Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zur polnisch-deutschen Konferenz "Vom Stigma bis zur Ausrottung – wie die Welt der einfachen Antworten entsteht" am 28.10.2010 in Meseritz / Obrawalde

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

Zur polnisch-deutschen Konferenz "Vom Stigma bis zur Ausrottung – wie die Welt der einfachen Antworten entsteht"

Am 28.10.2010 in Meseritz / Obrawalde

Sehr geehrter Herr Tadeusz!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Vielen Dank für die Einladung zu dieser Konferenz. Die gemeinsame Erinnerung an die Ermordung von Geisteskranken durch die Nationalsozialisten in Deutschland und Polen ist nicht nur von historischem Interesse, sondern sie ist wichtig für uns heute. Wir müssen daraus für unsere Gegenwart und für die Zukunft lernen, denn wir dürfen nicht sagen, wir hätten es nicht gewusst.
Als wir 1993 die Partnerschaft zwischen Wilmersdorf und Meseritz begründet haben, war uns bewusst, dass zu dieser Partnerschaft auch die gemeinsame Geschichte des Krankenhauses Obrawalde gehört, und wir haben dies bei unseren gegenseitigen Besuchen immer wieder thematisiert. Diese Konferenz ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Aufarbeitung dieser Geschichte, und ich hoffe sehr, dass es gelingen wird, ein Museum zur dauerhaften Erinnerung an diese Geschichte einzurichten.
Wir beschäftigen uns in Charlottenburg-Wilmersdorf seit Jahren ausführlich mit der Geschichte des Nationalsozialismus. Inzwischen erinnern in unserem Bezirk eine Reihe von Gedenkstätten, viele Gedenktafeln und mehr als 1.000 Stolpersteine an die nationalsozialistischen Verbrechen. Dabei geht es vor allem um die Ausgrenzung, die Diskriminierung, Vertreibung und schließlich Ermordung der Juden. Charlottenburg und Wilmersdorf waren in den 1920er Jahren die beiden Berliner Bezirke mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung.
Aber es ist uns bewusst, dass die nationalsozialistischen Verbrechen sich nicht nur gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger richteten, sondern auch gegen andere Minderheiten, die nicht in das nationalsozialistische Menschenbild passten. Mit dem Begriff der “Volksgemeinschaft” propagierten die Nationalsozialisten einerseits die Zusammengehörigkeit und Gleichheit der sogenannten “deutschen Volksgenossen”.
Dieser Begriff der “Volksgemeinschaft” richtete sich aber vor allem auch in aggressiver Weise gegen alle, die als nicht zugehörig ausgegrenzt wurden, denen die Bürgerrechte aberkannt wurden und die schließlich ermordet wurden. Mit dem Begriff “Lebensunwertes Leben” schuf man sich eine scheinbare Legitimation zur Ermordung von Menschen.
In Charlottenburg-Wilmersdorf erinnern zwei Stolpersteine an Menschen, die hier in Meseritz-Obrawalde ermordet wurden: Der 1890 geborene Max Borchardt wohnte in der Goethestraße 16 und wurde am 21.4.1942 ermordet. Die 1894 geborene Henriette Fischbach wohnte in der Holtzendorffstraße 3 und wurde am 30.7.1942 ermordet.
Der nationalsozialistische Terrorstaat war ein Einbruch in die Zivilisation mitten im 20. Jahrhundert. Der Nationalsozialismus mit seinen Gräueltaten, mit seiner rassistischen Menschenverachtung und mit seinen millionenfachen Morden erscheint uns heute wie ein Regime aus grauer Vorzeit, aus dem Mittelalter vielleicht, jedenfalls aus einer Epoche weit vor unserer Zeit.
Aber wir wissen: Es ist noch nicht einmal ein Menschenleben her. Erst vor 65 Jahren konnte das nationalsozialistische Terrorregime besiegt werden und konnte unser Land von der Diktatur befreit werden.
Viele Aspekte der nationalsozialistischen Verbrechen wurden inzwischen gründlich erforscht. Es gibt unzählige Bücher dazu. Aber letztendlich können wir es nicht begreifen und werden es wohl auch nie begreifen: Wie konnte es geschehen? Wie konnten sich so viele Menschen an den grausamen Verbrechen beteiligen?
Umso mehr sind wir verpflichtet, alles zu tun, damit diese Verbrechen nicht vergessen werden, damit etwas Ähnliches nicht mehr geschehen kann. Und vor allem sind wir verpflichtet, die Grundwerte unserer Gesellschaft und unserer Zivilisation, die Grundsätze des Humanismus und der Menschlichkeit zu schützen.
Es gibt kein “lebensunwertes Leben”, und wir dürfen nicht zulassen, dass jemals wieder eine Legitimation für die Ermordung von Menschen geschaffen wird.
Deshalb ist diese Konferenz so wichtig, und ich freue mich sehr darüber, dass sie in deutsch-polnischer Zusammenarbeit organisiert wurde und veranstaltet wird.
Diese Konferenz wird sich damit beschäftigen, “wie die Welt der einfachen Antworten entsteht”. Dieser Begriff ist vielleicht ein Schlüssel für das Verständnis der fatalen Anziehungskraft, die in der Ideologie des Nationalsozialismus lag. Viele Menschen suchen nach einfachen Antworten auf ihre Probleme und ihre Ängste. Und oft bestehen diese einfachen Antworten darin, dass Minderheiten stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Ihnen wird die Schuld an der eigenen Misere gegeben.
Wir müssen deutlich machen, dass diese einfachen Antworten falsch sind, dass sie nichts erklären und dass sie oft fürchterliche Folgen haben. In diesem Sinne danke ich allen, die an dieser Konferenz mitwirken, und ich wünsche Ihnen viel Erfolg.