Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zur Kranzniederlegung am 20.7.2011, 10.00 Uhr am Steinplatz
Sehr geehrte Frau Dr. Suhr!
Sehr geehrte Frau Dr. Rehfeld!
Sehr geehrte Frau Dr. Hansen!
Sehr geehrte Mitglieder des Bundes der Verfolgten des Naziregimes!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Im vergangenen Jahr ist überraschend ein großer deutscher Roman zum Welt-Bestseller geworden. Hans Fallada schrieb ihn unmittelbar nach dem Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs innerhalb von vier Wochen im Herbst 1946: “Jeder stirbt für sich allein”.
Fallada hatte aus einer Gestapo-Akte vom Schicksal des Berliner Ehepaares Otto und Elise Hampel erfahren, das Postkarten-Flugblätter gegen Hitler ausgelegt hatte, denunziert wurde und 1943 hingerichtet wurde.
Das Schicksal dieser beiden Menschen hat ihn so tief beeindruckt, dass er die Geschichte ihres Widerstands auf 700 Seiten auf ergreifende Weise schildert und dabei ein gleichzeitig anrührendes und erschreckendes Sittengemälde des nationalsozialistischen Berlins der kleinen Leute ausmalt. Es sollte sein letzter Roman werden. Und er wurde im Nachkriegsdeutschland kaum zur Kenntnis genommen. Erst vor zwei Jahren wurde er ins Englische übersetzt, wurde in den USA, in Israel, Großbritannien und Frankreich ein Bestseller. Und in diesem Frühjahr wurde er bei uns zum ersten Mal ungekürzt im Original veröffentlicht und steht jetzt auch hier auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Weshalb wurde dieser Roman bei uns so lange kaum zur Kenntnis genommen? Weshalb mussten wir erst über den Umweg einer Übersetzung auf dieses großartige Buch eines deutschen Autors gestoßen werden, der damit Weltliteratur geschrieben hat? Der italienische Schriftsteller Primo Levi, ein Überlebender von Auschwitz, nannte es “das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand geschrieben wurde.”
Wenn wir an den Nationalsozialismus denken, dann erscheint uns heute diese Zeit sehr fern. Wir können sie mit unserem Leben in keinen Zusammenhang mehr bringen, als lägen viele Jahrhunderte zwischen diesen grauenvollen 12 Jahren und unserer glücklichen Gegenwart. Aber Hans Fallada macht diese Zeit für uns lebendig. Er lässt uns mit den einfachen Leuten mitfühlen.
Aber er zeigt uns auch sehr eindringlich, wie durch die nationalsozialistische Herrschaft das Schlechte in vielen Menschen die Oberhand gewann, wie aus einfachen Leuten Diebe und Mörder wurden, weil sie zum Beispiel meinten, im Sinne der Nazis zu handeln, wenn sie jüdische Mitmenschen beraubten, drangsalierten und demütigten.
Umso mehr bewundern wir die wenigen, die standhaft blieben, die ihre Menschlichkeit behielten, die mit dieser Handlung unweigerlich zu Widerstandskämpfern wurden und ihr Leben riskierten. Bei Hans Fallada ist es das Ehepaar Anna und Otto Quangel, das vom Tod seines Sohnes in Hitlers Krieg erfährt, daraufhin regimekritische Botschaften auf Karten schreibt und sie in der Stadt verteilt. Wenn wir heute an die Widerstandskämpfer erinnern, die vor 67 Jahren, am 20. Juli 1944, vergeblich versuchten, Hitler zu beseitigen, den Krieg zu beenden und das nationalsozialistische Regime zu stürzen, dann denken wir auch an die Widerstandskämpfer, die wie die Geschwister Scholl und Georg Elser in München schon einige Jahre früher erkannten, was in Deutschland geschah und Widerstand leisteten.
Die Erinnerung an das gescheiterte Attentat vor 67 Jahren ist eine Verpflichtung für alle Deutschen. Aber wir in Charlottenburg-Wilmersdorf haben viele besondere Gründe, an die mutigen Männer und Frauen zu erinnern, die gegen das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten aufgestanden sind.
Charlottenburg und Wilmersdorf waren die beiden Berliner Bezirke mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung.
Inzwischen gibt es in Charlottenburg-Wilmersdorf mehr als 1.200 Stolpersteine, die an verfolgte und ermordete Juden erinnern. Sie waren keine Fremde, sondern Deutsche: Nachbarn, Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und dieses Landes.
Aber nicht nur an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert vieles in Charlottenburg-Wilmersdorf, sondern auch an die Täter. An der Witzlebenstraße befand sich das Reichskriegsgericht, an dem zwischen 1939 und 1945 mehr als 1400 Todesurteile gefällt wurden – gegen Kriegsdienstverweigerer und Widerstandskämpfer. Bekannt wurden die Verfahren gegen die Widerstandsgruppe “Rote Kapelle”. Heute erinnern mehrere Gedenktafeln an die Geschichte des Hauses. Mehr als 230 Todesurteile wurden vollstreckt auf dem Militärgelände am Murellenberg unweit des Olympiastadions unter der Waldbühne. Dort erinnern seit 2002 Denkzeichen an die Ermordeten der NS-Militärjustiz.
Aber nicht nur an die Täter und Opfer des Nationalsozialismus erinnert vieles in Charlottenburg-Wilmersdorf, sondern auch an Widerstandskämpfer.
Im Rathaus Charlottenburg erinnern wir mit einer Fotogalerie an 18 Gegner und Widerstandskämpfer aus Charlottenburg, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Es sind Männer und Frauen aus dem politischen, gewerkschaftlichen, kirchlichen und militärischen Widerstand, darunter Erich Mühsam, Dietrich und Klaus Bonhoeffer, Bernhard Lichtenberg und Erich Klausener.
Generalmajor Hans Oster hat mit seiner Familie in der Bayerischen Straße 9 in Wilmersdorf gelebt, wo seit 1990 eine Gedenktafel an ihn erinnert. Er rechtfertigte seine Beteiligung an den Attentatsplänen mit den Sätzen:
“Man kann nun sagen, dass ich ein Landesverräter bin, aber das bin ich in Wirklichkeit nicht, ich halte mich für einen besseren Deutschen als alle die, die hinter Hitler herlaufen. Mein Plan und meine Pflicht war es, Deutschland und die Welt von dieser Pest zu befreien.”
Dieser Gedenkstein wurde 1953 vom Bund der Verfolgten des Naziregimes hier aufgestellt. Er wurde aus Muschelkalkquader-Steinen der zerstörten Synagoge in der Fasanenstraße hergestellt. Das Emblem über der Inschrift wurde dem Dreieckszeichen der KZ-Häftlinge nachgebildet und mit den Buchstaben K Z versehen.
Dieser Stein war das früheste West-Berliner Denkmal für NS-Opfer. Ein Jahr zuvor, 1952, war auf dem Gelände des ehemaligen NS-Zuchthauses Plötzensee, also ebenfalls in Charlottenburg, die Gedenkstätte Plötzensee errichtet worden.
Sie ist bis heute der wichtigste Ort, an dem der Opfer des Widerstandes gegen Hitler gedacht wird. Im Zuchthaus Plötzensee wurden mehr als 2.500 Männer, Frauen und Jugendliche durch Fallbeil oder Strick hingerichtet, darunter viele Widerstandskämpfer und Menschen, die am Umsturzversuch des 20. Juli 1944 beteiligt waren.
Die Widerstandskämpfer sind letztlich erfolglos geblieben. Millionen Menschen mussten vom Juli 1944 bis zum Mai 1945 noch sterben. Die meisten von ihnen hätten wohl überlebt, wenn das Attentat erfolgreich gewesen wäre. Aber die Tat der Widerstandskämpfer war nicht vergebens. Sie haben der Welt bewiesen, dass es auch ein anderes Deutschland gab, und sie sind Vorbilder geworden als mutige Menschen, die auch in einer verzweifelten Situation auf ihr Gewissen hörten und ihr Leben eingesetzt haben – so wie die kleinen Leute, denen Hans Fallada mit seinem Roman ein Denkmal gesetzt hat.
Der 20. Juli steht für uns heute nicht nur für den militärischen Widerstand und das Attentat auf Hitler, sondern er steht für den Widerstand insgesamt, der sehr vielfältig war, wie wir inzwischen wissen. Und er war keineswegs immer erfolglos.
Hans Rosenthal und Inge Deutschkron haben eindringlich darüber berichtet, wie ihnen als verfolgten jüdischen Deutschen von mutigen nichtjüdischen Deutschen geholfen wurde. Diese beiden Beispiele aus unserem Bezirk ließen sich durch viele andere ergänzen.
Wir dürfen die nationalsozialistischen Verbrechen nicht vergessen, aber wir müssen auch die Erinnerung an den Widerstand wach halten. Deshalb erinnern wir am 20. Juli an die Menschen, die im Widerstand gegen die NS-Diktatur ihr Leben verloren haben, und an diejenigen, die ihr Leben riskierten und gegen die Unmenschlichkeit des Regimes Menschlichkeit bewiesen.
Die Widerstandskämpfer des 20. Juli waren keine Landesverräter. Im Gegenteil: Wir verneigen uns heute vor den mutigen Menschen, die ihrem Gewissen gefolgt sind und vor aller Welt für das bessere Deutschland eingestanden sind.