Seit Dienstag ist alles anders. Der 11. September 2001 wird wohl in die Geschichte eingehen als der eigentliche Beginn des neuen Jahrhunderts. Der erbarmungslose terroristische Angriff auf die Vereinigten Staaten war ein Angriff auf uns alle, auf unsere Grundwerte der Freiheit, der Demokratie und des Pluralismus. Wir müssen uns darauf einstellen, dass ein langer Kampf der demokratischen Gesellschaften gegen Terror und Intoleranz bevorsteht. Wir erinnern uns an die langen Jahre des blutigen Kampfes gegen die Terroristen der RAF in unserem Land. Ich fürchte, dass jetzt eine ähnliche Auseinandersetzung weltweit bevorsteht. Wir müssen die Grundlagen unseres Lebens in Freiheit, Demokratie und Frieden schützen und verteidigen.
Die Katastrophe von New York und Washington hat uns aus unserer alltäglichen Routine und Betriebsamkeit herausgerissen. Viele Veranstaltungen wurden abgesagt. Plötzlich war vieles nicht mehr wichtig, was uns zuvor noch umgetrieben hat. Braucht es solche Katastrophen um uns innehalten zu lassen, um uns Zeit zu verschaffen zum Nachdenken, um uns Zeit füreinander zu geben?
Als ich zu diesem Gottesdienst eingeladen wurde, verbunden mit der Bitte, eine Predigt zu halten, da war meine erste Reaktion, als ich in den Terminkalender sah: Ich habe keine Zeit. Dann habe ich aber doch einen anderen Termin verschoben und mich entschieden, meine Zeit dafür zu verwenden, mit Ihnen die Messe zu feiern und zu Ihnen zu sprechen. Und ich habe darüber nachgedacht, was dieser Satz eigentlich bedeutet.
“Ich habe keine Zeit.” Der Satz ist eigentlich immer falsch. Zumindest ist er eine Gedankenlosigkeit, schnell dahingesagt und bequem. Denn wir haben Zeit – nicht ohne Ende, nein, aber jeder von uns hat seine Zeit, eine begrenzte Zeit, die uns geschenkt ist. Nach unserem christlichen Verständnis wurde uns diese Lebenszeit von Gott geschenkt, und sie ist wohl das Wertvollste, was wir besitzen.
Wir wissen nicht, wie viel uns noch bleibt. Wir wissen ungefähr, wie lange ein Leben üblicherweise dauert. Unsere Statistiker können es uns sogar genau sagen, und sie nennen es Lebenserwartung, und sie trennen es meistens nach Frauen und Männern. Aber ob unsere eigene Lebenszeit kürzer oder länger sein wird als der statistische Durchschnitt, das wissen wir nicht.
Erich Kästner hat diese Ungewissheit über die Zeit, die uns zugemessen wurde, auf eine einprägsame Formel gebracht: “Leben ist immer lebensgefährlich.” Wir wissen es, auch wenn wir es uns nicht immer klarmachen: Unsere Lebenszeit kann jederzeit enden. Aber der Satz “Ich habe keine Zeit”, dieser Satz ist immer falsch. Denn ich habe meine Zeit, und nur ich allein entscheide, was ich damit anfange.
Richtigerweise müsste ich also sagen: “Im Moment ist mir etwas anderes wichtiger, ich habe schon entschieden, was ich mit meiner Zeit anfangen will, und ich lasse mich jetzt nicht umstimmen. Für Dich habe ich jetzt keine Zeit übrig, ich habe beschlossen, sie einem anderen zu widmen.”
Das bedeutet es wohl meistens, wenn wir sagen: “Ich habe keine Zeit.” Es wäre ehrlicher, wenn wir es so sagen würden. Vielleicht wäre es verletzend für unseren Gesprächspartner, aber vielleicht würde es uns zum Nachdenken zwingen: Haben wir uns richtig entschieden? Haben wir uns wirklich für das entschieden, was im Moment wichtiger ist? Für wen ist es wichtiger?
Was würden unsere Kinder sagen, wenn wir ihnen auf ihr Verlangen nach Zuwendung nicht nur sagen würden “Ich habe keine Zeit.” sondern eine ehrliche Antwort gäben. “Ich habe mich für jemand anderen entschieden, Du musst jetzt leider warten.” Was würden unsere Ehepartner sagen, unsere pflegebedürftigen Eltern oder unsere Freunde. Sie alle speisen wir oft ab mit dem Satz “Ich habe keine Zeit.” Aber machen wir uns nichts vor. Sie wissen, was es bedeutet. Vor allem unsere Kinder wissen es. Sie wissen, dass dieser Satz bedeutet: “Du bist jetzt nicht das Wichtigste in meinem Leben.” Wissen wir es auch? Sind wir uns darüber im Klaren und wollen es nur nicht klar aussprechen?
Unsere Zeit ist begrenzt. Sie ist ein knappes Gut, und sie ist das Wertvollste was wir haben. Wir sollten also sorgfältig damit umgehen, sie klug und umsichtig nutzen. Wie nutzten wir unsere Zeit am besten? Ist ein voller Terminkalender, ein ausgefüllter Tag, an dem wir von Ort zur Ort hetzen, eine gut genutzte Zeit? Oder ein Tag, den wir im Bett verbringen, vielleicht, um von einer schweren Krankheit zu genesen?
Oder ein Tag, an dem wir mit unseren Kindern spielen, ein Tag auf der Autobahn, an dem wir 1000 Kilometer schaffen, ein Tag vor dem Fernseher oder ein Tag hinter einem Buch, im Kino oder in der Oper, ein Tag am Schreibtisch oder am Computer oder auf dem Fußballplatz? Oder ein Tag, an dem wir von allem etwas machen, Zeit für jeden und alles haben?
Vielleicht denken Sie jetzt: Der hat gut reden. Ich habe einen Beruf, muss meine Familie ernähren. Ich bin eingebunden in vielerlei Verpflichtungen, aus denen ich mich nicht einfach verabschieden kann. Natürlich entstehen daraus Pflichten und Zwänge. Ich kann nicht einfach frei über meine Zeit verfügen. Ich bin oft in Situationen, in denen meine Zeit verplant ist, ohne dass ich daran etwas ändern könnte. Dann habe ich eben mal keine Zeit für meine Angehörigen und Freunde, auch wenn es mir noch so leid tut.
Ich kann Ihnen versichern: Diese Situation ist mir mehr als vertraut. Als Bezirksbürgermeister bin ich den Bürgerinnen und Bürgern meines Bezirks schuldig, mich bei ihnen sehen zu lassen, ihre Probleme anzuhören und sie ernst zu nehmen. Und natürlich fordert auch die kommunale Verwaltung und die Kommunalpolitik vollen Einsatz. Der Arbeitstag hat oft 16 Stunden, und ein freies Wochenenden gibt es kaum einmal. Meine Frau ist praktisch alleinerziehende Mutter.
Aber bin ich daran nicht selber schuld? Niemand hat mich gezwungen, Bezirksbürgermeister zu werden. Und ich könnte meinen Beruf auch ein bisschen weniger ernst nehmen. Ich müsste auch nicht unbedingt so ehrgeizig sein und Wahlkampf machen, um wiedergewählt zu werden. Ich muss mich also durchaus fragen, ob ich immer die richtigen Prioritäten setze, ob ich wirklich sorgsam mit meiner Zeit umgehe, ob ich nicht meine Familie zu sehr vernachlässige. Wenn ich sage, “Ich habe keine Zeit”, dann beruht das letztlich auf Entscheidungen, die ich selbst getroffen habe. Ich kann das nicht anderen vorwerfen.
Vielen geht es ähnlich: Ärztinnen und Ärzte müssen für ihre Patienten Zeit haben, Unternehmerinnen und Unternehmer für ihre Firma, Kaufleute für ihre Kunden usw.
Aber insgesamt hat sich die Arbeitszeit in den letzten Jahrzehnten doch kontinuierlich verringert, und die Freizeit ist entsprechend gewachsen. Eine riesige Freizeitindustrie ist entstanden, die Unterhaltung, Abenteuer und Ablenkung für jeden anbietet. Für manchen ist die Freizeit inzwischen anstrengender und stressiger als die Arbeit. Ich denke, die Gefahr ist groß, dass wir unsere Zeit mit den Ablenkungen vergeuden, die uns heute von den Medien und von der Freizeitindustrie angeboten werden. Was also bedeutet es heute, sorgsam mit seiner Zeit umzugehen?
Die moderne Sozialforschung hat herausgefunden, dass in den letzten Jahrzehnten in den Industrieländern die sozialen Kontakte abgenommen haben. Gemeinschaftliche Bindung, das heißt die Bindungen der Großfamilie, des Vereins, der Parteien, Gewerkschaften oder Verbände sind nicht mehr so gefragt wie zuvor. Immer mehr Menschen gehen lieber alleine Kegeln als im Verein. Sozialwissenschaftler haben das beschrieben als eine Abnahme des sozialen Kapitals, eines Kapitals das unabdingbar für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft ist. Denn wer über ein hohes soziales Kapital verfügt, der trägt nicht nur zum Wohlergehen anderer bei, sondern verbessert auch sein eigenes Leben, ja sogar seine körperliche Gesundheit.
Diesen Zusammenhang von Nächstenliebe und Selbstliebe betont auch Jesus, wenn er aus dem alten Testament den Satz zitiert: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.” Ich glaube, dieser Satz lässt sich auch umkehren: Nur wer seinen Nächsten liebt, kann auch sich selbst lieben. Und: Nur wer sich selbst liebt, kann auch seinen Nächsten lieben.
Ich glaube also: Sorgsam mit seiner Zeit umgehen heißt Zeit zu haben für seinen Nächsten, Zeit zu haben für andere und damit gemeinsam mit dem anderen zu sich selbst zu finden. Ein amerikanischer Sozialforscher hat das auf die einfache Formel gebracht: “Schalten Sie heute Abend den Fernseher aus, und klingeln Sie stattdessen beim Nachbarn!” Hier trifft sich die moderne Sozialforschung mit der christlichen Ethik, und vielleicht hätte Jesus diesen Satz gesagt, wenn er heute bei uns leben würde: “Schalte heute Abend den Fernseher aus, und klingle stattdessen bei Deinem Nachbarn.”
Vielleicht denken manche von Ihnen: Da will sich mal wieder ein Politiker aus der Verantwortung stehlen. Anstatt für staatliche Programme gegen die Vereinzelung zu sorgen, appelliert er an uns, Aufgaben zu übernehmen, für die uns niemand bezahlt.
Dieser Einwand ist nicht ganz unberechtigt. Als Politiker in christlicher Verantwortung bin ich durchaus der Überzeugung, dass der Staat in unserer Gesellschaft soziale Verantwortung zu übernehmen hat. Der Staat muss heute Aufgaben übernehmen, die vor einigen Generationen noch die Großfamilie geleistet hat. Der Staat muss dafür sorgen, dass Frauen im Beruf ebenso Karriere machen können wie Männer, ohne dass darunter die Kinder leiden müssen. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Pflege alter Menschen gewährleistet ist. Der Staat muss für eine gute Ausbildung und Bildung unserer Kinder sorgen.
Der Staat muss also ein Stück weit die Nächstenliebe ersetzen, für die früher die Großfamilie zuständig war. Aber diese staatliche Kompensation der Nächstenliebe hat ihre Grenzen. Professionelle Sozialarbeiter, Pfleger oder Erzieher können menschliche Bindungen nicht ersetzen. Ich kann von einem Sozialarbeiter verlangen, dass er freundlich gegenüber seinen Klienten ist, aber ich kann nicht verlangen, dass er Sympathie, Zuneigung oder gar Liebe für sie empfindet.
Beim Besuch zum 100. Geburtstag einer alten Dame hatte ich ein Erlebnis, das mich seither nicht mehr loslässt. Keiner von den Verwandten der Dame war gekommen, und die Pflegerin teilte mit, dass diese sich seit Jahren auf gelegentliche, immer seltenere telefonische Kontakte beschränken. Nicht einmal zu diesem hohen persönlichen Festtag waren sie gekommen. Es war eine ziemlich peinliche Situation. Stattdessen kam ein junger türkischer Mann, der die Dame vor einiger Zeit als Pfleger kennen gelernt hatte. Er hatte sich an sie erinnert und sich die Zeit genommen, sie an ihrem Jubiläum zu besuchen. Es war ein erstaunliches Bild. Der junge, temperamentvolle, lebenslustige türkische Mann und die alte Dame. Offensichtlich verstanden die beiden sich gut, und offensichtlich war der junge Mann gekommen, weil er die Dame sympathisch fand und weil er sie nicht vergessen hatte.
In solchen Situationen drängt sich die Frage auf: In was für einer Kultur leben wir eigentlich. Hat unsere christliche Überzeugung noch die Kraft, uns soziale Verantwortung zu lehren, auch gegen den Trend der Zeit, gegen Egoismus, Konsumstreben und gedankenlose Zeitverschwendung?
Es gibt keinen Anlass schwarz zu malen. Ich sehe viele Tendenzen, die uns ermutigen können. Die Kirchentage haben großen Zulauf. Immer mehr junge Menschen zeigen soziale Verantwortung. Ehrenamtliche Tätigkeit ist nicht mehr nur auf Rentner beschränkt. Über Erziehung wird wieder verstärkt diskutiert, und man ist sich einig: Kinder brauchen vor allem Zuwendung, sie brauchen Erwachsene, die Zeit für sie haben. Wir reden über Ganztagsschulen, aber wir wissen auch: Schulen können die Familien nicht ersetzen. Ich erlebe tagtäglich begeisterte Kinder in Sportvereinen oder in den Ensembles unserer Musikschule. Die moderne Kommunikation per E-Mail, SMS oder Internet-Chat soll auch schon Menschen zueinander gebracht haben, die sich sonst nie gefunden hätten.
Wir sollten unsere Gegenwart also durchaus kritisch sehen, sie aber auch nicht verteufeln. Vielleicht geht die Zeit des rücksichtslos egoistischen Konsums zu Ende. Vielleicht empfinden es immer mehr Menschen als Zeitverschwendung, sich ablenken zu lassen, immer auf der Jagd nach dem neuesten Schrei zu sein, den letzten Kick zu suchen und dabei immer einsamer zu werden. Vielleicht entdecken wieder mehr Menschen, dass sie ihre Zeit sinnvoller verwenden können, dass ein erfülltes Leben nur ein Leben in sozialer Verantwortung sein kann, dass es wichtig ist, Zeit zu haben, die Zeit, die wir haben, sinnvoll zu nutzen.
Ich bin zuversichtlich und habe die Hoffnung, dass menschliche Werte auch in unserer modernen Zeit nicht verloren gehen. Als Christ ist es mir wichtig, diese Hoffnung zu leben und vorzuleben. Aber es ist nicht einfach. “Die Konkurrenz schläft nicht.” Für viele ist diese Erfahrung lebensbestimmend. Für viele erzeugen die Prinzipien der globalen Marktwirtschaft einen großen Druck, der sie zu großem beruflichem Einsatz treibt. Es ist nicht einfach, dabei noch Zeit für den Nächsten zu finden.
Immer wieder wird als Entschuldigung der Satz herhalten müssen: “Ich habe keine Zeit.” Kaum jemand wird auf diesen Satz verzichten wollen. Er ist zwar falsch, aber er ist eben auch bequem. Vielleicht ist es aber doch schon etwas wert, über diesen Satz einmal nachzudenken, sich klar zu machen, was wir mit ihm eigentlich sagen – und dann vielleicht beim nächsten Mal genauer zu überlegen, ob wir uns wirklich richtig entschieden haben, ob wir genügend sorgsam mit unserer Zeit umgegangen sind.
Für heute habe ich mich entschieden, meine Zeit dafür zu verwenden, mit Ihnen die Messe zu feiern und zu Ihnen zu sprechen. Ich habe diese Entscheidung nicht bereut. Auch Sie haben sich dafür entschieden, Ihre Zeit hier gemeinsam in der Kirche zu verbringen. Ich hoffe, dass auch Sie Ihre Entscheidung nicht bereuen. Denn wir können unsere Entscheidungen über unsere Zeit nicht mehr rückgängig machen. Die abgelaufene Zeit können wir nicht mehr zurückholen. Auch deshalb ist die Zeit das Wertvollste, was wir haben. Auch deshalb sollten wir sorgsam damit umgehen.
Die Katastrophe vom vergangenen Dienstag hat uns erschüttert. Noch können wir die Folgen nicht ermessen. Wie jedes Unglück birgt auch dieses eine Chance in sich, die Chance innezuhalten und neu nachzudenken.