am 4.10.2006, 9.30 an der Gedenktafel für die Theodor-Herzl-Schule und Paula Fürst am Kaiserdamm 77-79
Sehr geehrte Damen und Herren!
Sehr geehrter Herr Ehlert!
Herzlich willkommen in Charlottenburg-Wilmersdorf. Ich freue mich sehr, dass Sie zur Eröffnung einer Ausstellung über Ihre Theodor-Herzl-Schule nach Berlin gekommen sind und heute auch diese Gedenktafel besuchen. Ich danke Herrn Ehlert sehr für sein Engagement für die Erinnerung an diese Schule und an die Schulleiterin Paula Fürst. Und ich danke ihm für die Organisation dieses erstaunlichen Klassentreffens.
Dieses Treffen ehemaliger Schülerinnen und Schüler nach 70 Jahren zeigt, wie viel diese Schule ihnen bedeutet hat und heute noch immer bedeutet. Es war eine ganz besondere Schule, die von Paula Fürst geprägt wurde. Ihr Schicksal und das Schicksal ihrer Schule führt uns eindringlich unsere Geschichte vor Augen: Viele von den Nationalsozialisten ausgegrenzte, verfolgte, vertriebene und ermordete deutsche Juden waren nicht nur Bürgerinnen und Bürger wie alle anderen auch, sondern sie hatten durch herausragende Leistungen einen großen Anteil daran, dass Deutschland weltweit Spitzenpositionen einnahm in der Wissenschaft, Kultur, Medizin und auch in der Pädagogik. Der mörderische Antisemitismus der Nationalsozialisten war nicht nur ein Menschheitsverbrechen, sondern er war auch ein Zerstörungswerk an der deutschen Kultur, das nicht wieder gut zu machen ist. Bis heute leiden wir alle an dem Verlust, und wir sind es nicht nur den Opfern schuldig, uns zu erinnern, sondern uns
selbst. Deshalb sind Bücher wie das von Martin-Heinz Ehlert über Paula Fürst so wichtig.
Wir haben vor einigen Jahren mit einer Ausstellung und einer kleinen Publikation an die jüdischen Schulgründerinnen in Wilmersdorf erinnert: Dr. Leonore Goldschmidt, Lotte Kaliski, Anna Pelteson, Toni Lessler und Vera Lachmann. Sie alle haben mit bewundernswerter Energie unter immer schwierigeren Bedingungen Staunenswertes geleistet. Sie haben ihren Schülerinnen und Schülern nicht nur die überlebensnotwendigen Kulturtechniken vermittelt, darunter die für die Emigration nötigen Sprachkenntnisse, sondern sie haben auch die Kultur der Aufklärung und des Humanismus weitergetragen, von der sich ihr Land längst verabschiedet hatte.
Wie Paula Fürst haben alle diese Pädagoginnen “Inseln der Geborgenheit” in einer immer feindlicher werdenden Umwelt geschaffen, das haben viele Überlebende Schülerinnen und Schüler übereinstimmend berichtet. Die jüdischen Schulen waren für die meisten zunächst nur ein notdürftiger Ersatz für die regulären deutschen Schulen, von denen sie vertrieben worden waren. Aber sie wurden schnell zum Rettungsanker. Sie vermittelten Schutz und Hoffnung – Hoffnung auf das eigene Überleben und Hoffnung auf das Überleben der Kultur und Menschlichkeit.
Auch Paula Fürst war eine leidenschaftliche Pädagogin, die in einem Wilmersdorfer humanistischen Gymnasium zur Schule gegangen war, im Victoria-Luise-Oberlyceum, dem heutigen Goethe-Gymnasium an der Gasteiner Straße. Hier wurden ihr nicht nur Wissen und Techniken vermittelt, sondern auch Ethik und Moral, von der sie so lange nicht glauben konnte, dass sie seit 1933 plötzlich außer Kraft gesetzt waren. Auch die Montessori-Pädagogik, die sie – ebenfalls in Wilmersdorf – erstmals praktizierte, wurde von den Nationalsozialisten abgeschafft und verboten.
Durch ihre herausragenden pädagogischen und organisatorischen Leistungen von 1933 bis 1942 hat Paula Fürst Schulgeschichte geschrieben – nicht nur jüdische Schulgeschichte, sondern auch deutsche Schulgeschichte. Die Geschichte der jüdischen Schulen im Nationalsozialismus ist Teil der deutschen Schulgeschichte.
Sie ist ein wesentlicher Teil der Tradition, in der unser Schulwesen heute steht. Hier geht es um Fragen, die auch für uns heute aktuell sind. Wie die Schule als lebendiger Ort auf das Leben vorbereiten kann, wie sie Heimat bieten und Perspektiven eröffnen kann, das können wir von Paula Fürst lernen, und das müssen wir auch heute dringend lernen.
Das persönliche Schicksal von Paula Fürst ist bewegend. Wir können nicht unbeteiligt bleiben, wenn wir erfahren, wie diese tapfere Frau gegen den übermächtigen Terror angekämpft hat, dem sie schließlich auf grausame Art zum Opfer gefallen ist. Wir sind empört, wir können es nicht verstehen und bleiben ratlos, wütend und ohnmächtig. Wie konnte so etwas in unserem Land geschehen? Wir können nur hoffen, dass die Erinnerung hilft, dass nie wieder etwas Ähnliches geschieht.
Ich bin sehr froh, dass heute wieder viele jüdische Bürgerinnen und Bürger in Berlin und gerade auch bei uns in Charlottenburg-Wilmersdorf leben. Es gibt wieder ein lebendiges kulturelles Leben bei uns. Das ist ein großes, unverhofftes Glück für uns alle. Und auch Besuche wie Ihrer zeigen, wie viel sich mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus geändert hat – gerade weil wir die Geschichte nicht verdrängen, sondern uns erinnern. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und hoffe, dass Sie sich wohl fühlen in Berlin.