Sehr geehrte Frau Dr. Suhr!
Sehr geehrter Herr Roeder!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wahrscheinlich denken bei dem Begriff “Kleiner Wedding” nur wenige an Charlottenburg. Unser Bezirk gilt als Hort des wohlhabenden Bürgertums. Dabei gerät manchmal aus dem Blick, dass Charlottenburg auch eine lange Tradition der Arbeiterbewegung hat. Die damals selbständige Großstadt Charlottenburg war nicht nur ein bedeutender Industriestandort, sondern auch Wohnort für viele Arbeiterinnen und Arbeiter.
Und der Charlottenburger Magistrat kümmerte sich mit einer für die Verhältnisse des Deutschen Kaiserreichs sehr fortschrittlichen Sozialpolitik um die Arbeiterbevölkerung in seiner Stadt. Insbesondere verstand man bereits damals das Engagement für Bildung und Kultur als Sozialpolitik.
1898 richtete Charlottenburg als erste Stadt im Deutschen Kaiserreich eine städtische Volksbibliothek ein und entschloss sich damit, “die Verpflichtung anzuerkennen, in ausreichendem Maßstabe für die Bildungsbedürfnisse aller Schichten der Bevölkerung zu sorgen.”
Ebenfalls 1898 wurde unweit von hier in der Krummen Straße eine Volksbadeanstalt eröffnet, damals weniger eine Freizeiteinrichtung als ein soziales Hygieneangebot. 1894 gründete Anna von Gierke mit einer Gruppe einflussreicher, wohlhabender Charlottenburger Männer und Frauen den “Verein Jugendheim”. Er entwickelte ein Netz von Horten und Tagesheimen in Charlottenburg, das vorbildlich wurde für die “Jugendheimbewegung” im ganzen Deutschen Kaiserreich. 1905 begann der Charlottenburger Magistrat, Arbeiterfortbildungskurse zu veranstalten und gründete als erste Stadt in Preußen eine Volkshochschule.
Auch das 1907 eröffnete Schillertheater und das 1912 fertig gestellte Deutsche Opernhaus verfolgten gemeinnützige Ziele: nicht Volksbelustigung, sondern die Teilhabe der unteren Schichten an der Kultur sollten hier ermöglicht werden. Nicht zufällig wurde die Oper hier zwischen der Bismarckstraße und der damaligen Wallstraße unmittelbar im Arbeiterkiez errichtet.
Die Stadt Charlottenburg setzte also neben dem vermögenden Bürgertum auch auf eine gebildete und kulturell interessierte Arbeiterbevölkerung. Dies hatte natürlich politische Konsequenzen, und vor allem hier, in dem Viertel nördlich der Oper rund um die damalige Wallstraße lebten in den 1920er Jahren Menschen, von denen viele sich politisch links engagierten und bereits während der Weimarer Republik aktiv gegen die Nationalsozialisten wehrten.
Ich freue mich sehr darüber, dass wir heute mit der Enthüllung einer Gedenktafel an diese Charlottenburger Tradition erinnern. Für politisch interessiere Zeitgenossen gibt es ja schon einige Hinweise auf diesen Teil unserer Geschichte. Die Gedenktafel für Richard Hüttig an der Seelingstraße 21, der Hüttigpfad und der Zauritzweg erinnern daran.
Aber mit dieser Tafel werden jetzt erstmals öffentlich gut sichtbar die Zusammenhänge erläutert, und vor allem: Diese Erinnerung an unsere Geschichte richtet sich hier am Haus der Jugend Charlottenburg vor allem auch an Jugendliche. Für sie ist es besonders wichtig, ihre Geschichte zu kennen und daraus zu lernen.
Ich danke insbesondere dem Initiator dieser Gedenktafel, dem ehemaligen Lehrer und Historiker Michael Röder für seinen unermüdlichen Einsatz. Ohne ihn wäre diese Gedenktafel sicher nicht entstanden. Aber er konnte auch viele Menschen für seine Idee begeistern und für die Mithilfe gewinnen. Ihnen allen danke ich herzlich. Und ich wünsche dieser Tafel viele interessierte Leserinnen und Leser, die hoffentlich dazu angeregt werden, sich intensiver um ihre Geschichte, um die Geschichte dieses Kiezes und unseres Bezirks zu kümmern.
Wir werden gleich morgen dazu beitragen, wenn wir mit dem Kiezspaziergang, an dem inzwischen meist mehr als 200 Personen teilnehmen, hierher kommen, um die neue Gedenktafel vorzustellen und die Geschichte der Gegner des Nationalsozialismus zu erzählen. Ich bedanke mich schon heute bei Michael Roeder, der seine Teilnahme für morgen zugesagt hat.