Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen bei der Gedenkveranstaltung zum 9. November am Dienstag, dem 9.11.2004, 17.00 Uhr am Mahnmal am Bahnhof Grunewald

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

bei der Gedenkveranstaltung zum 9. November

am Dienstag, dem 9.11.2004, 17.00 Uhr am Mahnmal am Bahnhof Grunewald

Sehr geehrter Herr Behar!
Sehr geehrte Schülerinnen und Schüler!
Sehr geehrte Angehörige der Berliner Landespolizei, der Berliner Feuerwehr, der 5. Kompanie des Wachbataillons des Bundesministeriums für Verteidigung und der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf,
Sehr geehrte Soldaten unseres Paten-Wachbataillons!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Der 9. November ist kein schulfreier und kein arbeitsfreier Tag, obwohl er einer der bedeutendsten Tage in unserem historischen Kalender ist. Am Ende konnte niemand entscheiden, ob es ein Feiertag oder ein Gedenktag sein sollte. Und deshalb müssen wir uns wohl damit abfinden, dass es ein höchst widersprüchlicher Tag bleibt, dass an diesem Tag die Welt auf Deutschland schaut und dass an diesem Tag wir Deutschen uns erinnern an das Schlimmste und an das Schönste zugleich: an den Absturz in die Unmenschlichkeit und an den Gewinn der Freiheit und die Wiedervereinigung.

Dabei gibt oft der Zufall der runden Zahl den Ausschlag, welcher Teil der Erinnerung mehr im Blickpunkt der Aufmerksamkeit steht. In diesem Jahr ist es 15 Jahre nach dem 9. November 1989 die Freude über das Ende des Kalten Krieges, den Fall der Mauer in Berlin und die Wiedervereinigung Deutschlands.

Aber wir dürfen und wir wollen darüber die andere Seite des 9. November nicht vergessen. Wir dürfen den 9. November 1938 auch deshalb nicht vergessen, weil uns nicht mehr lange Menschen wie Isaac Behar dabei helfen werden, uns zu erinnern.

Ich danke Ihnen, Herr Behar, dass Sie als Zeitzeuge nach wie vor in unseren Schulen dafür sorgen, dass die Erinnerung weiter getragen wird.

Ich danke Ihnen, dass Sie immer wieder Jugendliche dafür begeistern, sich für diese Erinnerungsarbeit zu engagieren und diese Gedenkveranstaltung zu organisieren. Herzlichen Dank dafür.

Auch im nächsten Jahr werden wir einen runden Gedenktag haben, der bereits jetzt die Auseinandersetzung mit der Geschichte in unseren Medien beherrscht: 60 Jahre nach Kriegsende sollten wir uns am 8. Mai 2005 einig sein, dass dieser Tag im Jahr 1945 ein Tag der Befreiung war. Es war eine Niederlage für Nazi-Deutschland, es war der militärische Zusammenbruch einer längst sinnlos gewordenen Verteidigung, aber es war ein Tag der Befreiung für alle Deutschen, die sich nach Freiheit und Demokratie sehnten und die noch an die Menschenwürde glaubten.

Es war ein Tag der Befreiung zum Beispiel für das Ehepaar Gumz: Emma und Franz Gumz besaßen eine Wäscherei in Charlottenburg in der Knesebeckstraße 17, und sie hatten während der Nazizeit verfolgte Berliner Jüdinnen und Juden in ihrer Wäscherei versteckt und sie mit Nahrungsmitteln versorgt. Die Schriftstellerin Inge Deutschkron war eine von ihnen. In ihrem Buch “Ich trug den gelben Stern” hat sie davon erzählt, wie Emma und Franz Gumz ihr das Leben gerettet haben.

Was diese beiden einfachen Leute getan haben, war eigentlich selbstverständlich. Sie haben den Menschen geholfen, die sie kannten, die einmal Kunden in ihrer Wäscherei waren. Sie haben sie nicht verleugnet, nachdem sie alle bürgerlichen Rechte verloren hatten, den gelben Stern tragen mussten und vom Nazistaat wie Aussätzige behandelt wurden.

Die beiden wussten, dass sie ihr Leben riskierten. Deshalb war es nicht selbstverständlich, was sie getan haben, sondern es war außerordentlich mutig. Weil dieser Mut damals in Deutschland so selten war, ist es wichtig daran zu erinnern.

Wir haben vor einigen Tagen an dem Haus Knesebeckstraße 17 eine Gedenktafel für Emma und Franz Gumz enthüllt, die uns bewusst macht, dass man auch in der Diktatur nicht zwangsläufig zum Mitläufer und Mittäter werden musste.

Die Historiker nennen das, was diese mutigen Menschen geleistet haben, heute “Rettungswiderstand”, und sie haben Recht damit: Es war eine bewundernswerte Form von Widerstand, die für uns heute vorbildlich ist.

Auch wenn wir hoffentlich nie in die Lage kommen werden, in einem grausamen Unrechtsstaat Mut und Menschlichkeit beweisen zu müssen, so ist es doch auch heute manchmal notwenig, Mut zu beweisen.

Es verlangt manchmal Mut, nicht weg zu schauen, sondern aufzustehen, wenn Menschen angegriffen oder beschimpft werden. Unsere Geschichte verpflichtet uns, im Ernstfall mutig zu sein. Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass Menschen angegriffen werden, weil sie anders sind. Wir dürfen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht mehr dulden. Und nach den Wahlerfolgen der NPD und DVU in Brandenburg und Sachsen müssen wir unsere Demokratie auch in der politischen Auseinandersetzung wieder verteidigen: Neonazismus hat bei uns keinen Platz, denn wir wissen, was in unserem Land daraus wurde.

Das Mahnmal, vor dem wir hier stehen und die Gedenkstätte oben an den Gleisen erinnern uns daran: Vor 60 Jahren fuhren von hier aus die letzten Züge mit jüdischen Bürgerinnen und Bürgern Berlins in die Vernichtungslager, wo sie ermordet wurden. Die meisten Deutschen haben damals weggeschaut. Sie wollten es nicht wissen. Sie waren nicht so mutig wie die Familie Gumz.

Daran denken wir heute am Jahrestag des Pogroms, als in ganz Deutschland die Synagogen angezündet wurden, als die jüdischen Geschäfte zerstört wurden, als die jüdischen Bürgerinnen und Bürger angegriffen und gedemütigt, viele auch damals schon ermordet wurden. Dieser Tag, der 9. November 1938, war der Auftakt zum Holocaust, zur systematischen Ermordung von Millionen Menschen, nur weil sie Juden waren. Zuerst wurden sie beraubt, und ihr Eigentum wurde großzügig an die nichtjüdische Bevölkerung in Deutschland verteilt, die von dieser Art der Sozialpolitik profitierte. Dann wurden sie in Sammelstätten von der übrigen Bevölkerung isoliert, schließlich deportiert und ermordet.

Auch am 9. November haben die meisten Deutschen weggeschaut, haben nicht geholfen, haben nicht verhindert, dass ihre Nachbarn aus ihren Wohnungen gezerrt wurden, dass Schaufenster eingeschlagen und die jüdischen Geschäfte anschließend geplündert wurden. Für die Nationalsozialisten war der Terroreinsatz ihrer braunen SA-Trupps gegen die Juden am 9. November auch ein Test, wie weit sie gehen konnten, ohne Widerstand der Bevölkerung zu ernten. Bei anderen Gelegenheiten haben sie durchaus sensibel auf Widerstand reagiert, aber an diesem Tag gab es keinen Widerstand. Die Mehrheit blieb teilnahmslos.

Wenn uns heute in Filmen wie “Der Untergang” oder in Fernsehdokumentationen die Täter Hitler, Goebbels, Himmler, Göring und andere nahegebracht werden, dann dürfen wir darüber die Opfer nicht vergessen. Wenn wir bei der Erinnerung an das Kriegsende vor 60 Jahren an das Leid der deutschen Bevölkerung während der Bombenangriffe auf die Städte denken, dann dürfen wir dabei nicht vergessen, dass die deutsche Wehrmacht den Zweiten Weltkrieg begonnen hat und dass deutsche Kampfflugzeuge als erste Wohngebiete in anderen Ländern bombardierten. Das Leiden im eigenen Land war die Folge der Naziverbrechen.

Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die jüdischen Berlinerinnen und Berliner, die von hier aus in die Vernichtungslager gefahren wurden, Deutsche waren. Sie waren unsere Landsleute, und wir dürfen ihre Ausgrenzung durch die Nationalsozialisten nicht fortsetzen.

Wenn wir am Volkstrauertag der deutschen Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedenken, dann gehören dazu auch die ermordeten deutschen Juden.

Wir feiern im nächsten Jahr das Jubiläum “300 Jahre Charlottenburg”, und diese 300 Jahre Charlottenburger Geschichte sind ohne die jüdischen Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt nicht vorstellbar. In den 20er Jahren war Charlottenburg der Berliner Bezirk mit der größten Zahl jüdischer Einwohner. Darunter waren viele bedeutende Persönlichkeiten, die für die Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, den Sport und das Sozialwesen unendlich viel getan haben. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: Das Ägyptische Museum mit Nofretete gäbe es nicht ohne den bedeutenden Sponsor und Förderer James Henry Simon. Und auch heute haben wir eine der größten Attraktionen in unserem Bezirk einem jüdischen Berliner zu verdanken, der zurückgekehrt ist: Heinz Berggruen mit seinen wunderbaren Bildern.

Auch Isaac Behar hat damals mit seiner Familie in Charlottenburg gelebt. Vor dem Haus an der Kantstraße 154a erinnern seit dem letzten Jahr vier Stolpersteine an seine Eltern und seine Geschwister, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Trotz dieses Verbrechens an seiner Familie lebt Isaac Behar in unserer Stadt und trägt mit seinen Zeitzeugenberichten zur Erinnerung und zur Versöhnung bei.

Die Jüdische Gemeinde ist wieder ein aktiver, wichtiger Teil unserer Bürgergemeinschaft, und die jüdischen Kulturtage, die demnächst wieder beginnen, sind ein wichtiger, wunderbarer Teil des Berliner Kulturkalenders. Das ist ein großes Glück für uns alle, und ich bin den hier lebenden jüdischen Bürgerinnen und Bürgern dankbar für ihr gesellschaftliches Engagement.

Gerade wegen dieser erfreulichen Rückkehr des jüdischen Lebens in unsere Stadt, dürfen wir nicht vergessen, was geschehen ist. Wir sind es den Opfern und den heute bei uns lebenden Juden schuldig. Wir sind es aber auch uns selbst schuldig.

Die Geschichte ist nicht vergangen. Sie lebt in der Gegenwart weiter, und wir müssen die richtigen Schlüsse daraus ziehen, wenn wir unsere Zukunft gestalten wollen. Deshalb muss jede Generation sich wieder neu mit der Geschichte auseinandersetzen, muss sich ihr eigenes Geschichtsbild erarbeiten.

In der Nachkriegszeit wurden die 12 nationalsozialistischen Jahre in Deutschland lange verdrängt. Das Kriegsende wurde lange Zeit als Zusammenbruch bezeichnet und nicht als Befreiung empfunden. Lange Zeit wurde bestritten, dass Hitlers Diktatur von vielen Deutschen unterstützt wurde, dass es eine Diktatur der Mehrheit gegen Minderheiten war. Vor 25 Jahren hat uns die amerikanische Fernsehserie “Holocaust” aufgerüttelt. Seither haben wir viel zur Aufarbeitung dieser Zeit getan. Viele Bücher wurden geschrieben, Gedenktafeln angebracht, Ausstellungen gezeigt, Mahnmale errichtet. Das größte am Brandenburger Tor wird im nächsten Jahr eingeweiht. Wir müssen aufpassen, dass es kein Schlusspunkt der Erinnerung wird. Gerade jetzt müssen wir aufpassen, dass die nationalsozialistischen Verbrechen nicht verharmlost werden, wenn sie mehr und mehr in die Vergangenheit rücken.

Gedenkstätten wie diese hier am Bahnhof Grunewald und Gedenktage wie der heutige helfen uns dabei. Ich danke herzlich den Schülerinnen und Schülern des Gottfried-Keller-Gymnasiums, die gemeinsam mit den Auszubildenden der Landespolizeischule diese Gedenkveranstaltung organisiert haben.

Ihnen und allen anderen, die gekommen sind, danke ich dafür, dass Sie diese Erinnerung aktiv und engagiert pflegen. Sie helfen uns dabei, die Maßstäbe zu finden, die wir brauchen, um unsere Demokratie zu verteidigen.

Der Weg vom Rathenau-Gedenkstein zu dieser Gedenkstätte macht uns bewusst, dass die Demokratie nicht selbstverständlich ist. Adolf Hitler konnte die Weimarer Republik in eine schreckliche Diktatur verwandeln, weil zu wenige Demokraten ihre Demokratie verteidigt haben. Wir dürfen nie mehr zulassen, dass so etwas geschieht.

Mit dieser Gedenkveranstaltung demonstrieren vor allem Jugendliche, dass sie sich der Verantwortung stellen, die aus unserer Geschichte erwächst und dass sie aus dieser Geschichte gelernt haben. Dafür danke ich ihnen allen.

Zur Übersicht über die Reden der Bezirksbürgermeisterin