “Wenn er noch die Absicht hätte, ganz Berlin zu besetzen, hätte er diese Mauer nicht gebaut.”
Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Bau der Mauer mit Schießbefehl und Minen ein Verbrechen war. Es ist das einzige Beispiel in der Geschichte der Menschheit, dass die gesamte Bevölkerung eines Möchtegern-Staates von ihrer Staatsführung in Haft genommen und damit ihrer Freiheit und ihrer Lebenschancen beraubt wurde.
Auch für uns West-Berliner bedeutete der Bau der Mauer Angst und Schrecken. Viele glaubten nicht, dass der Ostblock es dabei belassen würde. Eine Flucht aus dem Westteil der Stadt setzte ein, Möbelwagen rollten nach Westen, die Grundstückspreise in West-Berlin sanken, und nur mit großen Anstrengungen konnte die Bundesrepublik die Lebensfähigkeit der Teilstadt aufrechterhalten.
Im Widerspruch gegen alle, die sich mit der Mauer arrangiert hatten, sagte Richard von Weizsäcker am 18. März 1986: “Die Mauer in Berlin ist eine Realität; aber realistisch ist sie nicht, denn sie ist nicht vernünftig, nicht human. Deshalb wird sie in der geschichtlichen Perspektive keinen Bestand haben.” Knapp vier Jahre später wurde diese Voraussage bestätigt.
Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben sich im November 1989 den Durchbruch durch die Mauer erkämpft, und Berlin ist längst wieder die Hauptstadt Deutschlands, eine pulsierende Metropole, eines der attraktivsten Ziele für Touristen in aller Welt. Die Mauerzeit erscheint im Rückblick vielen bereits als unwirklich und unverständlich, als eine skurrile Episode in der Geschichte unserer Stadt.
Wir sollten aber nie vergessen: Die Mauer hat als brutales Zeichen der Gewaltherrschaft Berlin für fast drei Jahrzehnte zerschnitten.
Aus ihrem Ende können wir lernen, dass man sich mit brutalem Unrecht nicht arrangieren darf. Auch wenn es nicht sofort zu ändern ist, lohnt es sich, dagegen anzukämpfen. Am Ende hat das Unrecht keinen Bestand, und auch ein scheinbar mächtiges diktatorisches Regime bricht wie ein Kartenhaus zusammen.