Sehr geehrter Familie Behar!
Sehr geehrte Schülerinnen und Schüler!
Sehr geehrte Auszubildende der Landespolizeischule!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Was können wir aus der Geschichte lernen?
Wir sind soeben den Weg gegangen, den viele jüdische Berlinerinnen und Berliner gehen mussten, als sie zu diesem Bahnhof gebracht wurden. Es ist auch der Weg von dem Gedenkstein, der an die Ermordung des deutschen Außenministers Walther Rathenau im Jahr 1922 erinnert bis zu diesem Mahnmal, das an die Ermordung der Berliner Juden im Zweiten Weltkrieg erinnert. Hier, am Bahnhof Grunewald, wurden sie in die Züge verladen, die sie in die Vernichtungslager brachten.
Der 9. November 1938 liegt zwischen diesen beiden Stationen des deutschen Terrors. Er war ein Signal, das in aller Welt verstanden wurde. Wer bis sich bis dahin noch getäuscht hatte über den wahren Charakter des nationalsozialistischen Terrorregimes, der konnte es jetzt nicht mehr länger verdrängen. Die brennenden Synagogen und die Schaufenster-Scherben der jüdischen Geschäfte machten unübersehbar klar, dass die Menschenrechte in Deutschland nichts mehr galten, dass der antisemitische Terror keine Grenzen mehr kannte. Von nun an musste man mit allem rechnen.
Erich Kästner hat die Nacht des 9. November 1938 erlebt und beschrieben:
“In jener Nacht fuhr ich, im Taxi auf dem Heimweg, den Tauentzien und Kurfürstendamm entlang. Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute, in schwarzen Reithosen und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werke. Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen. Erst später, hörte ich am folgenden Tag, seien Barfrauen, Nachtkellner und Straßenmädchen aufgetaucht und hätten die Auslagen geplündert.”
Ein Charlottenburger Augenzeuge ergänzt Kästners Bericht:
“Andere Trupps zogen nach der Fasanenstraße, drangen in das Gotteshaus, in die Synagoge ein und setzten sie in Brand. Hoch loderten die Flammen, als, von empörten Passanten alarmiert, die Feuerwehr eintraf. Und dann geschah das Unfassbare, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt: Die Feuerwehr durfte nicht löschen, die Polizei durfte nicht den Mob verjagen! Hilflos standen die Löschmannschaften vor der brennenden Synagoge: Die SA-Männer hinderten sie am Auslegen der Schläuche, und die Polizei drehte dem schamlosen Schauspiel den Rücken.”
Die meisten schauten weg am 9. November. Es gibt nur wenige Gegenbeispiele. Um so wichtiger ist es, auch an sie zu erinnern: So verhinderte ein Polizist, dass die Synagoge in der Oranienburger Straße ausbrannte. Er sorgte dafür, dass der Brand, der bereits gelegt war, wieder gelöscht wurde. Sein Name ist Wilhelm Krützfeld. Er war Vorsteher des Reviers Nr. 16 am Hackeschen Markt und deshalb zuständig für die Synagoge in der Oranienburger Straße. Aber er war leider ein Einzelfall, und auch später, als die jüdischen Berlinerinnen und Berliner deportiert wurden, als sie in langen Kolonnen durch die Straßen geführt wurden, schauten die meisten weg.
Der 9. November ist ein zwiespältiger Tag der Erinnerung für uns Deutsche. 1989 war es der Tag, an dem die Mauer fiel, als die Deutschen in der damaligen DDR sich die Freiheit erkämpften, als das Tor zur Wiedervereinigung unserer Stadt und unseres Landes geöffnet wurde.
1938 war es der Tag, an dem in Deutschland die Synagogen angezündet wurden, als die Schaufenster der jüdischen Geschäfte eingeworfen wurden, als Tausende jüdischer Deutscher terrorisiert und viele ermordet wurden.
Auch in unserer Gegenwart gibt es antisemitische, rassistische und ausländerfeindliche Aktionen. Deshalb wird uns der 9. November zur Mahnung: Wir dürfen nicht dulden, dass die Menschenrechte in unserem Land mit Füßen getreten werden, dass Menschen wegen ihres Aussehens, ihrer Religion, wegen einer Behinderung oder wegen ihrer Armut um ihre Sicherheit fürchten müssen.
Wir wollen die Unterschiede nicht vergessen: Am 9. November 1938 wurde gegen die jüdische Minderheit in unserem Land ein staatlicher Terror entfesselt. Die Feuerwehr wurde von SA-Leuten daran gehindert, die brennenden Synagogen zu löschen, und die Polizei schaute zu.
Heute sind es rechtsextremistische und fundamentalistische Minderheiten, die unsere Freiheitsrechte missbrauchen und Angst und Schrecken verbreiten. Die Freiheitsrechte aber werden vom Staat garantiert. Es ist Aufgabe der Polizei, die Gewalttäter festzunehmen, und es ist Aufgabe der Justiz, die Schuldigen zu bestrafen.
Wichtig ist: Extremisten, Fundamentalisten und Terroristen sind in unserer Gesellschaft isoliert. Die letzten Wahlen haben dies erfreulicherweise gerade für den Rechtsextremismus wieder deutlich gezeigt.
Aber wir müssen wachsam sein. Denn auch die Nationalsozialisten haben klein angefangen. Schließlich haben sie die Macht in unserem Land übernommen, eine Diktatur errichtet und unser Land zerstört. Sie haben ja nicht nur einen Weltkrieg begonnen. Sie haben auch einen Bürgerkrieg gegen große Teile des eigenen Volkes geführt, gegen ihre politischen Gegner, gegen Kranke und Behinderte und gegen jüdische Deutsche. Es waren Deutsche, es waren Berlinerinnen und Berliner, die von diesem Bahnhof aus in die Vernichtungslager deportiert und dort ermordet wurden.
Ich danke Ihnen, den Schülerinnen und Schülern und den Auszubildenden der Landespolizeischule, dass sie diese Gedenkveranstaltung auch in diesem Jahr wieder organisiert haben und dass Sie daran teilnehmen. Ihr Engagement stimmt mich hoffnungsfroh: Heute gäbe es mehr Polizisten wie jenen Reviervorsteher Wilhelm Krützfeld in der Oranienburger Straße, der nicht wegsah. Ich freue mich besonders darüber, dass in diesem Jahr zum ersten Mal eine Schule aus unserem Bezirk die Organisation übernommen hat, das Sophie-Charlotte-Gymnasium. Vielen Dank dafür. Sie alle bekennen sich damit zu unserer Verantwortung, aus unserer Geschichte zu lernen.
Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Isaak Behar, der seit Jahren als Zeitzeuge an Berliner Schulen und an der Landespolizeischule auftritt und dort mithilft, die Erinnerung wachzuhalten. Ihm gelingt es immer wieder, Schülerinnen und Schüler so zu beeindrucken und zu überzeugen, dass sie bereit sind, sich einzusetzen für die Erinnerung und für das Gedenken.
Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, und ich bitte Sie, auch in Zukunft mitzuhelfen, dass die Erinnerung an den 9. November 1938 wach bleibt an diesem zwiespältigen Tag unserer deutschen Geschichte.
Denn wir können und müssen aus unserer Geschichte lernen: So etwas darf nie wieder geschehen!