Sehr geehrte Damen und Herren!
Heute vor 65 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Die 12 Jahre davor von 1933 bis 1945 waren die dunkelste Zeit in unserer Geschichte. Der nationalsozialistische Terrorstaat war ein Einbruch in die Zivilisation mitten im 20. Jahrhundert. Der Nationalsozialismus mit seinen Gräueltaten, mit seiner rassistischen Menschenverachtung und mit seinen millionenfachen Morden erscheint uns heute wie ein Regime aus grauer Vorzeit, aus dem Mittelalter vielleicht, jedenfalls aus einer Epoche weit vor unserer Zeit.
Aber wir wissen: Es ist noch nicht einmal ein Menschenleben her. Erst vor 65 Jahren konnte das nationalsozialistische Terrorregime besiegt werden, konnten die Opfer aus den Konzentrationslagern und konnte unser Land von der Diktatur befreit werden.
Der millionenfache Mord an den Juden, der Versuch, alle in Europa lebenden Juden zu ermorden ist und bleibt das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Und wir müssen alles tun, damit dieses Verbrechen nicht vergessen wird, damit etwas Ähnliches nicht mehr geschehen kann.
Ich freue mich, dass sich immer mehr Menschen für das Schicksal der ermordeten jüdischen Bürgerinnen und Bürger interessieren. Oft entdecken sie in ihrer eigenen Nachbarschaft Spuren und gehen diesen Hinweisen nach.
Inzwischen gibt es allein in unserem Bezirk schon rund 700 Stolpersteine, die meistens aus solchen privaten Initiativen heraus entstanden sind. Dank dieses Engagements wird für alle sichtbar, dass die verfolgten und ermordeten Juden keine Fremde waren, sondern Deutsche: Nachbarn, Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und dieses Landes. Sie gehören zu uns.
Unser Jugendamt veranstaltet heute in Kooperation mit der Evangelischen Kirchengemeinde Eichenallee, der Wald-Oberschule und dem Verein „Erinnern und VerANTWORTung” eine Gedenkstunde auf dem Theodor-Heuss-Platz. Dort wird vor allem an die aus Eichkamp deportierten, ermordeten und überlebenden Jüdinnen und Juden erinnert, für die im vergangenen Jahr Stolpersteine verlegt wurden. Schülerinnen und Schüler der Oberschulen verlesen die Biographien dieser Menschen.
Am 9. November des vergangenen Jahres konnte dank einer privaten Initiative das Gedenkbuch Charlottenburger Juden vorgestellt werden. Es enthält eine vollständige Liste mit den Namen und Adressen der mehr als 6.000 aus Charlottenburg deportierten und ermordeten Juden. Daneben werden mit Zeitzeugenberichten, Briefen, Fotos, Biographien und Aktenauszügen auch Einzelschicksale dokumentiert und der bedeutende Beitrag vieler jüdischer Persönlichkeiten aus Charlottenburg zur deutschen Geschichte gewürdigt.
Allein unser Charlottenburger Beispiel macht auf beklemmende Weise deutlich, wie grausam und zerstörerisch der nationalsozialistische Rassenwahn war. In dem selben Buch macht ein Bericht über das gegenwärtige jüdische Leben in unserem Bezirk aber auch deutlich, dass die Nationalsozialisten ihr Ziel nicht erreicht haben, alle Juden zu vernichten.
Und so werde ich beispielsweise mit unserem nächsten Kiezspaziergang am 13. Februar auch das jüdische Bildungs- und Familienzentrum Chabad Lubawitsch an der Münsterschen Straße besichtigen können. Es ist ein großes Glück für uns, dass es solche Einrichtungen wieder bei uns gibt.
Vor 65 Jahren konnten wir mit der Unterstützung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges beginnen, die Demokratie aufzubauen, in der wir heute leben und die uns als so selbstverständlich erscheint, dass wir sie manchmal kaum noch zu würdigen wissen.
Es hat lange gedauert, diese Demokratie so zu entwickeln, dass die Menschenrechte für alle uneingeschränkt gelten. Viele nationalsozialistisch geprägte Vorurteile haben noch Jahrzehnte nachgewirkt.
Unsere Geschichte lehrt uns, dass Demokratie eben nichts Selbstverständliches ist, sondern dass sie auf aktive Demokraten angewiesen ist, die für sie eintreten und sie ständig weiter entwickeln.
Unser Grundgesetz garantiert allen Bürgerinnen und Bürgern die Menschenrechte und die Gleichheit vor dem Gesetz. Es lohnt sich, für diese Werte einzustehen und sie immer wieder neu im Alltag durchzusetzen, damit antidemokratische Haltungen in unserem Land nie mehr den Sieg davon tragen.
Der Bundespräsident hat 1996 den 27. Januar als nationalen Holocaust-Gedenktag in Deutschland ausgerufen. In Israel wird dieser Tag seit 1959 als nationaler Trauertag Jom haScho`a begangen. Um 10.00 Uhr haben im ganzen Land für 2 Minuten die Sirenen geheult und die Menschen schweigend verharrt. Auch wir gedenken heute der Millionen Opfer des Nationalsozialismus.