am Dienstag, 3.5.2005, 19.00 Uhr im Festsaal des Rathauses Charlottenburg
Herzlich willkommen im Rathaus Charlottenburg. Wir wollen heute gemeinsam nachdenken und sprechen über den 60. Jahrestag des Kriegsendes. Wir wollen der Frage nachgehen, wie der 8. Mai 1945 zu verstehen ist: Ende oder Anfang? Zusammenbruch oder Befreiung? Gedenktag oder Feiertag? Ich hatte es zunächst nicht für notwendig gehalten, diese Fragen öffentlich zu diskutieren, weil ich der Meinung war, dass seit der großen Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vor 20 Jahren eine allgemeine Übereinstimmung herrscht darüber, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Ich hatte gedacht, dass höchstens noch einige Neonazis diesen Konsens in Frage stellen und dagegen protestieren.
Aber die Diskussionen in den letzten Wochen in Berlin haben gezeigt, dass es viele offene Fragen dazu gibt: trotz oder vielleicht auch gerade wegen der überwältigenden Präsenz des Themas in allen Medien. Deshalb denke ich, es ist notwenig, gerade auch auf der bezirklichen Ebene ganz konkret über unser Verständnis des 8. Mai zu sprechen.
Ich freue mich sehr, dass wir als Hauptrednerin des heutigen Abends die bekannte Schriftstellerin Inge Deutschkron gewinnen konnten. Ihr Schicksal ist vielfach mit Charlottenburg und Wilmersdorf verbunden. Hier hat sie gemeinsam mit ihrer Mutter die letzten Jahre des Nationalsozialismus mit Hilfe von mutigen Bürgerinnen und Bürgern im Untergrund überlebt. Die Tage um den 8. Mai 1945 hat sie in Berlin und Potsdam verbracht.
Wir haben uns zuletzt getroffen, als wir im letzten Jahr mit einer Gedenktafel an dem Haus Knesebeckstraße 17 an das Ehepaar Emma und Franz Gumz erinnert haben, die dort als stille Helden Menschen jüdischer Herkunft halfen und sie vor den Nazis versteckten, unter anderem Inge Deutschkron und ihre Mutter. Herzlich willkommen Frau Deutschkron und vielen Dank, dass Sie gekommen sind.
Außerdem begrüße ich auf dem Podium die Leiterin unseres Heimatmuseums, Birgit Jochens. Sie hat sich in vielen Ausstellungen und Publikationen mit dem Nationalsozialismus und mit der Nachkriegszeit in Charlottenburg auseinandergesetzt, und sie kennt viele Zeitzeugen und ihre ganz unterschiedlichen Erlebnisse aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Sie wird uns einführend einen Eindruck davon vermitteln, wie sich unsere Erinnerungskultur verändert hat, wir unser Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat.
Karl-Heinz Metzger, der Leiter unserer Pressestelle, hat sich in einer Reihe von lokalhistorischen Publikationen mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Wilmersdorf beschäftigt. Unter anderem hat er das Projekt zur Erforschung der “Kommunalverwaltung unterm Hakenkreuz” geleitet und 1992 gemeinsam mit Monika Schmidt, Martina Wiemers und Herbert Wehe das entsprechende Buch verfasst, in dem die Beteiligung der Wilmersdorfer Bezirksverwaltung an den nationalsozialistischen Verbrechen untersucht wird – vier Jahre bevor Daniel Goldhagen die kontroverse Diskussion über die willigen Vollstrecker ausgelöst hat.
Sie finden übrigens diese und andere Publikationen der Bezirksämter Charlottenburg und Wilmersdorf und des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf auf dem Büchertisch. Wir haben bewusst auch das kürzlich erschienene Jubiläumsbuch “300 Jahre Charlottenburg” dazu getan, das Herr Metzger und Frau Jochens gemeinsam erarbeitet haben , denn auch in diesem Buch sparen wir die Zeit des Nationalsozialismus nicht aus. Und wir erinnern ganz bewusst auch und gerade in diesem Jubiläumsjahr an den Nationalsozialismus und seine Folgen. Deshalb ist auch diese Veranstaltung Teil unseres Jubiläumsprogramms. Denn es geht um die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, damit wir für die Zukunft daraus lernen können.
Wir haben weitere Zeitzeugen eingeladen. Sie werden von ihren Erlebnissen berichten und uns helfen, die Fragen zu beantworten, die wir uns heute Abend gestellt haben. Vermutlich wird es darauf ankommen zu unterscheiden: Viele Menschen haben den 8. Mai 1945 als Befreiung erlebt. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten viele 60. Jahrestage der Befreiung erlebt. Von Auschwitz am 27. Januar bis nach Dachau am 29. April wurden die Konzentrationslager von der sowjetischen und der US-amerikanischen Armee befreit.
Vor einer Woche am 25. April wurde bei uns in Charlottenburg in der Gedenkstätte Plötzensee an die Befreiung des Strafgefängnisses durch die Rote Armee erinnert. In der dortigen Hinrichtungsstätte wurden 2891 Menschen ermordet, zuletzt die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 und des Kreisauer Kreises.
Für die Menschen in den Konzentrationslagern und Gefängnissen war klar, dass sie befreit wurden. Für viele andere war am 8. Mai 1945 der Eindruck des Zusammenbruchs vorherrschend.
Für manche begannen Hunger und Elend, Flucht und Vertreibung erst an diesem Tag des Kriegsendes. Für die osteuropäischen Staaten und für die Ostdeutschen war der Tag der Befreiung von den Nazis auch der Tag der Besetzung durch die Sowjets. Deshalb fordert die lettische Präsidentin Vike-Freiberga vom russischen Präsidenten Putin ein klärendes Wort zu den Verbrechen Stalins und weigert sich, an der Jubelfeier in Moskau zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai teilzunehmen.
Es gibt also keine einfachen Antworten, und wir dürfen und wollen die Schicksale der Menschen nicht vergessen, deren Leiden 1945 nicht endete. Aber ich beantworte für mich die Frage ganz eindeutig: Aus heutiger Sicht ist für uns Deutsche nach 60 Jahren Frieden der 8. Mai ein Tag der Befreiung. Er markiert das Ende eines unsäglich verbrecherischen Regimes in Deutschland und den Beginn einer neuen Chance.